"La dificultad no debe ser un motivo para desistir sino un estímulo para continuar"

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Die pest - Albert Camus

Albert Camus Die Pest Roman Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt. (Daniel Defoe) 1 Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194 . in Oran abgespielt. Man war allgemein der Ansicht, sie gehörten ihres etwas ungewöhnlichen Charakters wegen nicht dorthin. Auf den ersten Blick ist Oran nämlich eine ganz gewöhnliche Stadt, nichts mehr und nichts weniger als eine französische Präfektur an der algerischen Küste. Zugegeben, die Stadt selber ist häßlich. Sie sieht so gesetzt aus, daß man einige Zeit braucht, bis man merkt, was sie von so vielen anderen Handelsstädten auf dem ganzen Erdball unterscheidet. Wie soll man auch eine Stadt anschaulich beschreiben, die keine Tauben, keine Bäume und keine Gärten besitzt, in der weder Flügelschlag noch Blätterrauschen zu hören ist? Ein farblos-nüchterner Ort! Einzig am Himmel ist der Wechsel der Jahreszeiten abzulesen. Den Frühling erkennt man nur an der veränderten Luft oder an den Körben voll Blumen, die kleine Verkäufer in der Umgebung holen; der Frühling wird hier auf dem Markt verkauft. Im Sommer versengt die Sonne die ausgetrockneten Häuser und bedeckt die Mauern mit grauer Asche; dann ist das Leben nur noch im Schatten der geschlossenen Fensterladen möglich. Im Herbst dagegen überschwemmt eine Flut von Schlamm die Stadt. Erst im Winter kommen die schönen Tage. Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben. In unserem Städtchen vermengt sich dies alles und geschieht mit der gleichen Maßlosigkeit, doch ohne innere Anteilnahme. Das mag eine Folge des Klimas sein und bedeutet, daß man sich langweilt und sich bemüht, Gewohnheiten anzunehmen. Unsere Mitbürger arbeiten viel, aber nur, um reich zu werden. Sie befassen sich hauptsächlich mit Handel und dem, was sie Geschäfte machen nennen. Natürlich gewinnen sie auch den einfachen Freuden wie Frauen, Kino und Meerbädern Geschmack ab. Aber sie sparen das Vergnügen sehr vernünftig für den Samstagabend und den Sonntag auf und versuchen, während der übrigen Woche viel Geld zu verdienen. Wenn sie am Abend aus ihrem Geschäft kommen, versammeln sie sich zu bestimmten Stunden im Café, spazieren auf demselben Boulevard oder setzen sich auf ihren Balkon. Die Wünsche und Begehren der Jüngeren sind heftig und kurz, während die Laster der Älteren sich auf die Zusammenkünfte der fanatischen Kugelspieler beschränken, auf die Vereinsbankette und die Spielclubs, in denen, dem Glück der Karten vertrauend, hohe Einsätze gewagt werden. Man wird zweifellos entgegnen, daß unsere Stadt darin keine Ausnahme bildet und daß eigentlich alle unsere Zeitgenossen so sind. Gewiß erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Café und mit Geschwätz vertun. Aber es gibt doch Länder und Städte, wo die Menschen von Zeit zu Zeit eine Ahnung von etwas anderem haben. Gewöhnlich ändert sich ihr Leben deswegen nicht. Nur hat sie die Ahnung wenigstens einmal gestreift, und damit ist schon etwas gewonnen. Oran dagegen ist offensichtlich eine Stadt ohne Ahnungen, das heißt eine ganz moderne Stadt. Daher ist es nicht nötig, die Art, wie man sich bei uns liebt, näher zu beschreiben. Entweder verzehren sich Männer und Frauen hastig im sogenannten Liebesakt oder sie geraten in die Gleichförmigkeit eines langen Lebens zu zweit. Zwischen diesen Extremen gibt es nur selten einen Mittelweg. Das ist ebenfalls nichts Besonderes. Wie anderswo ist man auch in Oran aus Zeitmangel und Gedankenlosigkeit gezwungen, sich zu lieben, ohne es zu wissen. Eigenartig ist schon, wie schwierig das Sterben in unserer Stadt sein kann. Schwierig ist übrigens nicht das rechte Wort, ungemütlich wäre treffender. Krank sein ist nie angenehm; aber es gibt Städte und Länder, die einem in der Krankheit beistehen, wo man sich gewissermaßen gehenlassen kann. Ein Kranker braucht Freundlichkeit, er möchte sich an irgend etwas halten können. In Oran jedoch verlangt alles Gesundheit; die Maßlosigkeit des Klimas, die Wichtigkeit der Geschäfte, die abgeschlossen werden, die Nichtigkeit der Umwelt, das rasche Hereinbrechen der Dämmerung und die Art der Vergnügungen. Ein Kranker ist hier sehr allein. Nun denke man gar an den Sterbenden. Er ist gefangen hinter Hunderten von Mauern, die vor Hitze bersten, während in derselben Minute eine ganze Bevölkerung am Telefon oder in den Cafés von Tratten, Frachtbriefen und Diskonto spricht. Dann wird man verstehen, wie ungemütlich der Tod, auch der moderne Tod sein kann, wenn er einen an solch gefühllosem Ort ereilt. Diese wenigen Angaben genügen vielleicht, um ein Bild unserer Stadt zu entwerfen. Freilich darf man auch nichts übertreiben. Hervorzuheben war das geistlose Gesicht der Stadt und des Lebens. Aber sobald man Gewohnheiten angenommen hat, verbringt man seine Tage mühelos. Da unsere Stadt die Gewohnheiten besonders unterstützt, ist nur zu sagen, daß alles zum besten bestellt ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist das Leben sicher nicht sehr fesselnd. Indessen ist bei uns wenigstens Unordnung unbekannt. Und unsere freimütige, ansprechende und arbeitsame Bevölkerung hat bei den Fremden immer die gebührende Achtung gefunden. Diese reiz-, pflanzen- und seelenlose Stadt wirkt mit der Zeit ausruhend, und zuletzt schläft man ein. Immerhin muß gesagt werden, daß sie sich in eine unvergleichliche Landschaft eingenistet hat: inmitten einer nackten Hochebene, umgeben von leuchtenden Hügeln, an einer Bucht von vollkommener Harmonie. Man kann nur bedauern, daß sie mit dem Rücken gegen diese Bucht gebaut wurde; man muß das Meer suchen, wenn man es sehen will. Jetzt wird man ohne weiteres zugeben, daß unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse vorbereitet waren, die sich im Frühling dieses Jahres abspielten. Später begriffen wir, daß es Vorboten der ernsten Begebenheiten waren, von denen wir hier berichten wollen; sie werden den einen ganz natürlich, den anderen hingegen unwahrscheinlich vorkommen. Aber schließlich kann sich ein Chronist nicht auf solche Widersprüche einlassen. Seine Aufgabe ist es einzig, zu sagen: «Das ist geschehen», wenn er weiß, daß es wirklich geschehen ist, daß es das Leben eines ganzen Volkes anging und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit des Gesagten ermessen können. Überdies hätte der Erzähler, den man noch früh genug kennenlernen wird, kaum das Recht auf ein solches Unterfangen, wenn ihm der Zufall nicht erlaubt hätte, zahlreiche Aussagen anzuhören, und wenn ihn nicht der Lauf der Dinge in alles verwickelt hätte, was er zu berichten trachtet. Das berechtigt ihn zu der Arbeit des Geschichtsschreibers. Ein Geschichtsschreiber, auch der bloße Liebhaber dieser Kunst, besitzt natürlich immer Dokumente. So hat denn auch der Erzähler dieser Geschichte die seinen: zunächst sein eigenes Zeugnis, dann dasjenige der anderen, da er dank seiner Stellung der Vertraute aller Beteiligten wurde, und schließlich die Schriftstücke, die ihm in die Hände fielen. Er hat die Absicht, sie zu verwenden, wann es ihn gut dünkt und wie es ihm gefällt. Außerdem hat er die Absicht. . . Aber vielleicht ist es Zeit, mit den Erläuterungen und den vorsichtigen Umschreibungen aufzuhören und die eigentliche Erzählung zu beginnen. Die Darstellung der ersten Tage verlangt Genauigkeit. Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte. Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die Treppe hinunter. Aber auf der Straße fiel ihm ein, die Ratte sei dort oben nicht recht am Platz, und er kehrte zurück, um den Hauswart zu benachrichtigen. An der Reaktion des alten Herrn Michel merkte er erst, wie ungewöhnlich seine Entdeckung war. Ihm war die Gegenwart dieser toten Ratte nur seltsam vorgekommen, während sie für den Hauswart einen Skandal bedeutete. Seine Haltung war übrigens eindeutig: es gab keine Ratten im Haus. Der Arzt konnte ihm lange versichern, es liege eine auf dem Flur des ersten Stocks, und wahrscheinlich eine tote, Herrn Michels Überzeugung blieb unerschüttert. Es gab keine Ratten im Haus, sie mußten hereingebracht worden sein. Es konnte sich nur um einen Bubenstreich handeln. Am selben Abend stand Bernard Rieux unten im Hauseingang und suchte seine Schlüssel, bevor er in seine Wohnung hinaufstieg. Da sah er aus dem Dunkel des Gangs eine dicke Ratte auftauchen, mit feuchtem Fell und unsicherem Gang. Das Tier blieb stehen, schien sein Gleichgewicht zu suchen, wendete sich gegen den Arzt, blieb wieder stehen, drehte sich mit einem leisen Schrei im Kreis und fiel schließlich zu Boden, wobei aus den halbgeöffneten Lefzen Blut quoll. Der Arzt betrachtete es einen Augenblick und ging hinauf. Er dachte nicht an die Ratte. Das ausgeworfene Blut erinnerte ihn an seine größte Sorge. Seine Frau, die seit einem Jahr krank war, sollte am nächsten Tag in einen Kurort in den Bergen verreisen. Er fand sie in ihrem Zimmer im Bett, wie er es ihr vorgeschrieben hatte. So bereitete sie sich auf die anstrengende Reise vor. Sie lächelte. «Ich fühle mich sehr wohl», sagte sie. Der Arzt schaute das Gesicht an, das im Schein der Nachttischlampe ihm zugewendet war. Trotz seiner dreißig Jahre und der Spuren der Krankheit war dieses Antlitz für Rieux noch immer das der Jugend, vielleicht dieses Lächelns wegen, das alles andere vergessen ließ. «Schlaf, wenn du kannst», sagte er. «Die Schwester kommt um elf Uhr, ich werde euch an den Mittagszug bringen.» Er küßte ihre etwas feuchte Stirn. Das Lächeln begleitete ihn bis zur Tür. Am nächsten Tag, dem 17. April, um acht Uhr morgens, hielt der Hauswart den Arzt beim Vorübergehen an und beklagte sich, Lausbuben hätten drei tote Ratten mitten in den Gang gelegt. Man habe die Tiere mit der Kehrschaufel aufnehmen müssen, denn sie seien voll Blut. Der Hauswart hatte eine Zeitlang unter der Tür gestanden, die Ratten in der Hand, und erwartet, die Schuldigen würden sich durch irgendeine bissige Bemerkung verraten. Aber nichts war geschehen. «Na, die werde ich schon erwischen», sagte Herr Michel. Beunruhigt beschloß Rieux, seine Runde in den Außenquartieren zu beginnen, wo seine ärmsten Patienten wohnten. Die Müllabfuhr fand dort erst spät statt, und sein Auto streifte auf den geraden, staubigen Straßen dieses Viertels die Abfalleimer, die am Rand des Trottoirs standen. In einer Straße, die der Arzt so durchfuhr, zählte er ein Dutzend Ratten, die auf die Gemüseabfälle und die schmutzigen Lumpen geworfen worden waren. Sein erster Patient lag im Bett, in einem Raum, der auf die Straße ging und als Schlaf- und Eßzimmer zugleich diente. Er war ein alter Spanier mit einem harten, zerfurchten Gesicht. Zwei Töpfe voll Erbsen standen vor ihm auf der Decke. Als der Arzt eintrat, saß der langjährige Asthmatiker halb aufgerichtet im Bett und warf sich eben nach hinten, um seinen rasselnden Atem wiederzufinden. Seine Frau brachte ein Becken. «Ha, Herr Doktor», sagte er während der Einspritzung, «sie kommen, haben Sie's gesehen?» «Ja», sagte die Frau, «der Nachbar hat drei aufgelesen.» Der Alte rieb sich die Hände. «Sie kommen, man sieht sie in allen Kehrichteimern; das macht der Hunger!» Rieux konnte nachher mühelos feststellen, daß das ganze Viertel von den Ratten sprach. Als er seine Besuche beendet hatte, kehrte er nach Hause zurück. «Es ist ein Telegramm für Sie oben», sagte Herr Michel. Der Arzt fragte ihn, ob er noch mehr Ratten gesehen habe. «O nein», sagte der Hauswart, «ich passe auf, verstehen Sie. So getrauen sich diese Schweine nicht.» Das Telegramm enthielt die Nachricht, daß Rieux' Mutter am folgenden Tag ankommen werde, um während der Abwesenheit der Kranken ihrem Sohn den Haushalt zu führen. Als Rieux eintrat, war die Krankenschwester schon da. Seine Frau stand im Reisekleid vor ihm; die Schminke verlieh ihrem Gesicht einen Anflug von Farbe. Er lächelte ihr zu: «Gut», sagte er, «sehr gut.» Kurz darauf brachte er sie zur Bahn und setzte sie in den Schlafwagen. Sie betrachtete das Abteil. «Es ist zu teuer für uns, nicht wahr?» «Es muß sein», sagte Rieux. «Was ist das für eine Geschichte mit den Ratten?» «Ich weiß nicht. Es ist sehr merkwürdig, aber es wird vorbeigehen.» Dann sagte er ihr schnell, daß er sie um Verzeihung bitte, er hätte auf sie aufpassen sollen und habe sie sehr vernachlässigt. Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber er fügte hinzu: «Wenn du zurückkommst, wird alles besser gehen. Wir werden neu anfangen.» «Ja», sagte sie mit glänzenden Augen, «neu anfangen.» Einen Augenblick später drehte sie ihm den Rücken zu und schaute zum Fenster hinaus. Auf dem Bahnsteig drängten und stießen sich die Leute. Man hörte das Zischen der Lokomotive. Er rief seine Frau bei ihrem Vornamen; als sie sich umwandte, sah er, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war. «Nicht doch», sagte er sanft. Durch die Tränen hindurch erschien wieder das Lächeln, allerdings war es noch ein wenig verkrampft. Sie atmete tief. «Geh nur, es wird alles gut werden.» Er preßte sie an sich. Vom Bahnsteig aus sah er dann nur noch ihr Lächeln hinter den Scheiben. «Ich bitte dich, paß auf dich auf», sagte er. Aber sie konnte ihn nicht hören. Beim Ausgang stieß Rieux auf Herrn Othon, den Untersuchungsrichter, der seinen kleinen Sohn an der Hand führte. Der Arzt fragte ihn, ob er verreise. Herr Othon, der mit seiner großen dunklen Gestalt halb einem Mann von Welt, wie man früher sagte, halb einem Leichenbeschauer glich, antwortete liebenswürdig, aber kurz: «Ich erwarte Frau Othon, die meinen Angehörigen ihre Aufwartung gemacht hat.» Die Lokomotive pfiff. «Die Ratten ...» sagte der Richter. Rieux machte eine Bewegung gegen den Zug, kehrte sich dann aber dem Ausgang zu. «Ja», sagte er, «das hat nichts zu bedeuten.» Das einzige, was ihm von diesem Augenblick haftenblieb, war das Vorbeigehen eines Arbeiters, der eine Kiste voll toter Ratten unter dem Arm trug. Am Nachmittag des gleichen Tages empfing Rieux zu Beginn seiner Sprechstunde einen jungen Mann, von dem es hieß, er sei Journalist und sei am Morgen schon einmal dagewesen. Er hieß Raymond Rambert, war klein, hatte breite Schultern, ein entschlossenes Gesicht, helle, gescheite Augen, trug Sportkleidung und schien sich im Leben wohl zu fühlen. Er ging geradewegs auf sein Ziel los. Im Auftrag einer großen Pariser Zeitung untersuchte er die Lebensbedingungen der Araber und verlangte Auskunft über ihren Gesundheitszustand. Rieux sagte ihm, der sei nicht gut. Aber bevor er sich näher ausließ, wollte er wissen, ob der Journalist die Wahrheit schreiben dürfe. «Natürlich», sagte dieser. «Ich meine, dürfen Sie selbst vernichtend urteilen?» «Nein, das freilich nicht. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.» Rieux erwiderte sanft, gewiß wäre eine solche Verurteilung unbegründet. Er habe mit dieser Frage nur erfahren wollen, ob Rambert rückhaltlos Bericht erstatten könne. «Für mich gibt es nur eine bedingungslose Stellungnahme. Ich kann also Ihre Erklärungen nicht mit Auskünften unterstützen.» «So spricht Saint-Just», sagte der Journalist lächelnd. Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der seine Mitmenschen jedoch liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. Rambert zog die Schultern hoch und blickte den Arzt an. «Ich glaube, ich verstehe Sie», sagte er endlich und erhob sich. Der Doktor begleitete ihn zur Tür. «Ich danke Ihnen, daß Sie die Sache so auffassen.» Rambert schien ungeduldig. «Ja», sagte er, «ich verstehe Sie, entschuldigen Sie die Störung.» Der Arzt gab ihm die Hand und bemerkte, er könnte einen eigenartigen Bericht schreiben über die Unzahl toter Ratten, die man gegenwärtig in der Stadt finde. «Ach!» rief Rambert. «Das interessiert mich.» Als Rieux um 17 Uhr ausging, um nochmals Krankenbesuche zu machen, traf er auf der Treppe einen noch jungen Mann von schwerfälliger Gestalt, mit einem wuchtigen, hageren Gesicht und buschigen Brauen. Er hatte ihn manchmal bei den spanischen Tänzern getroffen, die im obersten Stock seines Hauses wohnten. Herr Jean Tarrou rauchte bedächtig eine Zigarette und betrachtete die letzten Zuckungen einer Ratte, die zu seinen Füßen auf einer Treppenstufe verendete. Er erhob seine ruhigen und eindringlichen grauen Augen zu dem Arzt, grüßte und fügte hinzu, daß dieses Auftauchen der Ratten etwas Merkwürdiges sei. «Ja», sagte Rieux, «es wird schon langsam lästig.» «Nur in einer Hinsicht, Herr Doktor, nur in einer Hinsicht. Weil wir noch nie so etwas gesehen haben. Aber ich finde es interessant, wirklich, geradezu interessant.» Tarrou strich sich die Haare zurück, schaute wieder die jetzt unbewegliche Ratte an, und sagte lächelnd zu Rieux: «Aber schließlich geht es vor allem den Hauswart an, Herr Doktor.» Den Hauswart fand der Arzt neben der Haustür an die Mauer gelehnt. Sein sonst hochrotes Gesicht schien eingefallen. «Ja, ich weiß», sagte der alte Michel zu Rieux, als er ihm die neue Entdeckung mitteilte. «Jetzt findet man sie zu zweien und dreien. Aber in den anderen Häusern ist es genauso.» Er schien niedergeschlagen und sorgenvoll. Unwillkürlich rieb er sich den Hals. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Hauswart konnte nicht sagen, es gehe ausgesprochen schlecht. Nur fühlte er sich nicht wohl. Seiner Meinung nach kam es von seiner Gemütsverfassung. Diese Rattengeschichte hatte ihn stark mitgenommen, sobald die Tiere verschwunden seien, werde es wieder viel besser gehen. Aber als am nächsten Morgen, dem 18. April, der Doktor seine Mutter vom Bahnhof nach Hause brachte, sah Herr Michel noch abgezehrter aus: vom Keller bis zum Estrich lagen etwa zehn Ratten. Nur die Mutter des Arztes wunderte sich nicht über diese Nachricht. «Solche Dinge kommen eben vor!» Sie war eine kluge Frau mit silbernem Haar und schwarzen, sanften Augen. «Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen, Bernard», sagte sie. «Dagegen vermögen die Ratten nichts.» Er war der gleichen Meinung; mit ihr schien immer alles leicht. Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört, die in großer Zahl ins Freie kamen und starben? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wußte es nicht, aber er war dafür, daß der Entrattungsdienst einschreite. «Ja», sagte Mercier, «mit einem schriftlichen Befehl. Wenn du meinst, es sei der Mühe wert, kann ich versuchen, einen zu erlangen.» «Es ist schon der Mühe wert», sagte Rieux. Seine Scheuerfrau hatte ihm eben erzählt, daß in der großen Fabrik, wo ihr Mann arbeitete, ein paar hundert tote Ratten zusammengelesen worden waren. Jedenfalls begannen unsere Mitbürger ungefähr zu dieser Zeit unruhig zu werden. Denn vom 18. April an wimmelte es in den Fabriken und Lagerhäusern von Hunderten von Rattenleichen. Manchmal mußten die Tiere getötet werden, wenn ihr Todeskampf zu lange dauerte. Aber von den Außenquartieren bis ins Stadtinnere, überall, wohin Dr. Rieux kam, überall, wo unsere Mitbürger sich versammelten, stieß man auf die Ratten, die zu Haufen in den Abfalleimern oder in langen Reihen in den Straßengräben lagen. Nun bemächtigten sich auch die Abendzeitungen der Geschichte und fragten, ob die Behörden, ja oder nein, gewillt seien zu handeln und was für Sofortmaßnahmen ins Auge gefaßt worden seien, um die Bevölkerung vor dieser ekelhaften Invasion zu schützen. Die Stadtbehörde hatte gar nichts überlegt und nichts ins Auge gefaßt, berief jedoch eine Ratsversammlung ein. Dem Entrattungsdienst wurde der Befehl erteilt, die toten Ratten jeden Morgen bei Tagesanbruch einzusammeln. Dann sollten zwei Wagen dieser Dienststelle die Tiere in die Abfallverbrennungsanstalt fahren. Aber in den folgenden Tagen verschlimmerte sich die Lage. Die Zahl der eingesammelten Nagetiere nahm ständig zu, und die Ernte war jeden Morgen reicher. Vom vierten Tag an kamen die Ratten in Gruppen heraus und starben. Aus den Verschlagen, den Untergeschossen, den Kellern, den Kloaken stiegen sie in langen, wankenden Reihen hervor, taumelten im Licht, drehten sich um sich selber und verendeten in der Nähe der Menschen. Nachts hörte man in den Gängen und den engen Gassen deutlich ihren leisen Todesschrei. Am Morgen fand man sie in den Straßengräben der Vorstädte ausgestreckt, ein bißchen Blut auf der spitzen Schnauze, die einen aufgedunsen und faulig, die andern steif, mit gesträubten Schnauzhaaren. In der Stadt selber traf man sie in kleinen Haufen auf dem Flur oder in den Höfen. Manchmal starben sie auch einzeln in den Vorräumen der Verwaltungsgebäude, in den Schulhöfen, manchmal auf der Terrasse der Cafés. Unsere entsetzten Mitbürger entdeckten sie an den belebtesten Orten der Stadt. Der Waffenplatz, die Boulevards, die Aussichtsstraße dem Meer entlang waren ab und zu verunziert. Bei Morgengrauen wurde die Stadt von den toten Tieren gesäubert, im Laufe des Tages kamen sie langsam wieder, zahlreicher und zahlreicher. Manch ein nächtlicher Spaziergänger spürte unter seinem Fuß plötzlich die weiche Masse einer eben verendeten Ratte. Es war, als wolle die Erde, auf der unsere Häuser standen, sich selber von der Last ihrer Säfte befreien, so daß die Eiterbeulen, die sie bisher innerlich geplagt hatten, nun aufbrachen. Man stelle sich das Entsetzen in unserer kleinen Stadt vor, die bis jetzt so ruhig gelebt hatte und nun in wenigen Tagen völlig aufgewühlt wurde, einem gesunden Menschen gleich, dessen dickes Blut plötzlich in Aufruhr gerät! Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc (Informationen, Nachweise, Auskünfte auf allen Gebieten) in ihrer Rundfunksendung «Unentgeltliche Nachrichten» bekanntgab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schauspiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. Bis jetzt hatte man sich über einen etwas widerwärtigen Zwischenfall beklagt. Nun merkte man, daß das Geschehen, dessen ganze Tragweite noch nicht abzusehen war und dessen Ursprung unerklärlich blieb, etwas Bedrohliches hatte. Nur der alte, asthmatische Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit kindlicher Freude: «Sie kommen, sie kommen!» Am 28. April indessen gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt, und in der Stadt erreichte die Beklemmung ihren Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dorthin zurückzuziehen. Aber am nächsten Tag verkündete die Agentur, die Erscheinung habe unvermutet aufgehört, und der Entrattungsdienst habe nur noch eine ganz unbedeutende Anzahl toter Ratten eingesammelt. Am gleichen Mittag jedoch, als Dr. Rieux vor seinem Haus vorfuhr, bemerkte er den Hauswart, der an der Straßenecke mühsam vorwärtstaumelte, den Kopf gesenkt hielt und wie eine Marionette Arme und Beine spreizte. Der alte Mann stützte sich auf einen Priester, den der Arzt kannte. Es war Pater Paneloux, ein gelehrter, militanter Jesuit, den er ein paarmal getroffen hatte, und der in unserer Stadt sogar von den religiös Gleichgültigen sehr geschätzt wurde. Rieux wartete auf die beiden. Der alte Michel hatte glänzende Augen und einen pfeifenden Atem. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und einen Augenblick an die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen im Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten hatten ihn gezwungen, umzukehren und die Hilfe von Pater Paneloux zu beanspruchen. «Es sind Geschwülste», sagte er. «Ich werde mich wohl überanstrengt haben.» Der Arzt streckte den Arm aus dem Wagen und betastete Michels Hals; dort hatte sich ein holziger Knoten gebildet. «Gehen Sie zu Bett, messen Sie die Temperatur, ich komme heute nachmittag vorbei.» Als der Hauswart gegangen war, fragte Rieux den Pater, was er von dieser Rattengeschichte halte. «Oh», sagte der Pater, «es wird eine Epidemie sein», und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern. Nach dem Mittagessen, als Rieux nochmals das Telegramm des Sanatoriums las, das die Ankunft seiner Frau bestätigte, klingelte das Telefon. Es war ein alter Patient, ein Angestellter im Rathaus, der ihn anrief. Er hatte lange unter einer Aortenstenose gelitten, und da er arm war, hatte Rieux ihn unentgeltlich behandelt. «Ja», sagte er, «Sie erinnern sich an mich. Aber es handelt sich um etwas anderes. Kommen Sie schnell, meinem Nachbarn ist etwas zugestoßen.» Er war ganz außer Atem. Rieux dachte an den Hauswart und beschloß, später nach ihm zu sehen. Ein paar Minuten darauf war er in einem Außenquartier und betrat ein niedriges Haus in der Rue Faidherbe. Im kühlen, übelriechenden Treppenhaus kam ihm der Angestellte Joseph Grand entgegen. Er war in den Fünfzig, groß und gebeugt, und trug einen gelben Schnurrbart. Er hatte schmale Schultern und eine hagere Gestalt. «Es geht besser», sagte er, als er vor Rieux stand, «aber ich glaubte, er komme nicht davon.» Er schneuzte sich. Im zweiten und obersten Stock las Rieux auf der linken Tür die mit roter Kreide geschriebene Inschrift: Sie traten ein. Das Seil war über einem umgeworfenen Stuhl befestigt, der Tisch in eine Ecke gestoßen. Aber der Strick baumelte ins Leere. «Ich habe ihn noch rechtzeitig abgehängt», sagte Grand, der immer nach Worten zu ringen schien, obwohl er eine sehr einfache Sprache gebrauchte. «Ich wollte eben ausgehen, da habe ich Lärm gehört. Als ich die Aufschrift sah, glaubte ich natürlich, es sei ein schlechter Witz. Aber er hat so merkwürdig gestöhnt, geradezu unheimlich.» Er kratzte sich am Kopf: «Meiner Meinung nach muß der Vorgang schmerzhaft sein. Ich bin natürlich hineingegangen.» Sie hatten eine Tür aufgestoßen und befanden sich nun in einem hellen, ärmlich möblierten Zimmer. Ein kleiner, rundlicher Mann lag in einem Eisenbett. Er atmete schwer und schaute sie aus blutunterlaufenen Augen an. Der Doktor blieb stehen. Es war ihm, als höre er zwischen den Atemzügen das leise Pfeifen von Ratten. Aber nichts bewegte sich in den Ecken. Rieux trat ans Bett. Der Mann war nicht zu tief gefallen und nicht zu heftig, so daß kein Wirbel gebrochen war. Erstickungsanzeichen waren allerdings vorhanden. Man würde ihn röntgen müssen. Der Arzt gab ihm eine Spritze mit Kampferöl und sagte, in ein paar Tagen werde alles wieder in Ordnung sein. «Danke, Herr Doktor», sagte der Mann mit erloschener Stimme. Rieux fragte Grand, ob er die Polizei benachrichtigt habe; betreten erwiderte der Angestellte: «Nein, o nein! Ich dachte, es sei am wichtigsten ...» «Selbstverständlich», unterbrach ihn Rieux. «Ich werde es also besorgen.» Aber in diesem Augenblick wurde der Kranke unruhig, richtete sich im Bett auf und beteuerte, es gehe ihm gut, es sei nicht der Mühe wert. «Beruhigen Sie sich», sagte Rieux. «Es hat keine Bedeutung, glauben Sie mir; nur bin ich verpflichtet, meine Anzeige zu machen.» «Ach!» stammelte der Mann. Er warf sich in die Kissen und schluchzte. Grand, der seit einiger Zeit an seinem Schnurrbart herumgedreht hatte, trat zu ihm. «Aber, aber, Herr Cottard», sagte er. «Sie müssen das begreifen. Der Herr Doktor ist sozusagen verantwortlich. Wenn Sie zum Beispiel Lust bekämen, nochmals anzufangen ...» Cottard jedoch erklärte unter Tränen, er fange nicht wieder an, es sei ein Augenblick der Verzweiflung gewesen, und er wolle nur in Frieden gelassen werden. Rieux schrieb ein Rezept. «Gut», sagte er, «lassen wir's sein. Ich komme in zwei, drei Tagen wieder. Aber machen Sie keine Dummheiten.» Im Flur sagte er zu Grand, er müsse die Anzeige erstatten, werde aber den Polizeibeamten bitten, seine Untersuchung erst zwei Tage später vorzunehmen. «Heute nacht muß man ihn überwachen. Hat er Verwandte?» «Nicht daß ich wüßte. Doch kann ich selber bei ihm bleiben.» Er nickte. «Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich ihn kenne; aber man muß sich gegenseitig helfen.» In den Gängen schaute Rieux unwillkürlich in alle Winkel und fragte Grand, ob die Ratten gänzlich aus seinem Viertel verschwunden seien. Der Angestellte wußte es nicht. Er habe von dieser Geschichte gehört, aber er gebe nicht viel auf die Gerüchte in dieser Gegend. «Ich habe andere Sorgen», sagte er. Rieux gab ihm schon die Hand. Er wollte noch schnell den Hauswart besuchen und dann seiner Frau schreiben. Die Verkäufer der Abendzeitungen schrien aus, die Ratteninvasion sei abgestoppt. Aber als Rieux zu seinem Kranken kam, lehnte sich dieser gerade aus dem Bett, die Hand auf den Leib gepreßt, die andere am Hals, und erbrach unter Krämpfen helle, rötliche Galle in einen Abfalleimer. Außer Atem nach der großen Anstrengung legte er sich endlich ins Bett zurück. Das Thermometer zeigte 39,5 Grad; die Halsdrüse und die Glieder waren geschwollen. An seiner Hüfte breiteten sich zwei schwärzliche Flecken aus. Er klagte über innere Schmerzen. «Es brennt», sagte er, «der Schweinehund brennt.» Wegen seiner schwarzen, geschwollenen Zunge konnte er nur lallen. Seine hervorquellenden, vor Kopfschmerzen tränenden Augen waren auf den Arzt geheftet. Seine Frau blickte Rieux voll Angst an, aber der Arzt blieb stumm. «Herr Doktor», fragte sie, «was hat er?» «Es kann alles mögliche sein. Ich kann noch nichts Bestimmtes sagen. Bis heute abend Diät und Abführen. Er soll viel trinken.» Das war es eben: der Hauswart kam fast um vor Durst. Zu Hause rief Rieux seinen Kollegen Richard an, einen der bekanntesten Ärzte der Stadt. «Nein», sagte dieser, «ich habe nichts Besonderes gesehen.» «Kein Fieber mit lokalen Entzündungen?» «Ach doch, zwei Fälle mit stark entzündeten Lymphdrüsen.» «Abnorm entzündet?» «Na», meinte Richard, «was heißt schon normal ...» Jedenfalls delirierte der Hauswart am Abend und klagte bei 40 Grad Fieber über die Ratten. Rieux versuchte einen Fixationsabszeß. Als das Terpentin ihn brannte, brüllte der Hauswart: «Oh, die Schweinehunde !» Die Lymphknoten waren noch dicker, hart und holzig anzufühlen. Die Frau des Hauswarts war verzweifelt. «Wachen Sie bei ihm», sagte der Arzt zu ihr, «und rufen Sie mich, wenn es nötig ist.» Am nächsten Tag, dem 30. April, wehte ein leichter, lauer Wind vom feuchtblauen Himmel. Er brachte Blumenduft aus den fernsten Gärten der Umgebung mit sich. Die morgendlichen Geräusche auf der Straße schienen lebhafter, fröhlicher als sonst. Unser ganzes Städtchen, erlöst von der dumpfen Furcht der vergangenen Woche, feierte diesen Tag wie einen Neubeginn. Auch Rieux, der einen beruhigenden Brief von seiner Frau erhalten hatte, stieg leichten Herzens zum Hauswart hinunter. Tatsächlich war das Fieber gegen Morgen auf 38 Grad gefallen. Der geschwächte Kranke lächelte in seinem Bett. «Es geht besser, nicht wahr, Herr Doktor?» fragte seine Frau. «Warten wir ab.» Am Mittag schnellte das Fieber plötzlich wieder auf 40 Grad, der Patient delirierte unablässig und mußte sich von neuem erbrechen. Die Halsdrüsen schmerzten bei der Berührung, und der Hauswart schien seinen Kopf möglichst weit vom Körper entfernt halten zu wollen. Seine Frau saß am Fußende des Bettes, ihre Hände lagen auf der Decke und hielten sanft die Füße des Kranken. Sie blickte Rieux an. Dieser sagte: «Wir müssen ihn absondern und eine Spezialbehandlung versuchen. Ich telefoniere ins Spital, wir werden ihn im Krankenwagen hinbringen.» Zwei Stunden später beugten sich in der Ambulanz der Arzt und die Frau über den Kranken. Aus seinem von schwammigen Wucherungen verschwollenen Mund drangen Wortfetzen. «Die Ratten!» sagte er. Mit grünverfärbtem Gesicht, wachsbleichen Lippen, bleiernen Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den Lymphknoten gemartert, lag er tief in seiner Matratze, als wollte er sich darin einschließen oder als riefe ihn ohne Unterlaß eine Stimme aus der Tiefe der Erde: so erstickte der Hauswart unter einem unsichtbaren Gewicht. Die Frau weinte. «Ist keine Hoffnung mehr, Herr Doktor? » «Er ist tot», sagte Rieux. Man kann sagen, daß der Tod des Hauswarts das Ende jener ersten, von verwirrenden Zeichen erfüllten Zeit bedeutete und den Beginn einer neuen, verhältnismäßig schwierigeren, während der die anfängliche Überraschung allmählich in Panik überging. Unsere Mitbürger merkten nun, daß sie nie auf den Gedanken gekommen wären, daß die Ratten unsere kleine Stadt besonders geeignet finden könnten, um hier an der Sonne zu sterben, und daß die Hauswarte ausgerechnet bei uns an seltsamen Krankheiten zugrunde gehen sollten. Mit dieser Ansicht befanden sie sich eigentlich im Irrtum und mußten ihre Vorstellungen deshalb berichtigen. Wenn damit alles sein Bewenden gehabt hätte, so wäre die Macht der Gewohnheit sicher stärker gewesen. Doch mußten andere Mitbürger, die nicht alle arm oder Hauswart waren, Herrn Michel auf dem Weg folgen, den er als erster gegangen war. In diesem Augenblick begann die Angst und mit ihr das Nachdenken. Ehe der Erzähler jedoch diese Ereignisse im einzelnen schildert, hält er es für notwendig, die Ansichten mitzuteilen, die ein anderer Zeuge über den beschriebenen Zeitabschnitt äußert. Jean Tarrou, dem wir schon zu Beginn dieses Berichts begegnet sind, hatte sich seit einigen Wochen in Oran niedergelassen und wohnte in einem großen Hotel der Innenstadt. Er schien offenbar wohlhabend genug, um von seinen Einkünften leben zu können. Aber obwohl die Stadt sich allmählich an ihn gewöhnt hatte, konnte niemand sagen, woher er kam oder weshalb er hier war. Er war auf allen öffentlichen Plätzen zu treffen. Seit dem Frühlingsanfang wurde er viel am Strand gesehen, wo er häufig und mit sichtlichem Vergnügen schwamm. Gutmütig und immer lächelnd, schien er alle natürlichen Freuden zu schätzen, ohne ihnen hörig zu sein. Die einzige wirkliche Gewohnheit, von der man wußte, war sein reger Verkehr mit den in unserer Stadt ziemlich zahlreichen spanischen Tänzern und Musikanten. Seine Aufzeichnungen bilden jedenfalls auch eine Art Chronik dieser schweren Zeit. Doch ist es eine ganz besondere Chronik, die sich scheinbar absichtlich an das Unbedeutende hält. Auf den ersten Blick könnte man glauben, Tarrou sei darauf bedacht gewesen, die Menschen und Dinge durch eine Art Verkleinerungsglas zu betrachten. Kurz, er bemühte sich, in der allgemeinen Verwirrung die Geschichte dessen zu schreiben, was keine Geschichte hat. Diese vorgefaßte Absicht kann man gewiß bedauern und darin Herzlosigkeit vermuten. Das hindert aber nicht, daß diese Tagebuchblätter zu einer Chronik jener Zeit eine große Zahl nebensächlicher Einzelheiten beitragen können, die immerhin ihre Bedeutung haben und deren Absonderlichkeit einen davor bewahren wird, voreilig über diese interessante Gestalt zu urteilen. Jean Tarrous erste Aufzeichnungen gehen auf seine Ankunft in Oran zurück. Von Anfang an zeigt sich darin eine seltsame Befriedigung über den Aufenthalt in einer an sich so häßlichen Stadt. Sie enthalten die ausführliche Beschreibung der beiden Bronzelöwen, die das Rathaus zieren, wohlwollende Betrachtungen über das Fehlen von Bäumen, die unschönen Häuser und die widersinnige Anlage der Stadt. Tarrou streut noch ein paar Gespräche ein, die er in der Straßenbahn oder auf der Straße auffing, jedoch ohne eigene Bemerkungen hinzuzufügen, außer etwas später bei einem Gespräch, das einen gewissen Camps betraf. Tarrou hatte der Unterhaltung zweier Schaffner beigewohnt. «Du hast doch Camps gekannt», sagte der eine. «Camps? Ein großer mit einem dichten schwarzen Schnurrbart?» «Jawohl. Er war Weichensteller.» «Natürlich kenne ich ihn.» «Also, der ist gestorben.» «Nein! Wann denn?» «Nach der Rattengeschichte.» «So, so! Und was hatte er denn?» «Ich weiß nicht, Fieber. Er war übrigens nicht sehr kräftig. Er hatte Geschwüre unter den Armen. Er hat es nicht überlebt.» «Dabei war ihm doch gar nichts anzusehen.» «Doch, er war schwach auf der Brust, und er spielte in der städtischen Blasmusik. Immer das Horn blasen, greift einen an.» «Eben!» schloß der zweite. «Wenn man krank ist, soll man nicht das Horn blasen.» Nach diesen wenigen Angaben fragte sich Tarrou, warum Camps wohl so gegen sein eigenstes Interesse in die städtische Blasmusik eingetreten sei und welche tieferen Gründe ihn dazu bewegen haben mochten, sein Leben für sonntägliche Umzüge aufs Spiel zu setzen. Im weiteren schien Tarrou einen angenehmen Eindruck von einem Vorgang zu haben, der sich häufig auf dem Balkon gegenüber seinem Fenster abspielte. Sein Zimmer ging gerade auf eine kleine Seitenstraße, in deren Mauerschatten Katzen schliefen. Aber jeden Tag erschien nach dem Mittagessen, wenn die ganze Stadt in der Hitze döste, ein kleines altes Männchen auf einem Balkon jenseits der Straße. Seine Haare waren weiß und sorgfältig gekämmt, seine Haltung aufrecht und streng, seine Kleidung von militärischem Schnitt. Er lockte die Katzen mit einem «Mieze, Mieze!», das zugleich von oben herab und sanft ertönte. Die Katzen hoben ihre schlaftrunkenen Augen, ohne sich stören zu lassen. Der Alte zerriß über der Straße Papier in kleine Fetzen; angezogen von diesem Regen weißer Schmetterlinge näherten sich die Tiere der Straßenmitte und streckten zögernd eine Pfote nach den letzten Schnitzeln aus. In diesem Augenblick spuckte der Alte mit Kraft und Genauigkeit auf die Katzen. Wenn er sein Ziel traf, lachte er. Schließlich wurde Tarrou offenbar endgültig für die Stadt eingenommen, weil sie so auf den Handel eingestellt war, daß ihr Aussehen, ihr Leben und sogar ihre Vergnügen von geschäftlichen Notwendigkeiten beherrscht schienen. Diese Eigenheit (so bezeichnet es Tarrou in seinem Tagebuch) fand seinen Beifall, und eine seiner lobenden Bemerkungen schloß sogar mit dem Ausruf «Endlich!». Dies sind die einzigen Stellen aus jener Zeit, in denen die Aufzeichnungen des Reisenden persönliche Anteilnahme zu verraten scheinen. Es ist sehr schwierig, ihre Bedeutung und Ernsthaftigkeit richtig einzuschätzen. So erzählte Tarrou zum Beispiel, wie die Entdeckung einer toten Ratte den Kassierer des Hotels zu einem Fehler in seiner Rechnung verleitet hatte, und fügte in Schriftzügen, die weniger klar erschienen als sonst, die Bemerkung hinzu: «Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Länge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vorträge anhören in einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die längsten und umständlichsten Strecken fahren, selbstverständlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theaters Schlange stehen und keine Karte lösen usw. usw.» Aber unmittelbar nach diesen sprachlichen oder gedanklichen Seitensprüngen bringt das Tagebuch eine eingehende Beschreibung der städtischen Straßenbahnen, ihres nachenartigen Baues, ihrer unbestimmbaren Farbe, ihrer üblichen Unsauberkeit; diese Betrachtungen schließen mit einem «Es ist bemerkenswert», das nichts erklärt. Auf alle Fälle folgen jetzt die Angaben Tarrous, die sich auf die Rattengeschichte beziehen: «Heute ist das Männchen von gegenüber ganz verblüfft. Es gibt keine Katzen mehr. Sie sind tatsächlich verschwunden; die toten Ratten, die man in großer Zahl auf der Straße findet, haben sie aufgeregt. Meiner Meinung nach kommt es nicht in Frage, daß Katzen tote Ratten fressen. Ich erinnere mich, daß meine das verabscheuten. Dennoch rennen sie wohl in den Kellern umher, und der Alte ist fassungslos. Er ist weniger sorgfältig gekämmt, sieht weniger kräftig aus. Man spürt seine Beunruhigung. Er ist nach kurzer Zeit wieder hineingegangen. Aber einmal hat er doch gespuckt, ins Leere. In der Stadt hat man heute einen Wagen der Straßenbahn angehalten, weil eine tote Ratte entdeckt wurde, die auf unbekannte Weise dort hineingelangt war. Zwei oder drei Frauen sind ausgestiegen. Die Ratte wurde entfernt. Der Wagen ist weitergefahren. Der Nachtportier des Hotels, ein vertrauenswürdiger Mann, hat mir gesagt, mit all diesen Ratten mache er sich auf ein Unglück gefaßt. Ich habe ihm geantwortet, daß es für die Schiffe stimmen könne, daß man es aber bei Städten noch nie nachgeprüft habe. Er bleibt jedoch bei seiner Überzeugung. Ich habe ihn gefragt, was für ein Unglück seiner Meinung nach denn bevorstehe. Er wußte es nicht, man könne es nicht vorhersagen. Aber er würde sich nicht wundern, wenn es ein Erdbeben wäre. Ich habe diese Möglichkeit zugegeben, und er hat mich gefragt, ob mich das nicht beunruhige. Ich habe geantwortet: Er hat mich vollkommen begriffen. Im Speisesaal des Hotels ißt eine ganze Familie, die Beachtung verdient. Der Vater ist groß und mager, trägt schwarze Kleidung und einen steifen Kragen. In der Mitte des Schädels hat er eine Glatze, rechts und links ein graues Haarbüschel. Seine kleinen, runden und harten Augen, seine schmale Nase, sein waagrechter Mund verleihen ihm das Aussehen einer gut erzogenen Schleiereule. Er findet sich immer als erster an der Tür des Speisesaals ein, tritt beiseite, um seine Frau, eine kleine graue Maus, durchzulassen; dann folgt er und hinter ihm drein ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen, die wie abgerichtete Pudel angezogen sind. Am Tisch wartet er, bis seine Frau Platz genommen hat, setzt sich dann, und schließlich dürfen auch die beiden Hündchen auf ihre Stühle klettern. Er teilt seiner Frau höfliche Bosheiten aus und richtet an die Nachkommen Worte, die keinen Widerspruch dulden. Und das kleine Mädchen ist den Tränen nahe. Wie es sich gehört. Heute morgen war der Junge ganz aufgeregt wegen der Rattengeschichte. Er wollte bei Tisch davon anfangen. , sagte die graue Maus. Die beiden Pudel steckten ihre Nasen in den Teller, und die Schleiereule bedankt sich mit einem nichtssagenden Kopfnicken. Trotz dieses schönen Beispiels redet man in der Stadt viel von der Rattengeschichte. Die Zeitungen haben sich eingemischt. Die lokale Chronik, die für gewöhnlich sehr abwechslungsreich ist, beschäftigt sich jetzt ausschließlich mit einem Feldzug gegen die Stadtbehörden. Der Hoteldirektor kann von nichts anderem mehr sprechen. Das kommt auch daher, daß er sich ärgert. Es ist ihm unfaßlich, daß man Ratten im Aufzug eines anständigen Hotels finden kann. Um ihn zu trösten, sagte ich ihm: , antwortete er, Er hat mir von den ersten Fällen jenes merkwürdigen Fiebers erzählt, über das man sich aufzuhalten beginnt. Eines der Zimmermädchen ist davon befallen. , hob er mit Nachdruck hervor. Ich sagte ihm, das sei mir gleich. Ich hatte nichts dergleichen behauptet, und übrigens bin ich nicht Fatalist. Ich habe es ihm gesagt ...» Von diesem Augenblick an erzählen Tarrous Aufzeichnungen mit einigen Einzelheiten von dem unbekannten Fieber, das in der Öffentlichkeit schon mit Besorgnis verfolgt wurde. Tarrou berichtet, daß der kleine Alte nach dem Verschwinden der Ratten seine Katzen endlich wiedergefunden habe und seine Zielübungen geduldig vervollkommne, und fügt hinzu, daß man bereits etwa zehn Fälle dieses Fiebers zähle, von denen die meisten tödlich verlaufen seien. Der Vollständigkeit halber kann man noch das Bild hinzufügen, das Tarrou von Dr. Rieux entwirft. Soweit der Erzähler es beurteilen kann, ist das Porträt ziemlich naturgetreu: «Scheint fünfunddreißigjährig. Mittelgroß. Breite Schultern. Beinahe rechteckiges Gesicht. Dunkle, offene Augen, hervorstechende Backenknochen. Die Nase ist groß und gerade. Schwarze, ganz kurz geschnittene Haare. Der Mund ist gewölbt, die Lippen sind voll und beinahe immer zusammengepreßt. Mit seiner verbrannten Haut, seinem schwarzen Haar, den immer dunklen, aber gutsitzenden Anzügen sieht er ein bißchen aus wie ein sizilianischer Bauer. Er geht rasch. Er verläßt das Trottoir, ohne seinen Gang zu verlangsamen, macht aber zumeist einen kleinen Satz, wenn er das gegenüberliegende Trottoir betritt. Am Steuer seines Autos ist er zerstreut und läßt oft den Richtungszeiger draußen, wenn er schon um die Ecke gebogen ist. Immer barhäuptig. Wissende Miene.» Tarrous Zahlen stimmten. Dr. Rieux wußte Bescheid. Er hatte die Leiche des Hauswarts absondern lassen und dann Richard angerufen, um ihn über das von Leistenschwellung begleitete Fieber auszufragen. «Ich begreife das nicht», hatte Richard gesagt. «Zwei Todesfälle, der eine innerhalb 48 Stunden, der andere nach drei Tagen. Der zweite schien ganz auf dem Weg zur Besserung, als ich ihn am letzten Montag verließ.» «Benachrichtigen Sie mich, wenn Ihnen weitere Fälle vorkommen», sagte Rieux. Er rief noch ein paar andere Ärzte an. Seine so geführten Nachforschungen ergaben über zwanzig ähnliche Fälle innerhalb von wenigen Tagen. Fast alle waren tödlich verlaufen. Darauf verlangte er von Richard, der Sekretär des Ärzteverbandes war, daß alle Neuerkrankten sofort abgesondert würden. «Aber dazu habe ich keine Befugnis», erwiderte Richard. «Dazu sind Maßnahmen des Präfekten nötig. Und überhaupt, wer sagt denn, daß Ansteckungsgefahr besteht?» «Ich habe keine Beweise dafür, aber die Symptome sind unheimlich.» Dennoch fand Richard, «er sei nicht dazu berufen». Er könne einzig mit dem Präfekten darüber sprechen. Aber während man hin und her redete, schlug das Wetter um. Am Tag nach dem Tod des Hauswarts bedeckten dichte Dunstwolken den Himmel. Sintflutartige, aber kurze Regenfälle strömten auf die Stadt herab; diesem Platzregen folgte eine gewittrige Schwüle. Selbst das Meer hatte sein tiefes Blau verloren und blitzte unter dem verhangenen Himmel auf wie Silber oder Stahl, so daß die Augen bei seinem Anblick schmerzten. Die feuchte Hitze dieses Frühlings ließ einen die Glut des Sommers herbeisehnen. In der wie ein Schneckenhaus auf ihrer Anhöhe gebauten Stadt, die sich kaum gegen das Meer öffnet, herrschte dumpfe Betäubung. Zwischen den langen, verputzten Mauern, in den Straßen mit ihren verstaubten Schaufenstern, in den schmutziggelben Wagen der Straßenbahn fühlte man sich ein wenig als Gefangener des Himmels. Einzig Rieux' alter Patient überwand sein Asthma vor Freude über dieses Wetter. «Es brennt», sagte er, «das ist gut für die Bronchien.» Es brannte tatsächlich, aber nicht mehr und nicht weniger als ein Fieber. Die ganze Stadt lag im Fieber. Dr. Rieux wenigstens wurde diesen Eindruck nicht los, als er sich eines Morgens in die Rue Faidherbe begab, um der Untersuchung über Cottards Selbstmordversuch beizuwohnen. Doch dünkte ihn dieses Gefühl unvernünftig. Er schrieb es der Übermüdung und den vielen Sorgen zu, die auf ihn einstürmten, und fand es dringend notwendig, seine Gedanken ein bißchen in Ordnung zu bringen. Als er ankam, war der Polizeikommissar noch nicht da. Grand wartete auf dem Treppenabsatz, und sie beschlossen, zuerst bei ihm einzutreten und die Tür offen zu lassen. Der Angestellte der Stadtverwaltung bewohnte zwei nur dürftig möblierte Zimmer. Man bemerkte bloß ein Büchergestell aus rohem Holz, auf dem zwei oder drei Wörterbücher standen, und eine schwarze Wandtafel, auf der man noch die halbverwischten Worte «blühende Alleen» lesen konnte. Nach Grands Angaben hatte Cottard eine gute Nacht verbracht. Nur war er am Morgen mit Kopfschmerzen und völlig teilnahmslos erwacht. Grand schien müde und erregt. Er ging im Zimmer auf und ab, öffnete und schloß eine große Mappe, die auf dem Tisch lag und mit beschriebenen Blättern gefüllt war. Indessen erzählte er dem Arzt, daß er Cottard schlecht kenne, jedoch vermute, er habe ein kleines Vermögen. Cottard sei ein Sonderling. Lange Zeit hätten sich ihre Beziehungen auf das Grüßen im Treppenhaus beschränkt. «Ich habe mich nur zweimal mit ihm unterhalten. Vor ein paar Tagen habe ich im Gang eine Schachtel Kreide fallen lassen, die ich nach Hause brachte. Es waren rote und blaue dabei. In diesem Augenblick ist Cottard auf den Flur getreten und hat mir geholfen, sie aufzulesen. Er hat mich gefragt, wozu man diese verschiedenfarbigen Kreiden brauche.» Grand hatte ihm erklärt, er versuche, sein Latein wieder ein bißchen aufzufrischen. Seit dem Gymnasium habe er viel verlernt. «Nicht wahr», sagte er zum Arzt, «man hat mir versichert, es helfe einem, den Sinn der französischen Wörter besser zu verstehen.» Also schrieb er lateinische Wörter auf seine Wandtafel. Mit blauer Kreide malte er den je nach Deklination oder Konjugation wechselnden Teil des Wortes, mit roter Kreide den unveränderlichen. «Ich weiß nicht, ob Cottard es begriffen hat, auf alle Fälle schien er sich zu interessieren, und er bat mich um eine rote Kreide. Das überraschte mich ein wenig, aber schließlich . . . Ich konnte natürlich nicht ahnen, daß dies seinem Plan zustatten kommen würde.» Rieux fragte, worüber sie bei der zweiten Unterhaltung gesprochen hätten. Aber da erschien der Kommissar in Begleitung seines Schreibers und wollte zuerst Grands Aussagen hören. Es fiel dem Arzt auf, daß Grand von Cottard immer als «Der Verzweifelte» sprach. Einmal brauchte er sogar den Ausdruck «unseliger Entschluß». Sie erörterten den Grund des Selbstmords, und Grand zeigte sich außerordentlich heikel in der Wortwahl. Schließlich einigte man sich auf «seelischen Kummer». Der Polizeibeamte fragte, ob Cottards Haltung in nichts «seine Entschließung», wie er es nannte, habe voraussehen lassen. «Er hat gestern an meine Tür geklopft», erzählte Grand, «um mich um Streichhölzer zu bitten. Ich habe sie ihm gegeben. Er hat sich entschuldigt, weil wir doch Nachbarn seien . . . Dann hat er versprochen, die Schachtel zurückzubringen. Ich habe ihm gesagt, er solle sie behalten.» Der Beamte fragte, ob Cottard ihm nicht merkwürdig vorgekommen sei. «Was mir merkwürdig vorkam war sein augenscheinlicher Wunsch, eine Unterhaltung anzufangen. Aber ich war an der Arbeit.» Grand wandte sich Rieux zu und fügte verlegen hinzu: «Eine persönliche Arbeit.» Nun wollte der Kommissar den Kranken sehen. Aber Rieux fand es besser, Cottard erst auf diesen Besuch vorzubereiten. Beim Betreten des Zimmers sah er, wie der nur mit grauem Flanell bekleidete Kranke aufrecht im Bett saß und angstvoll nach der Tür blickte. «Die Polizei, nicht?» «Ja», sagte Rieux, «regen Sie sich nicht auf. Zwei oder drei Formalitäten, und dann haben Sie Ruhe.» Aber Cottard antwortete, das sei überflüssig, und er habe die Polizei nicht gern. Rieux zeigte seine Ungeduld. «Ich finde sie auch nicht gerade angenehm. Sie müssen ihre Fragen nur schnell und richtig beantworten, dann sind Sie sie ein für allemal los.» Cottard schwieg, und der Arzt wandte sich der Tür zu. Aber der kleine Mann rief ihm nach und ergriff seine Hände, als er am Bett stand. «Nicht wahr, Herr Doktor, einem Kranken, einem Mann, der sich aufgehängt hat, kann man doch nichts anhaben ? » Rieux betrachtete ihn einen Augenblick und beschwichtigte ihn dann, es sei von nichts Derartigem die Rede gewesen, und schließlich sei er auch noch da, um seinen Patienten zu schützen. Cottard schien sich zu beruhigen, und Rieux ließ den Polizeibeamten eintreten. Man las Cottard Grands Aussagen vor und fragte ihn, ob er seine Beweggründe nicht genauer darlegen könne. Ohne den Polizisten anzusehen, antwortete er, «seelischer Kummer» sei schon recht. Der Beamte wollte unbedingt wissen, ob er Verlangen habe, es nochmals zu versuchen. Cottard wurde lebhafter, verneinte und betonte, er möchte bloß in Frieden gelassen werden. Etwas gereizt erwiderte der Kommissar: «Ich bitte Sie zu beachten, daß Sie es sind, der gegenwärtig den Frieden stört.» Aber auf ein Zeichen von Rieux hin hatte es damit sein Bewenden. «Sie können sich denken, daß wir andere Sorgen haben, seitdem von diesem Fieber gesprochen wird», seufzte der Beamte beim Hinausgehen. Er fragte den Arzt, ob die Krankheit ernst zu nehmen sei, und Rieux antwortete, er wisse es nicht. «Es ist ganz einfach das Wetter», schloß der Polizist. Es war zweifellos das Wetter. Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr klebte alles an den Händen, und Rieux fühlte, wie bei jedem Krankenbesuch seine Bangigkeit wuchs. Am Abend dieses selben Tages preßte ein Nachbar des alten Patienten in der Vorstadt vom Delirium gepackt die Hände auf die Leistengegend und erbrach sich. Die Lymphdrüsen waren noch dicker geschwollen als bei dem Hauswart. Einer dieser Knoten begann zu eitern und brach bald auf wie eine faule Frucht. Zu Hause angekommen, setzte sich Rieux mit der Apothekerzentrale in Verbindung. Seine beruflichen Aufzeichnungen vermerken an diesem Tag nur «negativer Bescheid». Und schon wurde er zu ähnlichen Fällen anderswohin gerufen. Bestimmt mußten die Geschwüre geöffnet werden. Zwei kreuzweise Schnitte mit dem Messer, und aus den Lymphknoten entleerte sich eine mit Blut untermischte, breiige Flüssigkeit. Die zerfleischten Kranken bluteten. Aber am Bauch und an den Beinen erschienen Flecken, ein Knoten hörte auf zu eitern und füllte sich dann wieder. Meistens starb der Kranke in entsetzlichem Gestank. Die Zeitungen, die so viel über die Ratten geschrieben hatten, schwiegen sich aus. Die Ratten sterben eben auf der Straße und die Menschen im Zimmer. Und die Zeitungen befassen sich nur mit der Straße. Aber die Präfektur und die Stadtbehörden begannen unruhig zu werden. Solange jeder Arzt nur von zwei oder drei Fällen wußte, war es niemandem in den Sinn gekommen, etwas zu unternehmen. Aber schließlich genügte es, daß einer ans Zusammenzählen dachte. Das Ergebnis war beängstigend. In kaum ein paar Tagen vervielfältigten sich die tödlich verlaufenden Fälle, und denen, die sich mit dieser merkwürdigen Krankheit befaßten, wurde es ganz klar, daß es sich um eine regelrechte Epidemie handelte. Diesen Augenblick wählte Castel, ein sehr viel älterer Kollege, um Rieux zu besuchen. «Sie wissen natürlich, was es ist, Rieux?» fragte er ihn. «Ich warte noch auf das Ergebnis der Analyse.» «Ich weiß es. Und ich brauche keine Analysen. Ich habe einen Teil meines Lebens in China zugebracht, und vor etwa zwanzig Jahren habe ich in Paris ein paar Fälle gesehen. Nur wagte niemand, das Kind gleich beim Namen zu nennen. Die öffentliche Meinung ist heilig: nur keine Aufregung, um Himmels willen keine Aufregung. Und dann, wie ein Kollege sagte: Jawohl, außer den Toten wußten es alle. Keine Ausflüchte, Rieux, Sie wissen gerade so gut wie ich, was es ist.» Rieux überlegte. Durch das Fenster seines Arbeitszimmers schaute er auf die steinige Schulter der Klippen, die in der Ferne die Bucht umschlossen. Der Himmel war blau, hatte aber einen trüben Glanz, der im Verlauf des Nachmittags langsam milder wurde. «Ja, Castel», sagte er, «es ist kaum zu glauben. Aber es scheint wirklich, daß es die Pest ist.» Castel erhob sich und ging auf die Tür zu. «Sie wissen, was man uns zur Antwort geben wird», sagte der alte Arzt: «Sie ist seit Jahren aus den gemäßigten Zonen verschwunden.» «Was heißt verschwunden?» antwortete Rieux. «Ja. Und vergessen Sie nicht: vor beinahe zwanzig Jahren noch in Paris.» «Gut. Hoffen wir, es sei heute nicht schlimmer als damals. Aber es ist wirklich nicht zu glauben.» Das Wort «Pest» war eben zum erstenmal ausgesprochen worden. Es sei dem Erzähler vergönnt, an diesem Punkt des Berichts, während Bernard Rieux an seinem Fenster steht, die Unsicherheit und Überraschung des Arztes zu rechtfertigen, weil seine Reaktion sich nur geringfügig von der der meisten Mitbürger unterschied. Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen gleich an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Erde ebenso viele Pestseuchen gegeben wie Kriege. Und doch finden Pest und Krieg die Menschen immer gleich wehrlos. Dr. Rieux stand der Pest ebenso unvorbereitet gegenüber wie unsere übrigen Mitbürger, und so muß man sein Zögern verstehen. So muß man auch begreifen, daß er zwischen Besorgnis und Vertrauen hin und her gerissen wurde. Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: «Er kann nicht lange dauern, es ist zu unsinnig.» Und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, lange zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre. In dieser Beziehung waren unsere Mitbürger wie alle Leute, sie dachten an sich, oder anders ausgedrückt, sie waren Menschenfreunde: sie glaubten nicht an Heimsuchungen. Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen, und die Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben. Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen nur die Bescheidenheit und dachten, daß ihnen noch alle Möglichkeiten offenblieben, was aber voraussetzt, daß Heimsuchungen unmöglich sind. Sie schlossen auch weiterhin Geschäfte ab, bereiteten Reisen vor und hatten eine Meinung. Wie hätten sie da an die Pest denken sollen, die der Zukunft, dem Reisen und dem Gedankenaustausch ein Ende macht? Sie glaubten sich frei, und keiner wird je frei sein, solange es Geißeln der Menschheit gibt. Und selbst nachdem Dr. Rieux vor seinem Freund zugegeben hatte, daß eine Handvoll verstreuter Kranker ohne Warnung an der Pest gestorben war, blieb die Gefahr für ihn unwirklich. Bloß hat man als Arzt einen Begriff vom Schmerz und eine etwas lebhaftere Phantasie. Wenn Rieux durch das Fenster auf seine unveränderte Stadt blickte, spürte er, wie in ihm unmerklich jenes leichte Ekelgefühl vor der Zukunft aufstieg, das man Unruhe nennt. Er versuchte im Geist alles zusammenzufassen, was er von dieser Krankheit wußte. Zahlen schwirrten ihm durch das Gedächtnis, und er sagte sich, daß die etwa dreißig großen Pestepidemien der Geschichte an die hundert Millionen Tote gefordert hatten. Aber was bedeuten hundert Millionen Tote? Wer den Krieg mitgemacht hat, weiß kaum noch, was ein Toter ist. Und da ein toter Mensch dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen nichts als Rauch in der Einbildung. Der Arzt erinnerte sich an die Pest von Konstantinopel, der nach Prokop an einem Tag zehntausend Menschen zum Opfer gefallen waren. Zehntausend Tote, das macht fünfmal die Zahl der Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man tun. Man faßt die Besucher von fünf Kinos an den Ausgängen zusammen, führt sie auf einen Platz in der Stadt und läßt sie dort alle miteinander sterben, damit man wieder ein bißchen klarer sieht. Dann könnte man wenigstens ein paar bekannte Gesichter auf diesen namenlosen Haufen stecken. Aber das ist natürlich undurchführbar. Und wer kennt schließlich zehntausend Gesichter? Übrigens ist ja bekannt, daß Leute wie Prokop gar nicht zählen konnten. Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an der Pest gestorben, ehe die Seuche sich mit den Menschen befaßte. Aber 1871 gab es keine Möglichkeit, die Ratten zu zählen. Man berechnete annähernd, summarisch. Die Wahrscheinlichkeit eines Rechenfehlers war groß. Wenn jedoch eine Ratte dreißig Zentimeter lang ist, ergäben vierzigtausend Ratten aneinandergereiht . . . Aber der Doktor wurde ungeduldig. Er ließ sich gehen, und das durfte er nicht. Vereinzelte Fälle machen noch keine Epidemie, und es genügt, wenn Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Man mußte sich an das halten, was man sicher wußte: die Erstarrung und die Entkräftung, die geröteten Augen, die schmierig belegte Zunge, die Kopfschmerzen, die Beulen, die innerliche Zerfleischung, und am Ende von alldem . . . Am Ende von alldem kam Dr. Rieux ein Satz in den Sinn, jener Satz, der in seinem Handbuch die Aufzählung der Krankheitszeichen abschloß: «Der Puls wird fadenförmig, und der Tod tritt bei irgendeiner unbedeutenden Bewegung ein.» Ja, am Ende von alldem hing man an einem Faden, und drei Viertel der Leute waren ungeduldig genug, um die unmerkliche Bewegung zu machen, die sie hinabstürzte. Der Arzt blickte noch immer aus dem Fenster. Jenseits der Scheiben der frische Frühlingshimmel, und diesseits das Wort, das noch im Zimmer nachhallte: die Pest. Das Wort enthielt nicht nur den Sinn, den die Wissenschaft hineinzulegen beliebte, sondern eine lange Folge außerordentlicher Bilder, die nicht passen wollten zu dieser gelben und grauen Stadt, die um diese Zeit nur mäßig belebt war, mehr dumpf summend als lärmend, eigentlich glücklich, wenn es möglich ist, glücklich und glanzlos zugleich zu sein. Und eine so friedliche und teilnahmslose Ruhe strafte fast mühelos die alten Vorstellungen Lügen, die man von den Geißeln hegt: Das verseuchte und von den Vögeln verlassene Athen, die mit stummen Sterbenden erfüllten Städte Chinas, die Sträflinge aus Marseille, die die sich in Fäulnis auflösenden Leichen in Löchern aufeinanderwarfen, die große Mauer, die in der Provence erbaut wurde, um den wütenden Pestwind aufzuhalten, Jaffa und seine widerlichen Bettler, die feuchten, fauligen Betten, die im Spital von Konstantinopel am Lehmboden kleben, die Kranken, die an Haken herumgeschleppt werden, die Fastnacht der vermummten Ärzte während der schwarzen Pest, die Paarung der Lebenden in den Friedhöfen von Mailand, die Totenkarren im verstörten London, und die Tage und die Nächte, die überall und immerdar vom endlosen Schrei der Menschen erfüllt sind. Nein, das alles zusammen war noch nicht stark genug, um den Frieden dieses Tages zu töten. Jenseits der Scheiben ertönte plötzlich die Glocke einer unsichtbaren Straßenbahn und verdrängte mit einem Schlag die Grausamkeit und den Schmerz. Einzig das Meer hinter dem glanzlosen Schachbrett der Häuser zeugte von dem beklemmenden und ewig ruhelosen Teil der Welt. Und Dr. Rieux, der den Golf betrachtete, dachte an jene Scheiterhaufen, von denen Lukrez spricht, die die Athener am Meer aufrichteten, wenn die Krankheit sie heimsuchte. Dorthin wurden des Nachts die Toten gebracht, aber es fehlte an Raum, und die Lebenden bekriegten sich mit ihren Fackeln, um den Verstorbenen, die ihnen teuer waren, einen Platz zu sichern; und lieber standen sie blutige Schlägereien durch, als daß sie ihre Leichen im Stich gelassen hätten. Man konnte sich die glühenden Scheiterhaufen vor dem ruhigen dunklen Wasser vorstellen, die Fackelkämpfe in funkensprühender Nacht, und die dicken, giftigen Dämpfe, die zum aufmerksamen Himmel emporstiegen. Man konnte befürchten . . . Aber diese schwindelerregenden Vorstellungen hielten der Vernunft nicht stand. Es stimmte, daß das Wort «Pest» ausgesprochen worden war. Es stimmte, daß in derselben Minute die Seuche ein oder zwei Opfer schüttelte und niederwarf. Aber was bedeutete das schon? Das konnte ja aufhören. Was jetzt not tat, war, klar zu erkennen, was erkannt werden mußte, die unnützen Schatten endlich wegzujagen und die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Dann würde die Pest innehalten, weil man sich die Pest nicht oder nur falsch vorstellen konnte. Wenn sie aufhörte, und das war das Wahrscheinlichste, dann würde alles gutgehen. Andernfalls wußte man, was sie war und ob es nicht eine Möglichkeit gab, sich zunächst mit ihr abzufinden, um sie dann zu besiegen. Der Arzt öffnete das Fenster, und der Lärm der Stadt schwoll plötzlich an. Aus einer nahen Werkstatt drang das kurze, sich ständig wiederholende Kreischen einer Bandsäge. Rieux riß sich zusammen. Hier, in der täglichen Arbeit, war die Gewißheit. Das übrige hing an Fäden und unbedeutenden Bewegungen, dabei konnte man sich nicht aufhalten. Ausschlaggebend war, daß man seiner Pflicht gewissenhaft nachkam. So weit war Dr. Rieux mit seinen Betrachtungen gekommen, als ihm Joseph Grand gemeldet wurde. Da dieser im Rathaus angestellt war, verwendete man ihn trotz seiner vielseitigen Aufgaben von Zeit zu Zeit auch auf der statistischen Abteilung des Standesamtes. So mußte er zum Beispiel die Zahl der Todesfälle zusammenrechnen. Und da er dienstfertig war, hatte er eingewilligt, selbst eine Abschrift seiner Ergebnisse zu Rieux zu bringen. Der Arzt sah Grand mit seinem Nachbarn Cottard eintreten. Der Angestellte schwenkte ein Blatt Papier. «Die Ziffern steigen, Herr Doktor», verkündete er, «elf Tote in 48 Stunden.» Rieux begrüßte Cottard und fragte ihn, wie er sich fühle. Grand erklärte, Cottard habe dem Arzt danken und sich für die Mühe entschuldigen wollen, die er ihm verursacht habe. Aber Rieux betrachtete die statistischen Angaben. «Schön», sagte er, «jetzt muß man sich vielleicht doch dazu entschließen, diese Krankheit bei ihrem Namen zu nennen. Bis jetzt haben wir uns kaum gerührt. Aber begleiten Sie mich doch, ich muß ins Laboratorium.» «Ja, ja», sagte Grand, während er hinter dem Arzt die Treppe hinunterstieg. «Man muß die Dinge beim Namen nennen. Aber bei welchen Namen?» «Ich darf es Ihnen nicht sagen, und übrigens würde es Ihnen nichts nützen.» «Sehen Sie», lächelte Grand. «Es ist nicht so einfach.» Sie lenkten ihre Schritte zum Waffenplatz. Cottard schwieg immer noch. Die Straßen begannen sich zu bevölkern. Die hierzulande kurze Dämmerung wich bereits der Nacht, und die ersten Sterne erschienen am noch klaren Horizont. Ein paar Sekunden später verdunkelten die Straßenlaternen mit ihrem Licht den Himmel, und das Stimmengewirr schien um einen Ton anzuschwellen. «Entschuldigen Sie mich bitte», sagte Grand an der Ecke des Waffenplatzes, «aber ich muß meine Straßenbahn nehmen. Meine Abende sind mir heilig. Wie man in meiner Heimat sagt: » Rieux hatte schon früher bemerkt, daß Grand die Eigenheit hatte, Redensarten seiner Heimat - er kam von Montelimar - anzuführen und dann irgendeinen nichtssagenden Gemeinplatz anzuhängen, wie «ein traumhaftes Wetter» oder «eine feenhafte Beleuchtung». «O ja!» sagte Cottard. «Das stimmt. Nach dem Abendessen ist er nicht mehr aus seiner Klause zu bringen.» Rieux fragte Grand, ob er für das Rathaus arbeite. Grand verneinte, er arbeite für sich. «Ach», sagte der Arzt, «und kommen Sie gut voran?» «Ich muß wohl, da ich seit Jahren daran arbeite. Obwohl ich andererseits keine großen Fortschritte mache.» «Aber worum handelt es sich eigentlich?» fragte der Arzt und blieb stehen. Grand stammelte etwas Unverständliches und rückte seine Melone auf seinen großen Ohren zurecht. Und Rieux begriff dunkel, daß es sich irgendwie um den Aufschwung einer Persönlichkeit handeln mußte. Aber der Angestellte hatte sie schon verlassen und verschwand mit schnellen kleinen Schritten unter den Feigenbäumen des Boulevard de la Marne. An der Tür des Laboratoriums sagte Cottard zum Arzt, er möchte gern mit ihm sprechen und ihn um Rat fragen. Rieux fingerte in seiner Tasche an der Statistik herum und bat Cottard, er möge in die Sprechstunde kommen, besann sich dann eines Besseren und sagte, er werde am folgenden Tag in seinem Quartier sein und ihn gegen Abend besuchen. Als Rieux sich von Cottard verabschiedet hatte, merkte er, daß er an Grand dachte. Er stellte sich ihn mitten in einer Pest vor, nicht in dieser, die war sicher nicht ernst zu nehmen, sondern in einer der großen Pestepidemien der Geschichte. «Er gehört zu der Art Mensch, die in solchen Fällen davonkommt.» Er erinnerte sich, gelesen zu haben, daß die Pest die Schwachen verschone und hauptsächlich die Kräftigen dahinraffe. Als er länger daran dachte, schien ihm der Angestellte irgendwie geheimnisvoll. Auf den ersten Blick war Joseph Grand allerdings nichts anderes, als was er schien: ein kleiner Rathausangestellter. Er war groß und mager, schwamm immer in viel zu weiten Kleidern, die er in der Hoffnung kaufte, sie würden länger halten. Er besaß noch fast alle unteren Zähne, hatte aber dafür alle oberen verloren. Sein Lächeln, bei dem er hauptsächlich die Oberlippe hochzog, ließ seinen Mund deshalb als dunklen Schatten erscheinen. Um das Bild zu vervollständigen, wären noch hinzuzufügen: der Seminaristengang, die Kunst, an den Mauern entlangzustreichen und sich in Hauseingänge zu drücken, ein Geruch von Keller und Rauch, alle Züge der Nichtigkeit, und man wird zugeben, daß man sich Grand nirgends anders denken konnte als hinter einem Pult, fleißig bemüht, die Preise der städtischen Brausebäder durchzusehen oder im Auftrag eines jungen Vorgesetzten die Grundlagen zu einem Bericht über die neue Gebühr für die Müllabfuhr zusammenzutragen. Auch einem unvoreingenommenen Geist mochte es scheinen, er sei in die Welt gesetzt worden, um die bescheidenen, aber unvermeidlichen Aufgaben eines städtischen provisorischen Hilfsangestellten zu 62 Francs 30 am Tag zu erfüllen. Das war in der Tat die Bezeichnung, die er auf den Formularen nach dem Wort «Anstellungsverhältnis» angab. Als er vor 22 Jahren nach einer ersten Prüfung aus Geldmangel seine Studien nicht hatte fortsetzen können und diese Beschäftigung annahm, machte man ihm Hoffnung auf eine baldige feste Anstellung, so sagte er. Er müsse nur während einiger Zeit beweisen, daß er von den heiklen Aufgaben unserer Stadtverwaltung etwas verstehe. Es wurde ihm versichert, daß er dann unfehlbar zum Schriftführer aufsteigen und ein gutes Auskommen finden werde. Es war sicher nicht Ehrgeiz, was Joseph Grand bewegte, dafür bürgte er mit einem traurigen Lächeln. Aber die Aussicht auf ein ehrlich verdientes, gesichertes Leben und damit auf die Möglichkeit, sich ohne Gewissensbisse seinen Lieblingsbeschäftigungen widmen zu können, verlockte ihn sehr. Wenn er das Angebot, das man ihm machte, annahm, so geschah es aus ehrenwerten Gründen und aus Treue zu einem Ideal, wenn man so sagen darf. Dieser vorläufige Zustand dauerte nun seit vielen Jahren, die Lebenskosten waren ungeheuer gestiegen, und Grands Gehalt war trotz einigen allgemeinen Aufbesserungen immer noch lächerlich gering. Er hatte sich bei Rieux darüber beklagt, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Hier zeigt sich Grands Eigentümlichkeit oder wenigstens eines ihrer Merkmale. Er hätte ja, wenn nicht seine Rechte, deren er nicht gewiß war, doch wenigstens die Zusicherungen geltend machen können, die man ihm seinerzeit gegeben hatte. Aber erstens war der Vorgesetzte, der ihn angestellt hatte, seit langem tot, und zudem erinnerte er sich nicht an den genauen Wortlaut des Versprechens. Und zweitens und hauptsächlich fand Joseph Grand seine Worte nicht. Wie Rieux feststellen konnte, kennzeichnete diese Eigenheit unseren Mitbürger am besten. Sie machte es ihm immer unmöglich, den Beschwerdebrief zu schreiben, an dem er herumsann, oder den Schritt zu tun, den die Umstände erforderten. Wie er erzählte, fühlte er sich besonders gehemmt, das Wort «Recht» zu gebrauchen, weil er nicht sicher war, und das Wort «Versprechungen», das ausgedrückt hätte, er verlange etwas, das man ihm schuldig sei. Diese Verwegenheit hätte schlecht zu dem bescheidenen Amt gepaßt, das er versah. Andererseits wollte er die Ausdrücke «Wohlwollen», «Bitten», «Dankbarkeit» nicht gebrauchen, da er fand, sie vertrügen sich nicht mit seiner persönlichen Würde. So kam es, daß unser Mitbürger bis in ein vorgerücktes Alter hinein weiterhin seiner ruhmlosen Beschäftigung nachging, weil er das rechte Wort nicht fand. Und übrigens, so berichtete er Dr. Rieux, merkte er mit der Zeit, daß sein Auskommen auf jeden Fall gesichert war, da er im Grunde nur seine Bedürfnisse den Einnahmen anzupassen brauchte. Er anerkannte damit die Richtigkeit eines Lieblingsausspruchs des Bürgermeisters, eines Großindustriellen unserer Stadt, der eindringlich versicherte, letzten Endes (er betonte das Wort, auf dem das ganze Gewicht seiner Überlegung ruhte), letzten Endes also, habe man noch nie jemand Hungers sterben sehen. Auf jeden Fall hatte das sozusagen mönchische Leben, das Joseph Grand rührte, ihn letzten Endes in der Tat von allen derartigen Sorgen befreit. Er suchte weiterhin seine Worte. In gewissem Sinn ist wohl zu sagen, daß sein Leben vorbildlich war. Er gehörte zu den bei uns überall seltenen Menschen, die immer den Mut haben, zu ihren edlen Gefühlen zu stehen. Das Wenige, was er im Vertrauen über sich aussagte, zeugte tatsächlich von einer Güte und Anhänglichkeit, die heutzutage keiner mehr einzugestehen wagt. Er schämte sich nicht, zuzugeben, daß er seine Neffen und seine Schwester liebte; sie waren die einzigen Verwandten, die er noch hatte, und er besuchte sie alle zwei Jahre in Frankreich. Er bekannte, daß die Erinnerung an seine Eltern, die gestorben waren, als er noch klein war, ihn schmerzte. Er gab gerne zu, daß er in seinem Quartier eine bestimmte Glocke besonders liebte, die gegen fünf Uhr abends weich erklang. Aber jedes Wort, das er brauchte, um so einfache Gefühle wiederzugeben, kostete ihn tausend Mühen. Diese Schwierigkeit war seine größte Sorge. «Ach, Herr Doktor», pflegte er zu sagen, «ich möchte so gerne lernen, mich auszudrücken.» Jedesmal, wenn er Rieux begegnete, sprach er davon. Als der Arzt an jenem Abend den Angestellten weggehen sah, verstand er plötzlich, was Grand hatte sagen wollen: er schrieb sicher ein Buch oder etwas Derartiges. Das beruhigte Rieux noch im Laboratorium, das er endlich aufsuchte. Er wußte, daß dieser Eindruck dumm war, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die Pest wirklich eine Stadt heimsuchen könnte, in der es bescheidene Beamte gab, die ehrenwerte Steckenpferde ritten. Genaugenommen konnte er sich nicht denken, wie diese Steckenpferde sich in die Pest einordnen sollten, und deshalb war er der Ansicht, die Pest könne in unserer Stadt wirklich keine Zukunft haben. Am folgenden Tag erreichte Rieux durch sein Drängen, das man unangebracht fand, die Einberufung einer Gesundheitskommission auf der Präfektur. «Es stimmt, daß die Leute unruhig werden», hatte Richard zugegeben. «Und dann übertreibt das Gerede alles. Der Präfekt hat mir gesagt: Er ist übrigens überzeugt, daß es sich um einen falschen Alarm handelt.» Bernard Rieux brachte Castel in seinem Wagen zur Präfektur. «Wissen Sie, daß das Departement kein Serum besitzt?» fragte ihn der alte Arzt. «Ja. Ich habe das Lager angerufen. Der Direktor ist aus allen Wolken gefallen. Man muß es von Paris kommen lassen.» «Hoffentlich geht es nicht zu lang.» «Ich habe schon telegrafiert», antwortete Rieux. Der Präfekt war liebenswürdig, aber aufgeregt. «Wir wollen anfangen, meine Herren», sagte er. «Soll ich die Lage zusammenfassen?» Richard fand es überflüssig. Die Ärzte kannten die Lage. Die Frage sei nur, welche Maßnahmen zu ergreifen seien. «Die Frage ist, ob es sich um die Pest handelt oder nicht», platzte der alte Castel heraus. Zwei oder drei Ärzte fuhren auf. Die anderen schienen zu zögern. Der Präfekt sprang auf und wandte sich unwillkürlich zur Tür, als wollte er sich vergewissern, daß sie diese Ungeheuerlichkeit daran hinderte, in die Gänge hinauszudringen. Richard erklärte, daß man sich seiner Meinung nach nicht ins Bockshorn jagen lassen dürfe: es handle sich um ein Fieber mit Komplikationen in den Leisten, das sei alles, was man sagen könne, da in der Wissenschaft wie im täglichen Leben alle unbegründeten Annahmen gefährlich seien. Der alte Castel, der bedächtig seinen gelben Schnurrbart kaute, blickte mit seinen hellen Augen Rieux an. Dann schaute er wohlwollend auf die Versammlung und bemerkte, er wisse ganz genau, daß es die Pest sei, aber daß natürlich eine amtliche Feststellung unerbittliche Maßnahmen zur Folge hätte. Er wisse, daß seine Kollegen sich aus diesem Grunde sträubten, und er wolle deshalb ihrer Seelenruhe zuliebe gerne zugeben, es sei nicht die Pest. Der Präfekt regte sich auf und erklärte, auf alle Fälle dürften keine solchen Schlüsse gezogen werden. «Es kommt nicht darauf an, ob diese Art Folgerung richtig ist oder nicht, sondern ob sie zum Denken zwingt», sagte Castel. Da Rieux schwieg, wurde er um seine Meinung gebeten. «Es handelt sich um ein typhoides Fieber, das aber von Beulen und Erbrechen begleitet ist. Ich habe die Beulen aufgeschnitten. So konnte ich Untersuchungen anstellen lassen, bei denen das Laboratorium den gedrungenen Pestbazillus zu erkennen glaubt. Um vollständig zu sein, ist allerdings zu sagen, daß gewisse besondere Abweichungen der Mikroben nicht mit der klassischen Beschreibung übereinstimmen.» Richard unterstrich, wie sehr dadurch das Zögern gerechtfertigt werde und daß zumindest das statistische Ergebnis der ganzen Reihe von Untersuchungen, die seit ein paar Tagen gemacht wurden, abgewartet werden müsse. Nach kurzem Schweigen sagte Rieux: «Wenn eine Mikrobe imstande ist, in der Zeit von drei Tagen den Umfang der Milz zu vervierfachen, den Lymphdrüsen des Unterleibs die Größe einer Orange und die Festigkeit eines Breis zu verleihen, dann ist eben kein Zögern mehr gestattet. Die Ansteckungsherde nehmen ständig zu. Wenn wir die Krankheit nicht aufhalten, laufen wir bei der Geschwindigkeit, mit der sie um sich greift, Gefahr, daß sie die halbe Stadt getötet hat, bevor zwei Monate um sind. Folglich ist es ganz unwichtig, ob Sie sie Pest oder Wachstumsfieber nennen, wichtig ist nur, daß Sie sie hindern, die halbe Stadt zu töten.» Richard fand, man dürfe nicht zu schwarz sehen, und überdies sei die Ansteckung nicht erwiesen, da die Verwandten seiner Patientin noch gesund seien. «Aber andere sind gestorben», bemerkte Rieux. «Und wohlverstanden ist die Ansteckung nie absolut, sonst liefe es auf eine unendliche mathematische Progression und eine jähe Entvölkerung hinaus. Es handelt sich darum, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.» Richard glaubte indessen, die Lage zusammenzufassen, wenn er daran erinnerte, daß man, falls die Krankheit nicht von selbst innehalte, die schwerwiegenden Vorkehrungen anordnen müsse, die das Gesetz vorsehe; daß man, um das tun zu können, amtlich erklären müsse, es handle sich um die Pest; daß man in dieser Hinsicht seiner Sache nicht unbedingt sicher sei und daß man es infolgedessen reiflich überlegen müsse. «Die Frage ist nicht, ob die vom Gesetz vorgesehenen Maßnahmen schwerwiegend sind, sondern ob sie nötig sind, um zu verhindern, daß die halbe Stadt getötet wird», beharrte Rieux. «Der Rest ist Sache der Verwaltung, und unsere Verfassung sieht einen Präfekten vor, der gerade solche Fragen zu regeln hat.» «Zweifellos», sagte der Präfekt, «aber es ist nötig, daß Sie offiziell bestätigen, daß es sich um eine Pestepidemie handelt.» «Auch wenn wir das nicht bestätigen, laufen wir Gefahr, daß sie die halbe Stadt tötet», erwiderte Rieux. Richard ergriff mit einiger Erregung das Wort: «In Wirklichkeit ist es so, daß unser Kollege an die Pest glaubt; seine Beschreibung des Krankheitsbildes beweist das.» Rieux entgegnete, er habe nicht ein Krankheitsbild beschrieben, sondern das, was er gesehen habe. Und was er gesehen habe, seien Beulen, Flecken, Delirium und der Tod innerhalb von 48 Stunden. Konnte es Herr Dr. Richard verantworten, zu erklären, die Seuche werde auch ohne strenge Vorbeugungsmaßnahmen zum Stillstand kommen? Richard zögerte und schaute Rieux an. «Sagen Sie mir aufrichtig, sind Sie überzeugt, daß es die Pest ist?» «Sie stellen die Frage falsch. Es ist nicht eine Frage der Bezeichnung, es ist eine Frage der Zeit.» «Sie finden also», sagte der Präfekt, «daß, selbst wenn es sich nicht um die Pest handelt, man trotzdem die Maßnahmen ergreifen sollte, die für Pestzeiten vorgesehen sind?» «Wenn ich unbedingt etwas finden soll, dann ist es das.» Die Ärzte berieten sich untereinander, und schließlich sagte Richard: «Wir müssen also die Verantwortung übernehmen und so handeln, als wäre diese Krankheitserscheinung eine Seuche.» Dieser Formulierung wurde warm beigepflichtet. «Sind Sie auch dieser Meinung, lieber Kollege?» fragte Richard. «Die Formulierung ist mir gleichgültig», sagte Rieux. «Sagen wir einfach, daß wir uns nicht benehmen dürfen, als liefe nicht die halbe Stadt Gefahr, getötet zu werden, denn sonst wird sie es.» Mitten aus dieser allgemeinen Gereiztheit ging Rieux fort. Ein paar Augenblicke später wandte sich in der nach Fisch und Urin riechenden Vorstadt eine Frau mit blutenden Leisten ihm zu und schrie in Todesangst. Am Tag nach der Besprechung griff das Fieber noch weiter um sich. Es kam sogar in die Zeitungen; allerdings unter einer gutartigen Form, da man sich mit Andeutungen begnügte. Am übernächsten Tag konnte Rieux jedenfalls kleine weiße Anschläge lesen, die die Präfektur eilig in den verstohlensten Winkeln der Stadt hatte anbringen lassen. Es war schwierig, in dieser Bekanntmachung den Beweis dafür zu sehen, daß die Behörden der Lage ins Auge blickten. Es gab keine drakonischen Maßnahmen, und man schien dem Wunsch, die öffentliche Meinung nicht zu beunruhigen, große Opfer gebracht zu haben. Der Erlaß begann nämlich mit der Erklärung, daß in der Gemeinde von Oran einige Fälle eines bösartigen Fiebers festgestellt worden seien, von dem noch nicht gesagt werden könne, ob es ansteckend sei. Diese Fälle seien nicht ausgeprägt genug, um wirklich Besorgnis zu erregen, und die Bevölkerung werde ohne Zweifel ihre Kaltblütigkeit bewahren. Doch werde jedermann einsehen, daß der Präfekt trotzdem, und nur um alle Vorsicht walten zu lassen, einige vorbeugende Maßnahmen treffe. Richtig verstanden und angewendet, würden diese Maßnahmen genügen, um jegliche Gefahr einer Epidemie von vornherein zu bannen. Der Präfekt zweifle folglich keinen Augenblick daran, daß die Bevölkerung ihn in seiner eigenen Anstrengung mit aller Hingabe unterstützen werde. Der Anschlag verkündete dann ein paar allgemeine Verordnungen, wie eine wissenschaftlich durchgeführte Entrattung durch Zerstäubung giftiger Gase in den Abwasserkanälen und eine sorgfältige Überwachung der Wasserverteilung. Er ermahnte die Einwohnerschaft zu peinlichster Sauberkeit und forderte die Leute, die Flöhe hatten, auf, sich in den städtischen Polikliniken einzufinden. Andererseits wurden die Familien dazu verpflichtet, die vom Arzt festgestellten Fälle anzumelden und ihre Kranken in besondere Säle des Spitals bringen zu lassen. Diese Säle seien übrigens so eingerichtet, daß die Kranken in kürzester Zeit und mit den größten Heilungsaussichten gepflegt werden könnten. Einige zusätzliche Bestimmungen befahlen die Desinfektion des Krankenzimmers und des Krankenwagens. Im übrigen beschränkte man sich darauf, den Angehörigen zu empfehlen, ihre Gesundheit ärztlich überwachen zu lassen. Dr. Rieux wandte sich heftig von dem Aufruf ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Joseph Grand erwartete ihn und erhob wieder die Arme, als er seiner ansichtig wurde. «Ja», sagte Rieux, «ich weiß, die Ziffern steigen.» Am Vortag waren ungefähr zehn Kranke in der Stadt gestorben. Der Arzt sagte, daß er Grand vielleicht am Abend noch sehen werde, da er Cottard besuchen wolle. «Sie haben recht», erwiderte Grand. «Sie werden ihm gut tun, denn ich finde ihn verändert.» «Wie meinen Sie das?» «Er ist höflich geworden.» «War er das denn früher nicht?» Grand zögerte. Er konnte nicht behaupten, Cottard sei unhöflich gewesen, der Ausdruck wäre unzutreffend. Er war ein verschlossener, schweigsamer Mensch, der ein wenig einem Eber glich. Sein Zimmer, eine bescheidene Speisewirtschaft und ziemlich geheimnisvolle Gänge, das war Cottards ganzes Leben. Er galt als Vertreter in Weinen und Spirituosen. Hie und da empfing er den Besuch von zwei oder drei Männern, die seine Kunden sein mochten. Abends ging er manchmal ins Kino, das dem Haus gegenüber lag. Der Angestellte hatte sogar bemerkt, daß Cottard mit Vorliebe Verbrecherfilme anzusehen schien. Immer und überall blieb der Vertreter ein mißtrauischer Einzelgänger. Nach Grands Aussagen hatte sich das alles beträchtlich geändert. «Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber sehen Sie, ich habe den Eindruck, daß er sich die Leute zu versöhnen sucht, daß er alle auf seiner Seite haben will. Er spricht oft mit mir, er fordert mich auf, mit ihm auszugehen, was ich ihm nicht immer abschlagen mag. Abgesehen davon interessiert er mich, und schließlich habe ich ihm das Leben gerettet.» Seit seinem Selbstmordversuch hatte Cottard keinerlei Besuch mehr empfangen. Auf der Straße, in den Läden suchte er das Wohlwollen aller zu gewinnen. Nie hatte er mit mehr Freundlichkeit mit dem Krämer gesprochen, mit mehr Anteilnahme einer Tabakhändlerin zugehört. «Diese Tabakhändlerin ist eine ausgemachte Schlange», bemerkte Grand. «Ich habe es Cottard gesagt, aber er hat mir geantwortet, daß ich mich täuschte: sie habe ihre guten Seiten, man müsse sie nur zu finden wissen.» Schließlich hatte Cottard Grand zwei- oder dreimal in die vornehmen Gaststätten und Cafés der Stadt mitgenommen, in denen er jetzt verkehrte. «Man fühlt sich wohl dort», pflegte er zu sagen, «und ist zudem in guter Gesellschaft.» Es war Grand aufgefallen, mit welch ausgesuchter Zuvorkommenheit die Kellner den Vertreter behandelten; er verstand die Gründe, als er die fürstlichen Trinkgelder bemerkte, die jener austeilte. Cottard schien äußerst empfänglich für die Liebenswürdigkeiten, mit denen er deshalb bedacht wurde. Als der Ober eines Tages Cottard zur Tür begleitet und ihm in den Mantel geholfen hatte, sagte dieser zu Grand: «Ein netter Kerl, der kann es bezeugen.» «Was bezeugen?» Cottard zögerte. «Nun, daß ich kein schlechter Mensch bin.» Er hatte übrigens Launen. Einmal war der Krämer weniger freundlich als sonst, und Cottard war in einem Zustand maßloser Wut heimgekommen. «Er hält es mit den andern, der Hund!» wiederholte er. «Mit welchen andern?» «Mit allen.» Grand hatte sogar einem seltsamen Vorgang bei der Tabakhändlerin beigewohnt. Im Verlauf einer angeregten Unterhaltung hatte sie von einer Verhaftung gesprochen, die vor kurzer Zeit in Algier Aufsehen erregt hatte. Es handelte sich um einen jungen kaufmännischen Angestellten, der am Strand einen Araber getötet hatte. «Wenn das ganze Lumpenpack ins Gefängnis gesteckt würde», sagte die Händlerin, «dann könnten die anständigen Leute aufatmen.» Aber sie hatte abbrechen müssen, weil Cottard in plötzlicher Aufregung ohne ein Wort der Entschuldigung aus dem Laden stürzte. Grand und die Händlerin schauten ihm sprachlos nach. In der Folge hatte Grand Rieux noch über weitere Änderungen in Cottards Wesen zu berichten. Er hatte sich zum Beispiel in seinen Ansichten immer sehr freisinnig gezeigt. Sein Lieblingssatz «Die Großen fressen immer die Kleinen auf» bewies das zur Genüge. Aber seit einiger Zeit kaufte er nur noch das bürgerliche Blatt von Oran, und man konnte nicht umhin, zu glauben, daß er es mit einer gewissen Absicht besonders gern in der Öffentlichkeit las. Desgleichen hatte er wenige Tage, nachdem er zum erstenmal wieder aufgestanden war, Grand um die Freundlichkeit gebeten, wenn er doch gerade zur Post gehe, für ihn die 100 Francs einzuzahlen, die er jeden Monat an eine ferne Schwester sandte. Aber als Grand gehen wollte, fügte Cottard hinzu: «Schicken Sie ihr 200 Francs, das wird eine freudige Überraschung für sie sein. Sie meint, ich dächte nie an sie, aber in Wirklichkeit liebe ich sie sehr.» Schließlich hatte er mit Grand eine seltsame Unterhaltung. Cottard war auf die kleine Arbeit neugierig geworden, der Grand sich jeden Abend widmete, und hatte diesen gezwungen, seine Fragen zu beantworten. «Also», hatte Cottard gesagt, «Sie schreiben ein Buch.» «Sozusagen; aber die Sache ist viel verwickelter.» «Ach!» hatte Cottard ausgerufen. «So etwas möchte ich auch gern machen.» Grand hatte seine Verwunderung gezeigt, und Cottard hatte gestammelt, Künstler zu sein müsse doch vieles erleichtern. «Weshalb?» hatte Grand gefragt. «Nun, weil bekanntlich ein Künstler mehr Rechte hat als die anderen Leute. Man läßt ihm mehr durchgehen.» «Ach was», sagte Rieux zu Grand an dem Morgen, da die Verordnung erschien. «Die Rattengeschichte hat ihm wie vielen anderen den Kopf verdreht, sonst nichts. Oder vielleicht hat er Angst vor dem Fieber.» Grand erwiderte: «Ich glaube kaum, Herr Doktor, und wenn Sie meine Ansicht wissen wollen ...» Der Wagen des Entrattungsdienstes fuhr mit großem Gepolter unter ihrem Fenster vorbei. Rieux schwieg, bis er sich wieder verständlich machen konnte und bat den Angestellten dann zerstreut um seine Meinung. Der blickte ihn tiefernst an und erklärte: «Er ist ein Mensch, der sich etwas vorzuwerfen hat.» Der Arzt zuckte die Achseln. Wie der Polizeibeamte gesagt hatte, gab es größere Sorgen. Am Nachmittag hatte Rieux eine Besprechung mit Castel. Der Impfstoff traf nicht ein. «Und würde er überhaupt etwas nützen?» fragte Rieux. «Dieser Bazillus ist so merkwürdig.» «Oh!» gab Castel zurück. «Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Diese Viecher scheinen immer etwas Besonderes zu sein, aber im Grunde genommen ist es doch dasselbe.» «Sie vermuten es wenigstens. In Wirklichkeit wissen wir nichts darüber.» «Natürlich vermute ich das, aber in dieser Hinsicht geht es uns allen gleich.» Während des ganzen Tages spürte der Arzt, wie das leise Schwindelgefühl wuchs, das ihn jedesmal ergriff, wenn er an die Pest dachte. Schließlich erkannte er, daß er Angst hatte. Zweimal betrat er ein überfülltes Café. Wie Cottard hatte auch er ein Bedürfnis nach menschlicher Wärme. Rieux fand das stumpfsinnig, aber es erinnerte ihn daran, daß er dem Vertreter einen Besuch versprochen hatte. Am Abend fand der Doktor Cottard im Eßzimmer an seinem Tisch. Als er eintrat, lag ein Kriminalroman aufgeschlagen auf dem Tisch. Aber es war schon spät und gewiß kaum mehr möglich, in der beginnenden Dämmerung zu lesen. Vielmehr hatte Cottard noch vor einer Minute dasitzen und im Halbdunkel nachsinnen müssen. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Cottard setzte sich und brummte, es gehe ihm gut, und es ginge ihm noch besser, wenn er sicher sein könnte, daß sich niemand um ihn kümmere. Rieux gab ihm zu bedenken, daß man nicht immer allein bleiben könne. «Oh, ich meine nicht das. Ich spreche von den Leuten, die sich darum kümmern, einem Verdruß zu bereiten.» Rieux schwieg. «Wohlverstanden, ich spreche nicht von mir. Aber ich las in diesem Roman. Da ist so ein armer Kerl, der wird eines Morgens einfach verhaftet. Man kümmerte sich um ihn, und er wußte nichts davon. Man sprach von ihm in den Amtsstuben, man schrieb seinen Namen auf Zettel. Finden Sie das gerecht? Finden Sie, daß man das Recht hat, einem Menschen so etwas anzutun?» «Das kommt darauf an», erwiderte Rieux. «In gewisser Hinsicht hat man sicher nie das Recht dazu. Aber das alles ist nebensächlich. Sie dürfen nicht zu lange abgeschlossen leben. Sie müssen ausgehen.» Cottard schien sich aufzuregen und erklärte, er mache ja nichts anderes, und nötigenfalls könne das ganze Viertel für ihn zeugen. Selbst über sein Viertel hinaus fehle es ihm nicht an Beziehungen. «Kennen Sie Herrn Rigaud, den Architekten? Er ist ein Freund von mir.» Die Schatten im Zimmer verdichteten sich. Draußen belebte sich die Vorstadtstraße, und ein dumpfer Ausruf der Erleichterung begrüßte das Aufflammen der Straßenlaternen. Rieux trat auf den Balkon hinaus, und Cottard folgte ihm. Wie jeden Abend brachte die leichte Brise aus allen umliegenden Stadtvierteln Gemurmel, Bratenduft, das ganze fröhliche und würzige Summen der Freiheit, das allmählich die Straßen erfüllte, in die nun eine lärmende Jugend strömte. Die Nacht, das langgezogene Tuten der unsichtbaren Schiffe, das Rauschen des Meeres und der Menge, das auf und ab schwoll, die Tageszeit, die Rieux so vertraut und einst lieb war, schienen ihm heute bedrückend, weil er wußte. «Können wir anzünden?» fragte er Cottard. Als das Licht brannte, betrachtete ihn der kleine Mann mit blinzelnden Augen. «Sagen Sie mir, Herr Doktor, würden Sie mich in Ihrer Abteilung aufnehmen, falls ich eines Tages krank würde?» «Warum nicht?» Darauf erkundigte sich Cottard, ob es schon einmal vorgekommen sei, daß man einen Kranken im Spital verhaftet habe. Rieux gab zur Antwort, daß sich solches wohl schon ereignet habe, daß es aber ganz auf den Zustand des Kranken ankomme. «Ich habe Vertrauen zu Ihnen», sagte Cottard. Dann bat er den Arzt, ihn in seinem Wagen in die Stadt mitzunehmen. In der Innenstadt waren die Straßen schon weniger belebt und die Lichter seltener. Kinder spielten noch vor den Häusern. Auf Cottards Wunsch hielt der Arzt seinen Wagen vor einem Trüpplein Kinder an. Sie spielten kreischend das Himmel-und-Hölle-Spiel. Nur ein Knabe mit schwarzem, dicht anliegendem, sorgfältig gescheiteltem Haar und schmutzigem Gesicht betrachtete Rieux unablässig mit seinen hellen, einschüchternden Augen. Der Arzt wandte seinen Blick ab. Cottard stand auf dem Trottoir und schüttelte ihm die Hand. Der Vertreter sprach stoßweise, mit rauher Stimme. Zwei- oder dreimal schaute er sich um. «Die Leute reden von einer Seuche. Stimmt das, Herr Doktor?» «Die Leute reden immer. Das ist so ihre Art», antwortete Rieux. «Da haben Sie recht. Und wenn wir ein Dutzend Tote haben, wird das als Weltende betrachtet. Nein, das ist nicht, was wir brauchen.» Der Motor brummte schon. Rieux hatte die Hand auf dem Ganghebel . Aber er schaute wieder das Kind an, das ihn die ganze Zeit ernst und ruhig gemustert hatte. Und plötzlich, ohne Überlegung, lächelte ihm der Junge strahlend zu. «Was brauchen wir denn?» fragte der Arzt und lächelte zurück. Da umklammerte Cottard auf einmal den Wagenschlag, und er schrie mit tränenerstickter, wuterfüllter Stimme: «Ein Erdbeben. Ein richtiges !» Dann stürzte er davon. Es gab kein Erdbeben, und für Rieux brachte der ganze folgende Tag nichts als Besuche an allen Ecken und Enden der Stadt, Besprechungen mit den Angehörigen der Kranken und Erörterungen mit den Kranken selber. Noch nie war Rieux sein Beruf so beschwerlich erschienen. Bisher hatten ihm die Kranken seine Aufgabe erleichtert, sie hatten sich ihm überlassen. Nun fand der Arzt sie zum erstenmal widerstrebend, mit mißtrauischem Erstaunen ganz in ihre Krankheit geflüchtet. Er war dieses Ringen noch nicht gewohnt. Und als er gegen zehn Uhr abends seinen Wagen vor dem Haus des alten Asthmatikers anhielt, den er immer zuletzt besuchte, konnte er sich nur mit Mühe von seinem Sitz losreißen. Er hielt sich damit auf, die dunkle Straße und die Sterne zu betrachten, die am Nachthimmel aufleuchteten und verschwanden. Der alte Asthmatiker saß aufrecht in seinem Bett. Er schien leichter zu atmen und zählte die Kichererbsen, die er von einem Topf in den andern füllte. Er empfing den Arzt mit fröhlichem Gesicht. «Nun, Herr Doktor, ist es die Cholera?» «Woher haben Sie das ? » «Aus der Zeitung. Und im Rundfunk haben sie es auch gesagt.» «Nein, es ist nicht die Cholera.» Äußerst aufgeregt stellte der Alte fest: «Jedenfalls fahren sie grobes Geschütz auf, die hohen Herren!» «Glauben Sie das nicht», erwiderte Rieux. Er hatte den Alten untersucht und saß jetzt in der Mitte des armseligen Eßzimmers. Ja, er hatte Angst. Er wußte, daß ihn allein in dieser Vorstadt am nächsten Morgen ein Dutzend Kranke erwarten würden, alle über ihre Geschwüre gebeugt. Nur in zwei oder drei Fällen hätte das Aufschneiden der Beulen eine Besserung herbeigeführt. Aber für die meisten würde es nichts geben als das Spital, und er wußte, was das Spital für die Armen bedeutete. «Ich will nicht, daß er ihnen als Versuchskaninchen dient», hatte ihm die Frau eines Kranken gesagt. Er würde ihnen nicht als Versuchskaninchen dienen, er würde ganz einfach sterben. Die Maßnahmen waren offensichtlich unzureichend. Was die «besonders dafür eingerichteten» Säle betraf, so wußte er hinlänglich Bescheid: zwei kleine Gebäude, aus denen in aller Eile die anderen Kranken entfernt worden waren. Die Fenster waren abgedichtet worden und das Ganze ringsum durch den Gesundheitsdienst abgesperrt. Wenn die Epidemie nicht von selbst aufhörte, konnten die von den Behörden ausgedachten Vorkehrungen sie nicht eindämmen. Die amtlichen Abendnachrichten blieben indessen zuversichtlich. Am nächsten Tag meldete die Agentur Ransdoc, die Vorschriften des Präfekten seien mit Ruhe aufgenommen worden und über dreißig Kranke hätten sich bereits gemeldet. Castel hatte Rieux angerufen. «Wieviel Betten enthalten eigentlich die beiden Hilfsspitäler?» «Achtzig.» «Es gibt doch sicher dreißig Fälle in der Stadt?» «Die einen haben Angst und die anderen, die meisten, haben keine Zeit gehabt.» «Werden die Beerdigungen überwacht?» «Nein. Ich habe Richard am Telefon erklärt, daß durchgreifende Maßnahmen erforderlich sind, nicht Phrasen, und daß man eine richtige Mauer vor der Epidemie aufrichten oder gar nichts unternehmen soll.» «Und dann?» «Er hat geantwortet, er habe keine Befugnis. Ich glaube, daß sie zunehmen wird.» Nach drei Tagen waren die beiden Hilfsgebäude tatsächlich voll. Richard glaubte zu wissen, daß eine Schule geräumt und ein Hilfsspital eingerichtet werde. Rieux wartete auf den Impfstoff und schnitt die Beulen auf. Castel kehrte zu seinen alten Büchern zurück und verbrachte oft lange Zeit in der Bibliothek. «Die Ratten sind an der Pest gestorben oder an einer äußerst ähnlichen Krankheit», so lautete seine Schlußfolgerung. «Sie haben Zehntausende von Flöhen ausgesät, die die Ansteckung nach den Gesetzen einer geometrischen Reihe übertragen werden, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird.» Rieux schwieg. Das schöne Wetter schien jetzt andauern zu wollen. Die Sonne saugte die Pfützen der letzten Regenfälle auf. Ein wunderbar blauer, von goldenem Licht überfließender Himmel, Flugzeugbrummen in der ersten Hitze, alles, die ganze Jahreszeit, lud zum Frohsinn ein. Indessen machte das Fieber in vier Tagen vier überraschende Sprünge: erst 16, dann 24, 28 und 32 Tote. Am vierten Tag wurde die Eröffnung des Hilfsspitals in einem Kindergarten angekündigt. Unsere Mitbürger, die bisher ihre Besorgnis immer noch hinter Scherzworten verborgen hatten, erschienen nun auf der Straße niedergeschlagener und schweigsamer. Rieux entschloß sich, den Präfekten anzurufen. «Die Maßnahmen sind unzulänglich.» «Ja», erwiderte der Präfekt, «ich habe die Ziffern vor mir, sie sind wirklich beunruhigend.» «Sie sind mehr als beunruhigend, sie sind eindeutig.» «Ich werde die Landesregierung um Befehle bitten.» Rieux hängte ein und sagte zu Castel: «Befehle? Phantasie brauchte man.» «Und der Impfstoff?» «Er wird im Laufe der Woche eintreffen.» Durch Richard ließ die Präfektur Rieux beauftragen, ein Gutachten abzufassen, das in die Hauptstadt der Kolonie geschickt werden und als Grundlage für die verlangten Befehle dienen sollte. Rieux gab eine klinische Beschreibung und Zahlen. An demselben Tag verzeichnete man über vierzig Tote. Der Präfekt nahm es auf sich, wie er sich ausdrückte, die Vorschriften vom nächsten Tag an zu verschärfen. Der Meldezwang und die Absonderung wurden beibehalten. Die Häuser der Erkrankten mußten geschlossen und desinfiziert werden, die Angehörigen wurden einer vorsorglichen Quarantäne unterworfen, die Beerdigung von der Stadt organisiert; wie, wird man noch sehen. Einen Tag später traf der Impfstoff mit dem Flugzeug ein. Er mochte für die Behandlung der schon bekannten Fälle ausreichen. Er war aber ungenügend, wenn die Epidemie sich ausdehnen sollte. Auf sein Telegramm erhielt Rieux zur Antwort, die Vorräte seien erschöpft und die Neuherstellung habe begonnen. Unterdessen strömte aus der ganzen Umgegend der Frühling auf den Markt. In den Körben der Händler am Rande der Straßen verblühten die Rosen zu Tausenden, und ihr süßer Duft durchzog die ganze Stadt. Nichts schien verändert. Die Straßenbahnen waren zu den Stoßzeiten noch immer überfüllt, tagsüber leer und schmutzig. Tarrou beobachtete den kleinen Alten, und der kleine Alte spuckte auf die Katzen. Grand kehrte Abend für Abend zu seiner geheimnisvollen Arbeit nach Hause zurück. Cottard strich herum, und Herr Othon, der Untersuchungsrichter, leitete weiter seinen Zirkus. Der alte Asthmatiker füllte seine Erbsen um, und manchmal begegnete man dem ruhigen, teilnehmenden Gesicht des Journalisten Rambert. Die gleiche Volksmenge erfüllte am Abend die Straßen, und vor den Kinos wurden die Schlangen länger. Die Seuche schien übrigens zurückzugehen, und während einiger Tage wurden kaum mehr als zehn Tote gezählt. Dann schnellte sie plötzlich wieder in die Höhe. An dem Tag, da die Todesfälle wieder auf über dreißig gestiegen waren, las Bernard Rieux die amtliche Depesche, die der Präfekt ihm mit den Worten hinstreckte: «Sie haben Angst gekriegt.» Das Telegramm lautete: «Pestzustand erklären, Stadt schließen.» 2 Man kann sagen, daß von diesem Augenblick an die Pest uns alle betraf. Bis jetzt war jeder Bürger trotz der Überraschung und der Besorgnis, die diese merkwürdigen Ereignisse mit sich brachten, an seinem gewohnten Platz seiner Arbeit nachgegangen, so gut er konnte. Und das mußte zweifellos so bleiben. Aber als nun die Tore geschlossen waren, merkten sie, daß sie alle, auch der Erzähler, in der gleichen Falle saßen und daß sie sich damit abfinden mußten. So geschah es zum Beispiel, daß ein so urpersönliches Gefühl wie das der Trennung von einem geliebten Menschen plötzlich, und schon in den ersten Wochen, ein ganzes Volk erfüllte und zusammen mit der Angst das größte Leid dieser langen Zeit der Verbannung bildete. Eine der auffälligsten Folgen der geschlossenen Tore war in der Tat die jähe Trennung, die die Leute unvorbereitet traf. Mütter und Kinder, Ehegatten, Liebespaare, die sich vor wenigen Tagen auf kurze Zeit getrennt, die sich auf dem Bahnsteig mit zwei oder drei Ermahnungen verabschiedet hatten, in der Gewißheit, daß sie sich in ein paar Tagen oder Wochen wiedersehen würden, die sich, erfüllt vom blinden Vertrauen der Menschen, durch diese Abreise kaum von ihren gewohnten Gedankengängen ablenken ließen, sie alle waren mit einem Schlag hoffnungslos weit entfernt voneinander, unfähig, zusammenzukommen oder miteinander zu verkehren. Denn die Tore waren ein paar Stunden vor der Bekanntmachung des Präfekten geschlossen worden, und es war natürlich unmöglich, auf Einzelfälle Rücksicht zu nehmen. Man kann sagen, daß die erste Folge dieses schonungslosen Einbruchs der Krankheit unsere Mitbürger zu handeln zwang, als hätten sie keine persönlichen Gefühle. Während der ersten Stunden nach dem Inkrafttreten der Verordnung wurde die Präfektur von einem Heer von Bittstellern belagert, die telefonisch oder persönlich ihren Fall auseinandersetzten, der bei allen gleich dringlich war und gleich unberücksichtigt bleiben mußte. Wir brauchten wirklich einige Tage, ehe uns klarwurde, daß wir uns in einer ausweglosen Lage befanden, in der die Wörter «verhandeln», «Gunst», «Ausnahme» keinen Sinn mehr hatten. Sogar die leichte Befriedigung des Schreibens wurde uns versagt. Einerseits war die Stadt tatsächlich nicht mehr durch die gewöhnlichen Verkehrsmittel mit dem übrigen Land verbunden, und andererseits untersagte eine neue Verordnung jeglichen Briefwechsel, um zu verhüten, daß die Briefe zu Infektionsträgern würden. Am Anfang konnten sich einige Bevorzugte an den Stadttoren mit den Wachtposten verständigen, die einwilligten, Botschaften hinauszubefördern. Aber das war in den ersten Tagen der Seuche, in einem Augenblick, da es die Wachen natürlich fanden, einem Gefühl des Mitleids nachzugeben. Als jedoch nach einiger Zeit diese gleichen Wachen fest vom Ernst der Lage überzeugt waren, weigerten sie sich, eine Verantwortung zu übernehmen, deren Tragweite sie nicht absehen konnten. Die Ferngespräche, die anfänglich erlaubt waren, hatten eine solche Überlastung der Leitungen und der öffentlichen Sprechstellen zur Folge, daß sie nach einigen Tagen gänzlich verboten und nachher streng auf die sogenannten dringlichen Fälle wie Tod, Geburt und Hochzeit beschränkt wurden. Die Telegramme blieben nun unser einziger Ausweg. Menschen, die geistig, seelisch und körperlich verbunden waren, mußten die Zeichen dieser alten Gemeinschaft in den Druckbuchstaben einer Depesche von zehn Worten zusammensuchen. Und da die Wendungen, die in einem Telegramm zu gebrauchen sind, schnell erschöpft werden, verdichteten sich lange, gemeinsam durchlebte Jahre oder schmerzliche Leidenschaften rasch zu einem regelmäßigen Austausch stehender Redensarten wie: «Bin gesund. Denke an Dich. Alles Liebe.» Einige unter uns versteiften sich indessen aufs Schreiben; um mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, ersannen sie unablässig Mittel und Wege, die sich zum Schluß jedoch immer als trügerisch erwiesen. Auch wenn einige dieser Wege zum Ziel führten, wußten wir nichts davon, da wir keine Antwort erhielten. Wochenlang waren wir also gezwungen, unaufhörlich denselben Brief neu anzufangen, dieselben Nachrichten und dieselben Hilferufe abzuschreiben, so daß nach einiger Zeit die Worte, die zuerst mit unserem Herzblut geschrieben waren, ihren Sinn verloren. Nun wiederholten wir sie automatisch und versuchten, mit Hilfe dieser toten Sätze ein Bild unseres schweren Lebens zu zeichnen. Und schließlich schien uns ein Telegramm mit seinem überlieferten Gruß noch besser als dieses unfruchtbare und beharrliche Selbstgespräch, diese öde Unterhaltung mit einer Wand. Als es übrigens nach einigen Tagen feststand, daß es niemandem gelingen werde, die Stadt zu verlassen, warf man die Frage auf, ob es nicht möglich wäre, denjenigen die Rückkehr zu gestatten, die vor der Seuche weggegangen waren. Nach ein paar Tagen der Überlegung antwortete die Präfektur mit ja. Aber es wurde betont, daß die Heimkehrer auf gar keinen Fall wieder aus der Stadt hinaus dürften, daß es ihnen wohl freistehe zu kommen, aber nicht, wieder zu gehen. Auch jetzt nahmen ein paar wenige Familien die Angelegenheit noch auf die leichte Schulter; da ihnen der Wunsch, ihre Verwandten wiederzusehen, über alles ging, forderten sie sie auf, die Gelegenheit zu nutzen. Aber die Gefangenen der Pest begriffen sehr schnell, welcher Gefahr sie ihre Angehörigen aussetzten, und nahmen es auf sich, die Trennung zu erdulden. Als die Krankheit am schlimmsten wütete, gab es nur einen einzigen Fall, wo die menschlichen Gefühle stärker waren als die Angst vor einem qualvollen Tod. Und es handelte sich nicht, wie man eigentlich erwartet hätte, um ein Liebespaar, das die Leidenschaft über alles Elend hinweg zueinandertrieb. Es betraf den alten Dr. Castel und seine Frau, die seit vielen Jahren verheiratet waren. Einige Tage vor der Epidemie hatte sich Frau Castel in eine benachbarte Stadt begeben. Die beiden führten nicht einmal eine jener Ehen, die der Welt das Muster eines vorbildlichen Glücks vor Augen führten, und der Erzähler darf sogar sagen, daß diese Eheleute sehr wahrscheinlich früher gar nicht sicher waren, ob ihre Ehe sie befriedigte. Aber diese plötzliche und lange Trennung hatte ihnen klargemacht, daß sie nicht ohne einander leben konnten und daß neben dieser unvermutet entdeckten Wahrheit die Pest wenig Bedeutung hatte. Das war eine Ausnahme. In den meisten Fällen sollte augenscheinlich die Trennung erst mit der Epidemie ein Ende nehmen. Und das Gefühl, das unser Leben ausmachte und das wir so gut zu kennen vermeinten (die Oraner haben, wie gesagt, ungekünstelte Leidenschaften), bekam für uns alle ein neues Gesicht. Ehemänner und Liebhaber, die das größte Vertrauen in ihre Gefährtin hatten, merkten plötzlich, daß sie eifersüchtig waren. Männer, die glaubten, sie seien unbeständig, entdeckten ihre Treue. Söhne, die bei ihrer Mutter gelebt und sie kaum angesehen hatten, legten ihre ganze Besorgnis und Reue in eine Falte ihres Gesichts, das sie in der Erinnerung verfolgte. Diese grausame Trennung ohne absehbare Zukunft brachte uns aus der Fassung und lieferte uns wehrlos den Erinnerungen an jene noch so greifbar nahe und doch so ferne Gegenwart aus, die nun unsere Tage erfüllten. In Wirklichkeit litten wir doppelt - zuerst an unserem eigenen Schmerz und dann, indem wir uns in die Abwesenden hineinversetzten, in den Sohn, die Gattin oder die Geliebte. Unter anderen Umständen hätten unsere Mitbürger übrigens in einem äußerlicheren und tätigeren Leben einen Ausweg gefunden. Aber die Pest überließ sie auch dem Müßiggang, zwang sie, sich in der trüben Stadt im Kreis zu bewegen und Tag für Tag die Beute der enttäuschenden Spiele der Erinnerung zu werden. Denn ihre ziellosen Spaziergänge führten sie immer wieder durch dieselben Straßen, und da die Stadt klein ist, waren es meistens Wege, die sie zu einer anderen Zeit mit dem Abwesenden gegangen waren. So brachte die Pest unseren Mitbürgern als erstes die Verbannung. Und der Erzähler ist überzeugt, daß er hier im Namen aller berichten darf, was er selber damals empfand, da er es mit vielen unserer Mitbürger zugleich erlebte. Denn das war wirklich das Gefühl der Verbannung, jene Leere, die wir unablässig in uns trugen, diese besondere innere Unruhe, der unvernünftige Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren oder im Gegenteil die Zeit vorwärts zu treiben, diese brennenden Pfeile der Erinnerung. Wenn wir uns manchmal gehen ließen und uns vorstellten, nun werde bald ein Klingeln oder ein vertrauter Schritt im Treppenhaus die Rückkehr verkünden, wenn wir uns in diesen Augenblicken erlaubten, zu vergessen, daß keine Züge fuhren, wenn wir es so einrichteten, daß wir um die Zeit zu Hause waren, da die Reisenden des Nachtschnellzugs in unserem Viertel anlangen mochten, so konnten diese Spielereien selbstverständlich nicht lange dauern. Es kam immer der Augenblick, in dem wir uns klar bewußt wurden, daß keine Züge ankamen. Dann wußten wir, daß unsere Trennung andauern würde und daß wir versuchen mußten, mit der Zeit fertig zu werden. Damit traten wir wieder in die Reihe der Gefangenen zurück, wir waren einzig auf die Vergangenheit angewiesen, und wenn auch einige unter uns versucht waren, in der Zukunft zu leben, so verzichteten sie doch schnell darauf, wenigstens so gut sie konnten, als sie die Wunden spürten, die die Einbildung schließlich denen zufügt, die sich ihr anvertrauen. Insbesondere verzichteten alle unsere Mitbürger sehr schnell auch in der Öffentlichkeit auf die Gewohnheit, die Dauer ihrer Trennung abzuschätzen. Warum ? Wenn die größten Schwarzseher sie auf - sagen wir sechs Monate festgesetzt hatten, wenn sie im voraus die ganze Bitterkeit dieser kommenden Monate ausgekostet, ihren Mut mit großer Mühe auf die Höhe dieser Prüfung geschraubt und ihre letzten Kräfte angespannt hatten, um, ohne zu verzagen, diesem auf so viele Tage ausgedehnten Leiden gewachsen zu sein, dann kamen sie manchmal durch einen Zufallsbekannten, durch eine Zeitungsmeinung, durch einen flüchtigen Argwohn oder eine plötzliche Einsicht auf den Gedanken, schließlich sei kein Grund vorhanden, warum die Krankheit nicht länger als sechs Monate dauern sollte, vielleicht ein Jahr, vielleicht noch länger. In diesem Augenblick war der Zusammenbruch ihres Mutes, ihres Willens und ihrer Geduld so jäh, daß es ihnen schien, sie könnten nie mehr aus diesem tiefen Brunnen herauskommen. Deshalb zwangen sie sich, nie an den Zeitpunkt ihrer Erlösung zu denken, nicht mehr in die Zukunft zu schauen und sozusagen mit niedergeschlagenen Augen zu leben. Aber diese Vorsicht, diese Art, den Schmerz zu überlisten, in Deckung zu gehen, um dem Kampf auszuweichen, wurden natürlich schlecht gelohnt. Sie vermieden zwar den Zusammenbruch, dem sie um jeden Preis vorbeugen wollten, aber gleichzeitig beraubten sie sich auch der eigentlich recht häufigen Augenblicke, da sie in den Bildern ihrer kommenden Vereinigung die Pest vergessen konnten. Und so scheiterten sie zwischen Abgrund und Gipfel, schwankten mehr als sie lebten, richtungslosen Tagen und unfruchtbaren Erinnerungen preisgegeben, irrenden Schatten gleich, und hätten nur Kraft schöpfen können, wenn sie eingewilligt hätten, im Erdreich ihres Schmerzes Wurzel zu fassen. Sie empfanden so das tiefe Leiden aller Gefangenen und aller Ausgestoßenen, die mit unnützen Erinnerungen leben müssen. Selbst die Vergangenheit, an die sie ohne Unterlaß dachten, hatte nur den Geschmack der Reue. Sie hätten ihr alles hinzufügen wollen, was sie zu ihrem Leidwesen versäumt hatten, als sie es noch mit dem- oder derjenigen tun konnten, auf die sie jetzt warteten - so wie sie den Abwesenden mit allen, auch den verhältnismäßig glücklichen, Umständen ihres Gefangenenlebens verbanden und rückblickend mit sich selbst unzufrieden waren. Der Gegenwart überdrüssig, der Vergangenheit feind und ohne Zukunft, so glichen wir wahrhaft denen, die die Gerechtigkeit oder der Haß der Menschen hinter Gitterstäbe zwingt. Um dieser unerträglichen Leere zu entrinnen, blieb einem schließlich nur ein einziges Mittel: in Gedanken die Züge wieder fahren zu lassen und die Stunden immer wieder mit dem Glockenspiel einer Klingel zu erfüllen, die doch beharrlich schwieg. Aber wenn es auch die Verbannung war, so war es doch in den meisten Fällen die Verbannung bei sich zu Hause. Und obwohl der Erzähler nur diese allgemeine Verbannung erlebt hat, darf er doch die Leute wie den Journalisten Rambert und andere nicht vergessen, für die die Leiden der Trennung sich vervielfachten, weil sie auf der Reise von der Pest überrascht worden waren und nun in der Stadt festgehalten wurden und auf diese Weise von dem Menschen, mit dem sie sich nicht vereinigen konnten, und von ihrer Heimat abgeschnitten blieben. In der allgemeinen Verbannung waren sie am meisten verbannt, denn wenn die Zeit bei ihnen wie bei allen anderen auch die Beklemmung hervorrief, die ihr eigen ist, so waren sie zudem noch an den Raum gebunden und stießen unablässig an die Mauern, die ihren verpesteten Aufenthaltsort von ihrer Heimat schieden. Zweifellos waren sie es, die man zu allen Tageszeiten in der staubigen Stadt herumirren sah, wo sie wortlos ihnen allein bekannte Abende und die Morgen ihres Landes heraufbeschworen. Sie nährten ihr Heimweh mit ungreifbaren Zeichen und verwirrenden Botschaften, einem Schwalbenflug, einem Abendtau oder jenen seltsamen Strahlen, die die Sonne manchmal in den verödeten Straßen zurückläßt. Jene äußere Welt, die immer vor allem erretten kann, wollte sie nicht mehr sehen; mit der gleichen Verbohrtheit hegten sie ihre allzu wirklichen Hirngespinste, jagten mit ihrer ganzen Kraft den Bildern einer Erde nach, wo ein bestimmtes Licht, zwei oder drei Hügel, der Lieblingsbaum und Frauenantlitze ein für sie unersetzliches Ganzes schufen. Um endlich noch ausdrücklich von den Liebesleuten zu sprechen, die am anziehendsten sind und von denen zu berichten der Erzähler vielleicht besser in der Lage ist, so wurden sie noch von anderen Qualen bedrängt, unter denen man die Gewissensbisse hervorheben muß. Diese Verhältnisse erlaubten ihnen nämlich, ihre Gefühle mit einer Art fieberhafter Unvoreingenommenheit zu betrachten. Und es kam selten vor, daß ihre eigenen Fehler und Mängel ihnen bei diesem Anlaß nicht klar erschienen wären. Die erste Gelegenheit dazu fanden sie in der Mühe, die sie hatten, sich die Handlungen und Gebärden des Abwesenden genau vorzustellen. Da beklagten sie, daß sie seinen Tageslauf nicht kannten; sie machten sich ihren Leichtsinn zum Vorwurf, weil sie es versäumt hatten, sich danach zu erkundigen und vorgegeben hatten, nicht zu wissen, daß für einen Liebenden die Zeiteinteilung des geliebten Menschen die Quelle aller Freuden ist. Von dem Augenblick an war es leicht für sie, den Weg ihrer Liebe zurückzugehen und ihre Unvollkommenheiten zu prüfen. In gewöhnlichen Zeiten empfanden wir alle, bewußt oder unbewußt, daß es keine Liebe gibt, die sich nicht noch steigern kann, und doch ließen wir es mehr oder weniger gleichmütig zu, daß die unsere mittelmäßig blieb. Aber die Erinnerung ist anspruchsvoller. Und das Unglück, das von außen kam und eine ganze Stadt traf, brachte uns sehr folgerichtig mehr als nur ein ungerechtes Leiden, über das wir uns hätten empören können. Es trieb uns auch an, uns selber leiden zu machen und so in den Schmerz einzuwilligen. Das war eine der Arten, auf welche die Krankheit die Aufmerksamkeit ablenkte und Verwirrung stiftete. So mußte jeder sich darein fügen, in den Tag hinein zu leben, allein im Angesicht des Himmels. Die allgemeine Verlassenheit, die mit der Zeit die Persönlichkeiten stählen konnte, machte sie zunächst oberflächlich. Einige unserer Mitbürger wurden zum Beispiel damals Sklaven im Dienste der Sonne und des Regens. Ihrem Verhalten nach schienen sie zum erstenmal den unmittelbaren Eindruck des Wetters zu empfangen. Bei einem einfachen Strahl goldenen Lichtes erhellte sich ihr Gesicht, während sich an Regentagen ein dichter Schleier über ihr Antlitz und ihre Gedanken legte. Noch vor wenigen Wochen entgingen sie dieser Schwäche und dieser unvernünftigen Knechtschaft, weil sie der Welt nicht allein gegenüberstanden und sich in gewissem Maß der Mensch, mit dem sie lebten, vor ihr Universum stellte. Von nun an waren sie im Gegenteil den Launen des Himmels ausgeliefert, das heißt, daß sie ohne Grund litten und hofften. In dieser äußersten Einsamkeit konnte niemand auf die Hilfe des Nachbarn zählen, und jeder blieb mit seinen Gedanken allein. Wenn einer von uns zufällig versuchte, aus sich herauszugehen und etwas von seinen Gefühlen zu verraten, so war die Antwort, die er erhielt, fast stets verletzend, gleichgültig, wie immer sie ausfiel. Er merkte dann, daß sie aneinander vorbeiredeten. Er wollte nämlich ausdrücken, was in endlosen Tagen des Grübeins und Leidens in ihm gereift war, und das Bild, das er zu vermitteln suchte, war lange im Feuer des Wartens und der Leidenschaft geglüht worden. Der andere indessen stellte sich eine der üblichen Empfindungen vor, den Schmerz, wie man ihn auf dem Markt verkauft, eine schablonenhafte Schwermut. Die Antwort mochte wohlwollend oder feindselig ausfallen, sie traf immer daneben, man mußte darauf verzichten. Die aber das Schweigen nicht ertrugen, fügten sich wenigstens darein, die Marktsprache zu gebrauchen, da die anderen die wahre Sprache des Herzens nicht fanden, und nun verwendeten auch sie die herkömmlichen Redensarten, die Sprache der einfachen Berichterstattung und der vermischten Nachrichten, der täglichen Chronik gewissermaßen. Die zutiefst gefühlten Schmerzen wurden meistens in den nichtssagenden Ausdrucksformeln der Unterhaltung wiedergegeben. Nur so erlangten die Gefangenen der Pest das Mitgefühl des Hauswarts oder die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer. So schmerzlich diese Bedrängnis auch war, so schwer das doch leere Herz auch sein mochte, so ist es dennoch sehr wichtig, zu sagen, daß in dieser ersten Periode der Pest diese Verbannten noch Bevorzugte waren. Denn im Augenblick, da die Bevölkerung anfing, die Beherrschung zu verlieren, waren ihre Gedanken ausschließlich auf den Menschen gerichtet, den sie erwarteten. In der allgemeinen Verzweiflung schützte sie die Selbstsucht der Liebe: wenn sie an die Pest dachten, so geschah es immer nur in dem Maße, als sie mit der Trennung auf ewig drohte. So boten sie auch inmitten der Seuche ein Bild heilsamer Zerstreutheit, und man war versucht, sie als Kaltblütigkeit anzusehen. Ihre Hoffnungslosigkeit rettete sie vor der Panik, ihr Unglück hatte auch sein Gutes. Wenn einer von ihnen zum Beispiel von der Krankheit dahingerafft wurde, so geschah es fast immer, ohne daß er Zeit hatte, es zu merken. Ohne Übergang wurde er aus diesem langen, inneren Gespräch mit einem Schatten herausgerissen und in das tiefe Schweigen der Erde geworfen. Er hatte zu nichts mehr Zeit gehabt. Während unsere Mitbürger versuchten, sich an die plötzliche Verbannung zu gewöhnen, stellte die Pest Wachen an die Tore und leitete die Schiffe, die Oran anlaufen wollten, nach anderen Häfen um. Seit die Stadt geschlossen wurde, war kein einziges Fahrzeug mehr hereingekommen. Von diesem Tag an hatte man den Eindruck, die Autos begännen im Kreis herumzufahren. Auch der Hafen bot denen, die ihn von den Boulevards aus betrachteten, ein seltsames Bild. Die gewohnte Belebtheit, die ihn zu einem der wichtigsten Häfen der Küste machte, war mit einem Schlag erloschen. Man sah nur noch ein paar Schiffe, die in Quarantäne lagen. Aber in den Hafenanlagen zeugten die verlassenen Krane, die auf die Seite gestürzten Kippwagen, die Stapel Fässer oder Säcke davon, daß auch der Handel an der Pest gestorben war. Trotz dieses ungewohnten Schauspiels hatten unsere Mitbürger offenkundig Mühe zu begreifen, was ihnen zustieß. Es gab wohl gemeinsame Gefühle, wie die Trennung oder die Angst, doch wurden auch weiterhin die eigenen Angelegenheiten am wichtigsten genommen. Noch niemand hatte die Krankheit wirklich anerkannt. Die meisten waren hauptsächlich empfindlich für alles, was sie in ihren Gewohnheiten störte oder ihren Vorteil bedrohte. Dadurch wurden sie gereizt oder aufgebracht, und das sind keine Gefühle, die man der Pest entgegenhalten könnte. So war zum Beispiel ihr erster Gedanke, die Verwaltung zu beschuldigen. Diese von der Presse aufgegriffenen Kritiken («Könnte man keine Lockerung der vorgesehenen Maßnahmen vorsehen?») erhielten vom Präfekten eine recht unerwartete Antwort. Bisher waren die Statistiken weder den Zeitungen noch der Agentur Ransdoc amtlich mitgeteilt worden. Nun übermittelte sie der Präfekt Tag für Tag an die Agentur mit der Bitte um wöchentliche Bekanntgabe. Jedoch auch jetzt war keine unmittelbare Wirkung auf die Öffentlichkeit festzustellen. Die Meldung, daß die dritte Pestwoche 302 Tote gekostet habe, sprach die Einbildungskraft nicht an. Einerseits waren vielleicht gar nicht alle an der Pest gestorben, und andererseits wußte in der Stadt niemand genau, wieviel Leute in gewöhnlichen Zeiten jede Woche starben. Die Stadt hatte zweihunderttausend Einwohner. Niemand wußte, ob diese Anzahl Todesfälle den normalen Verhältnissen entsprach. Das gehört gerade zu jener Art genauer Feststellungen, um die man sich nie kümmert, obwohl sie von offensichtlicher Bedeutung sind. Irgendwie fehlte es den Leuten an Vergleichsmöglichkeiten. Die Wahrheit wurde der öffentlichen Meinung nur langsam bewußt, während sie die Vermehrung der Todesfälle feststellte. In der fünften Woche betrug die Zahl der Toten nämlich 321 und in der sechsten 345. Diese Zunahme redete wenigstens eine deutliche Sprache. Aber sie war nicht stark genug, unsere Mitbürger daran zu hindern, mitten in ihrer Besorgnis den Eindruck zu bewahren, daß es sich um einen zweifellos ärgerlichen, aber schließlich doch nur vorübergehenden Zwischenfall handle. Also fuhren sie fort, in den Straßen zu verkehren und sich an den Tischen vor den Cafés niederzulassen. Im allgemeinen waren sie nicht feige, wechselten mehr Scherzworte als Klagen und gaben vor, die Unannehmlichkeiten, die ja nur von kurzer Dauer sein konnten, mit gutem Humor zu ertragen. Der Schein blieb gewahrt. Gegen Ende des Monats jedoch, ungefähr während der Betwoche, von der später die Rede sein wird, veränderten tiefergreifende Wandlungen das Aussehen unserer Stadt. Zunächst traf der Präfekt Maßnahmen, die den Fahrzeugverkehr und die Ernährung betrafen. Die Lebensmittel und der Treibstoff wurden rationiert. Es wurden sogar Einsparungen im Elektrizitätsverbrauch vorgeschrieben. Nur die unentbehrlichsten Güter gelangten auf dem Land- und Luftwege nach Oran. So sah man, wie der Verkehr abnahm und allmählich fast völlig aufhörte, wie Luxusgeschäfte ihre Pforten von einem Tag auf den andern schlössen. Wieder andere Läden stellten in ihren Auslagen Listen der fehlenden Waren auf, während die Käufer vor den Eingängen Schlange standen. Das verlieh Oran ein seltsames Aussehen. Die Zahl der Fußgänger stieg beträchtlich, und selbst während der ruhigsten Tageszeit belebten viele Leute die Straßen und Cafés, weil sie durch die Schließung der Läden oder einzelner Betriebe zur Untätigkeit gezwungen wurden. Für den Augenblick waren sie noch nicht arbeitslos, sondern im Urlaub. Damals erweckte Oran zum Beispiel nachmittags gegen drei Uhr und bei schönem Wetter den trügerischen Eindruck einer Stadt, die ein Fest begeht, die den Verkehr angehalten und die Läden geschlossen hat, um eine öffentliche Kundgebung zu ermöglichen, während die Einwohner sich auf die Straße begeben, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. Selbstverständlich schlugen die Kinos Vorteil aus diesen allgemeinen Ferien und machten große Geschäfte. Aber der Kreislauf, den die Filme innerhalb des Departements einzuhalten pflegten, war unterbrochen. Nach zwei Wochen waren die Unternehmer gezwungen, ihre Programme untereinander auszutauschen, und einige Zeit später führte jedes Kino ständig den gleichen Film vor. Trotzdem gingen die Einnahmen nicht zurück. Die Cafés schließlich konnten die Gäste weiterhin bedienen, weil die Vorräte in einer hauptsächlich auf Wein- und Spirituosenhandel eingestellten Stadt beträchtlich waren. Um die Wahrheit zu sagen: man trank viel. Nachdem eine Weinstube angeschlagen hatte: «Der edlen Reben Saft bricht der Mikroben Kraft», verstärkte sich die allgemeine, den Leuten schon längst vertraute Auffassung, daß der Alkohol vor ansteckenden Krankheiten schütze. Jede Nacht, gegen zwei Uhr morgens, wurde ein beträchtlicher Schwarm Betrunkener aus den Weinstuben geworfen und ergoß sich unter optimistischen Bemerkungen in die Straßen. Aber in gewissem Sinne waren alle diese Veränderungen so außergewöhnlich und so plötzlich eingetreten, daß es nicht leicht fiel, sie als normal und dauerhaft zu betrachten. Das Ergebnis war, daß wir fortfuhren, unsere persönlichen Empfindungen in den Vordergrund zu stellen. Zwei Tage, nachdem die Stadt geschlossen worden war, stieß Dr. Rieux beim Verlassen des Spitals auf Cottard, dessen Gesicht vor Zufriedenheit glänzte. Rieux beglückwünschte ihn zu seinem guten Aussehen, und der kleine Mann sagte: «Ja, es geht mir ganz ausgezeichnet. Ja, Herr Doktor, diese verfluchte Pest! Es scheint wirklich ernst zu werden.» Der Arzt gab das zu. Und der andere stellte mit einer gewissen Heiterkeit fest: «Ich sehe keinen Grund, warum sie jetzt aufhören sollte. Alles wird drunter und drüber gehen.» Sie gingen ein Weilchen Seite an Seite. Cottard erzählte, ein reicher Delikatessenhändler seines Viertels habe Lager von Lebensmitteln angelegt, um sie zu überhöhten Preisen zu verkaufen, und es seien Konservenbüchsen unter seinem Bett gefunden worden, als man ihn ins Spital holte. «Dort ist er gestorben. Die Pest, die macht sich nicht bezahlt.» Cottard wußte zahllose wahre und erfundene Geschichten über die Pest zu erzählen. Man sagte zum Beispiel, eines Morgens sei in der Innenstadt ein von der Krankheit gezeichneter Mann im Delirium auf die Straße gestürzt, habe sich auf die erste beste Frau geworfen, sie umarmt und dazu geschrien, er habe die Pest. «Schön», bemerkte Cottard, «wir werden noch alle verrückt, das ist sicher.» Und sein freundlicher Ton paßte gar nicht zu seiner Behauptung. Desgleichen, noch am selben Nachmittag, hatte Grand sich dazu entschlossen, sich Dr. Rieux anzuvertrauen. Er hatte auf dem Schreibtisch eine Fotografie von Frau Rieux bemerkt und den Arzt fragend angeschaut. Rieux antwortete, seine Frau weile außerhalb der Stadt zur Kur, und Grand sagte: «In gewisser Hinsicht ist das ein Glück.» Der Doktor erwiderte, es sei sicher ein Glück, und man müsse nur hoffen, daß seine Frau gesund werde. «Ah», sagte Grand, «ich verstehe.» Und zum erstenmal, seit Rieux ihn kannte, begann er ausführlich zu erzählen. Obwohl er auch jetzt noch seine Worte suchen mußte, gelang es ihm fast immer, sie zu finden, als habe er schon seit langem über das nachgedacht, was er jetzt vorbrachte. Er hatte sich sehr früh mit einem blutjungen, armen Mädchen aus seiner Nachbarschaft verheiratet. Um zu heiraten, hatte er sogar seine Studien abgebrochen und eine Stelle angenommen. Jeanne und er entfernten sich nie aus ihrem Viertel. Er besuchte Jeanne bei ihren Eltern, die sich ein wenig über diesen schweigsamen, linkischen Bewerber lustig machten. Der Vater war Eisenbahner. Während seiner Freizeit pflegte er still in einer Ecke am Fenster zu sitzen und nachdenklich das Treiben auf der Straße zu betrachten, während er seine riesigen Hände auf die Schenkel stützte. Die Mutter war ständig mit der Haushaltung beschäftigt, und Jeanne half ihr dabei. Das junge Mädchen war so zart, daß Grand sie nie ohne ein Gefühl der Angst die Straße überqueren sah. Die Fahrzeuge erschienen ihm dann immer ungeheuer groß. Einmal standen sie vor einem weihnachtlichen Schaufenster. Jeanne hatte mit staunender Bewunderung die Auslagen betrachtet, sich ihm plötzlich zugeneigt und gesagt: «Wie wunderbar!» Er hatte ihr Handgelenk gedrückt. So war die Heirat beschlossen worden. Nach Grands Bericht war der Schluß der Geschichte sehr einfach. Es geht allen Leuten gleich: man heiratet, man liebt noch ein wenig, man arbeitet. Man arbeitet so viel, daß man das Lieben darüber vergißt. Jeanne arbeitete ebenfalls, da die Versprechen des Vorgesetzten nicht eingehalten worden waren. Hier mußte man die Phantasie ein bißchen zu Hilfe nehmen, um zu verstehen, was Grand sagen wollte. Unter der Einwirkung der Müdigkeit hatte er sich gehenlassen, sich mehr und mehr ausgeschwiegen und seine junge Frau nicht in ihrem Glauben bestärkt, daß sie geliebt werde. Ein Mann, der arbeitet, die Armut, die sich langsam verschließende Zukunft, das Schweigen der Abende am Familientisch - in solch einer Welt war kein Platz für die Leidenschaft. Wahrscheinlich hatte Jeanne gelitten. Dennoch war sie geblieben: es kommt vor, daß man lange leidet, ohne es zu wissen. Jahre waren verflossen. Später war sie fortgegangen. Natürlich nicht allein. «Ich habe Dich sehr geliebt, aber nun bin ich müde ... Es macht mich nicht glücklich, fortzugehen, aber man braucht ja nicht glücklich zu sein, um neu anzufangen.» So ungefähr hatte sie ihm geschrieben. Joseph Grand hatte seinerseits gelitten. Er hätte neu anfangen können, wie Rieux es ihm riet. Aber er hatte nun einmal kein Vertrauen. Ganz einfach, weil er immer noch an sie dachte. Er hätte ihr einen Brief schreiben wollen, um sich zu rechtfertigen. «Aber das ist schwer», sagte er. «Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken. Solange wir uns liebhatten, verstanden wir uns ohne Worte. Aber man hat sich nicht ewig lieb. Der Augenblick kam, da ich das Wort hätte finden sollen, das sie zurückgehalten hätte. Aber ich habe es nicht vermocht.» Grand schneuzte sich in ein kariertes Tuch. Dann wischte er sich den Schnurrbart ab. Rieux betrachtete ihn. «Entschuldigen Sie mich, Herr Doktor», sagte der Alte. «Aber wie soll ich sagen . . .? Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Mit Ihnen kann ich reden. Das bewegt mich dann innerlich.» Grand war mit seinen Gedanken offensichtlich tausend Meilen von der Pest entfernt. Am Abend telegrafierte Rieux seiner Frau, die Stadt sei geschlossen, es gehe ihm gut, sie müsse weiter für ihre Gesundheit Sorge tragen, und er denke an sie. Drei Wochen nach der Abriegelung der Stadt traf Rieux am Ausgang des Spitals einen jungen Mann, der auf ihn wartete und ihn mit den Worten ansprach: «Ich vermute, daß Sie mich wiedererkennen.» Rieux glaubte ihn zu kennen, doch zögerte er. «Ich bin vor diesen Ereignissen zu Ihnen gekommen», fing der andere wieder an, «um Sie über die Lebensbedingungen der Araber um Auskunft zu bitten. Mein Name ist Raymond Rambert.» «Ach natürlich!» sagte Rieux. «Nun, jetzt haben Sie ja ein schönes Thema für einen Bericht.» Der andere schien erregt. Er erklärte, es handle sich nicht darum, sondern er sei gekommen, um Dr. Rieux um einen Gefallen zu bitten. Und er fügte hinzu: «Es tut mir leid, aber ich kenne niemand in dieser Stadt, und der hiesige Mitarbeiter meiner Zeitung hat das Unglück, schwachsinnig zu sein.» Rieux schlug vor, er solle ihn bis zu einer Poliklinik der Innenstadt begleiten, da er dort ein paar Anordnungen treffen müsse. Sie gingen die Gassen des Negerviertels hinab. Der Abend nahte. Aber die früher um diese Zeit so laute Stadt erschien seltsam verlassen. Ein paar Trompetenstöße unter dem noch goldenen Himmel zeugten allein davon, daß die Soldaten vorgaben, sie gingen ihrem Beruf nach. Während sie durch die steilen Straßen zwischen den blauen, braungelben und violetten Wänden der maurischen Häuser dahinschritten, sprach Rambert in großer Erregung. Er hatte seine Frau in Paris gelassen. Das heißt, sie war eigentlich nicht seine Frau, aber es kam auf das gleiche heraus. Er hatte ihr sofort gekabelt, als die Stadt geschlossen wurde. Zuerst hatte er geglaubt, es handle sich um ein vorübergehendes Ereignis, und hatte nur versucht, schriftlich mit ihr in Verbindung zu bleiben. Seine Kollegen in Oran hatten ihm zu verstehen gegeben, daß sie nichts unternehmen könnten. Die Post hatte ihn abgewiesen, und eine Sekretärin auf der Präfektur hatte ihn rundweg ausgelacht. Nach zweistündigem Schlangestehen hatte er es schließlich erreicht, daß ein Telegramm angenommen wurde, in dem er schrieb: «Alles in Ordnung. Bis bald.» Aber am Morgen beim Aufstehen war ihm plötzlich eingefallen, daß er ja eigentlich gar nicht wußte, wie lange das dauern konnte. Er hatte beschlossen, abzureisen. Da er gute Empfehlungen hatte (in seinem Beruf genießt man Erleichterungen), konnte er an einen Abteilungsvorsteher der Präfektur gelangen und ihm klarmachen, daß er keine Beziehung zu Oran habe, nicht hier zu bleiben gedenke, nur zufällig hierhergeraten sei, und daß es deshalb nur gerecht wäre, wenn man ihm erlaubte, fortzugehen, selbst wenn er sich nach Verlassen der Stadt einer Quarantäne unterziehen müßte. Der Vorsteher hatte ihm versichert, er begreife ihn sehr gut, doch könne man keine Ausnahmen machen. Er werde sich seiner annehmen, aber die Lage sei eben sehr ernst, und man könne nichts mit Bestimmtheit sagen. «Aber», hatte Rambert eingeworfen, «schließlich bin ich doch fremd in dieser Stadt.» «Gewiß, aber wir wollen nur hoffen, daß die Seuche nicht lange dauert.» Endlich hatte er versucht, Rambert zu trösten, indem er ihm vor Augen hielt, daß er in Oran den Stoff zu einer Anzahl spannender Berichte finden könne und daß, genaugenommen, jedes Geschehen auch sein Gutes habe. Rambert zuckte die Achseln. Sie erreichten die Innenstadt. «Es ist stumpfsinnig, verstehen Sie, Herr Doktor? Ich bin nicht in die Welt gesetzt worden, um Berichte zu schreiben. Aber vielleicht bin ich in die Welt gesetzt worden, um mit einer Frau zu leben. Ist das nicht natürlich?» Rieux sagte, daß es auf jeden Fall vernünftig scheine. Auf den Boulevards der Innenstadt sah man nicht die gewöhnliche Menschenmenge. Einige Fußgänger strebten in großer Eile fernen Behausungen zu. Keiner lächelte. Rieux dachte, dies sei die Folge der Ransdoc-Meldung, die an diesem Tag erschienen war. Nach 24 Stunden begannen unsere Mitbürger immer wieder zu hoffen. Aber am Tag selber hafteten die Zahlen noch zu frisch im Gedächtnis. Unvermittelt fing Rambert wieder an. «Es ist nämlich so, daß wir uns erst seit kurzem kennen und uns gut verstehen.» Rieux schwieg. «Aber ich langweile Sie», fuhr Rambert fort. «Ich wollte Sie bloß fragen, ob Sie mir nicht bescheinigen könnten, daß ich diese verdammte Krankheit nicht habe. Ich glaube, das würde mir nützen.» Rieux nickte zustimmend. Er fing einen kleinen Jungen auf, der ihm vor die Beine gelaufen war, und stellte ihn sorgfältig wieder auf die Füße. Sie gingen weiter und gelangten auf den Waffenplatz. Grau, staubbedeckt und unbeweglich hingen die Zweige der Feigenbäume und Palmen um ein verstaubtes, schmutziges Standbild der Republik. Unter dem Denkmal blieben sie stehen. Rieux klopfte seine weißlich überzogenen Schuhe am Boden ab. Er blickte Rambert an. Mit seinem leicht ins Genick geschobenen Filzhut, dem unter der Halsbinde aufgeknöpften Hemd und dem unrasierten Bart sah der Zeitungsmann eigensinnig und verdrossen aus. «Ich versichere Ihnen, daß ich Sie verstehe», sagte Rieux schließlich. «Aber Ihre Überlegungen sind unrichtig. Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir sogar in diesem Fall unmöglich wäre, zu bestätigen, daß Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur Präfektur gehen. Und selbst wenn ...» «Und selbst wenn?» fragte Rambert. «Und selbst wenn ich Ihnen dies Zeugnis gäbe, würde es Ihnen nichts helfen.» «Warum nicht?» «Weil in dieser Stadt Tausende in Ihrer Lage sind und man sie doch nicht fortgehen lassen kann.» «Aber wenn sie selbst die Pest nicht haben?» «Das ist kein genügender Grund. Ich weiß wohl, daß diese Geschichte unsinnig ist, aber sie betrifft uns alle. Man muß sie nehmen, wie sie ist.» «Aber ich bin doch nicht von hier!» «Leider werden Sie von jetzt an von hier sein wie alle anderen auch.» Rambert eiferte: «Ich schwöre Ihnen, es ist eine Frage der Menschlichkeit. Vielleicht machen Sie sich nicht klar, was eine Trennung wie die gegenwärtige für zwei Menschen bedeutet, die sich gut verstehen.» Rieux antwortete nicht sogleich. Dann sagte er, er glaube, sich darüber klar zu sein. Er wünsche von ganzem Herzen, daß Rambert seine Frau wiederfinde und daß alle Liebenden vereint würden; aber es gebe Erlasse und Gesetze, es gebe die Pest; seine Aufgabe bestehe darin, zu tun, was notwendig sei. «Nein», sagte Rambert bitter, «Sie können nicht verstehen. Sie reden die Sprache der Vernunft, Sie sind in der Abstraktion.» Der Arzt hob die Augen zur Republik und sagte, er wisse nicht, ob er die Sprache der Vernunft rede, doch sei es wohl die Sprache der Tatsachen, und das sei nicht unbedingt das gleiche. Der Journalist rückte seinen Schlips zurecht und antwortete: «Das heißt also, daß ich mich anders durchschlagen muß? Jedenfalls werde ich diese Stadt verlassen», fügte er fast herausfordernd hinzu. Der Arzt sagte, er verstehe auch das, aber es gehe ihn nichts an. «Doch, es geht Sie an», erklärte Rambert mit plötzlicher Heftigkeit. «Ich bin zu Ihnen gekommen, weil mir gesagt wurde, daß Sie die Verordnungen weitgehend mitbestimmt haben. Da habe ich gedacht, daß Sie wenigstens für einmal das lösen könnten, was Sie knüpfen halfen. Aber das ist Ihnen gleichgültig. Sie haben an niemand gedacht. Sie haben nicht mit denen gerechnet, die getrennt waren.» Rieux gab zu, daß dies in gewissem Sinne wahr sei, er habe nicht damit rechnen wollen. «Aha», sagte Rambert, «ich verstehe. Sie wollen vom Dienst an der Öffentlichkeit sprechen. Aber das Wohl des Volkes setzt sich aus dem Glück der einzelnen Bürger zusammen.» «Hören Sie», sagte der Arzt, der aus seiner Gedankenverlorenheit zu erwachen schien, «es gibt außerdem noch etwas anderes. Man darf nicht richten. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie böse werden. Wenn Sie aus dieser Sache herauskommen, werde ich sehr glücklich sein. Nur gibt es eben Dinge, die mein Amt mir untersagt.» Der andere schüttelte ungeduldig den Kopf. «Gewiß, ich habe unrecht, mich zu ärgern. Und zudem habe ich Sie gerade lange genug aufgehalten.» Rieux bat, er möge ihn über seine Schritte auf dem laufenden halten und keinen Groll gegen ihn hegen. Es gebe sicher eine Ebene, auf der sie sich finden könnten. Rambert schien betroffen und sagte nach einem Schweigen: «Ich glaube es, ja, ich glaube es, ohne es zu wollen und trotz allem, was Sie mir gesagt haben.» Er zögerte: «Aber ich kann Ihnen nicht beipflichten.» Er drückte seinen Hut in die Stirn und entfernte sich mit raschen Schritten. Rieux sah ihn das Hotel betreten, das Jean Tarrou bewohnte. Nach einem Augenblick schüttelte der Arzt den Kopf. Rambert hatte recht mit seinem ungeduldigen Verlangen nach Glück. Aber hatte er auch recht, wenn er ihn anklagte? «Sie leben in der Abstraktion.» War das wirklich die Abstraktion, all die Tage, die er im Spital verbrachte, wo die Pest immer gefräßiger wurde und jede Woche durchschnittlich fünfhundert Opfer forderte ? Ja, es gab in dem Elend einen Teil Abstraktion und Unwirklichkeit. Aber wenn die Abstraktion anfängt, einen zu töten, dann muß man sich wohl oder übel mit ihr beschäftigen. Und Rieux wußte nur, daß es nicht leicht war. Es war zum Beispiel nicht leicht, das Hilfsspital (es gab jetzt deren drei) zu leiten, das ihm unterstellt worden war. Er hatte einen Raum, der an das Untersuchungszimmer grenzte, als Aufnahmezimmer einrichten lassen. Auf dem ausgehobenen Boden bildete die Kresollösung einen See, in dessen Mitte sich eine kleine Backsteininsel befand. Der Kranke wurde auf seine Insel getragen und rasch ausgezogen, während seine Kleider ins Wasser fielen. Dann wurde er gewaschen, abgetrocknet, mit dem groben Spitalhemd bekleidet, von Rieux übernommen und schließlich in einen der Säle gebracht. Man hatte sich gezwungen gesehen, die Nebengebäude einer Schule zu verwenden; sie enthielten nun insgesamt fünfhundert Betten, die fast alle belegt waren. Am Morgen leitete Rieux selbst die Aufnahme der Kranken, impfte sie, schnitt die Beulen auf, überprüfte noch die Statistik und empfing dann am Nachmittag die Patienten, die ihn aufsuchten. Am Abend machte er schließlich seine Besuche und kehrte spät in der Nacht zurück. Am Vorabend hatte Dr. Rieux' Mutter ihm ein Telegramm seiner Frau hingestreckt und dabei bemerkt, wie seine Hände zitterten. «Ja», sagte er, «aber wenn ich nicht nachgebe, werde ich weniger nervös.» Er war kräftig und widerstandsfähig. Und er war auch tatsächlich noch nicht ermüdet. Aber diese Besuche zum Beispiel, die wurden ihm unerträglich. Das Pestfieber feststellen hieß, den Kranken rasch abholen lassen. Dann begann allerdings die Abstraktion und die Schwierigkeit, denn die Angehörigen wußten, daß sie den Kranken nur geheilt oder tot wiedersehen würden. «Erbarmen, Herr Doktor!» sagte Frau Loret, die Mutter des Zimmermädchens aus Tarrous Hotel. Was hieß das? Natürlich hatte er Erbarmen. Aber das brachte niemand weiter. Man mußte telefonieren. Bald darauf ertönte das Bimmeln des Krankenwagens. Im Anfang öffneten die Nachbarn ihre Fenster und schauten zu. Später schlossen sie sie hastig. Dann begannen die Kämpfe, die Tränen, die Überredung, mit einem Wort: die Abstraktion. In diesen von Fieber und Todesangst überhitzten Wohnungen spielten sich Szenen des Irrsinns ab. Aber der Kranke wurde fortgetragen. Rieux konnte gehen. Die ersten Male hatte er sich auf das Bestellen des Krankenwagens beschränkt und war, ohne auf ihn zu warten, zu anderen Kranken geeilt. Aber die Angehörigen hatten inzwischen die Tür verschlossen und zogen die Nähe der Pest einer Trennung vor, deren Ausgang sie jetzt kannten. Schreie, ausdrückliche Befehle, Eingreifen der Polizei und später der Soldaten, der Kranke wurde im Sturm genommen. Während der ersten Wochen war Rieux gezwungen, bis zum Eintreffen des Krankenwagens dazubleiben. Dann, als jeder Arzt auf seinen Besuchen von einem freiwilligen Aufsichtsbeamten begleitet wurde, konnte Rieux wieder von einem Kranken zum andern eilen. Aber in der ersten Zeit war jeder Abend wie jener, an dem er die kleine, mit Fächern und künstlichen Blumen geschmückte Wohnung von Frau Loret betrat, die ihn gezwungen lächelnd mit den Worten empfing: «Ich hoffe sehr, daß es nicht das Fieber ist, von dem alle Leute sprechen.» Er aber schlug Bettuch und Hemd zurück und betrachtete schweigend die roten Flecken auf Bauch und Schenkeln und die Schwellungen der Lymphdrüsen. Die Mutter schaute auf die Innenflächen der Beine ihrer Tochter und schrie auf, ohne sich beherrschen zu können. Jeden Abend heulten Mütter so, mit abwesender Miene, vor Körpern, die sich mit all ihren Todesmalen darboten; jeden Abend wurden Rieux' Arme umklammert, überstürzten sich nutzlose Worte, Versprechen, Weinen; jeden Abend lösten die Glocken der Krankenwagen Anfälle aus, die gleich vergeblich waren wie jeder Schmerz. Und nach dieser langen Folge stets gleicher Abende konnte Rieux nichts anderes erhoffen als eine lange Folge derselben Auftritte, die sich unendlich oft wiederholen würden. Ja, die Pest war eintönig wie die Abstraktion. Es gab vielleicht nur etwas, das sich änderte: Rieux selbst. Er empfand dies an jenem Abend am Fuße des Standbildes der Republik; er war sich nur noch jener schwer erringbaren Gleichgültigkeit bewußt, die ihn zu erfüllen begann, während er unverwandt auf den Hoteleingang starrte, in dem Rambert verschwunden war. Nach diesen aufreibenden Wochen, nach all den Abenddämmerungen, da die Stadt in die Straßen strömte, um sich dort im Kreis zu bewegen, verstand Rieux, daß er sich nicht mehr gegen das Mitleid wehren mußte. Man wird des Mitleids müde, wenn das Mitleid nutzlos ist. Zu fühlen, wie sein Herz sich allmählich in sich selbst verschloß, brachte Dr. Rieux während jener erdrückenden Tage die einzige Linderung. Er wußte, daß ihm dadurch seine Aufgabe erleichtert wurde. Deshalb freute er sich darüber. Als Rieux' Mutter ihn um zwei Uhr morgens empfing und über die Leere seines Blicks betrübt war, beklagte sie ausgerechnet die einzige Hilfe, die ihm in diesem Augenblick zuteil werden konnte. Um gegen die Abstraktion kämpfen zu können, muß man ihr ein wenig gleichen. Aber wie hätte Rambert das nachfühlen sollen? Für Rambert war alles Abstraktion, was sich seinem Glück in den Weg stellte. Und in Wahrheit wußte Rieux, daß der Journalist in gewissem Sinne recht hatte. Er wußte aber auch, daß die Abstraktion sich manchmal stärker zeigt als das Glück und daß man dann, und nur dann, mit ihr rechnen muß. Das sollte auch Rambert erfahren, und der Arzt konnte es in allen Einzelheiten aus dem entnehmen, was ihm Rambert später anvertraute. So konnte er auf einem neuen Gebiet den trostlosen Kampf verfolgen, der zwischen dem Glück jedes einzelnen Menschen und den Abstraktionen der Pest ausgetragen wurde und der während dieser langen Zeit das ganze Leben unserer Stadt ausmachte. Aber da, wo die einen Abstraktion sahen, sahen die anderen Wahrheit. Das Ende des ersten Pestmonats wurde nämlich verdüstert durch eine deutliche Verschlimmerung der Seuche und eine heftige Predigt des Jesuitenpaters Paneloux, der damals dem alten Michel beim Ausbruch seiner Krankheit beigestanden war. Pater Paneloux hatte sich durch seine häufige Mitarbeit an der Zeitschrift der geographischen Gesellschaft von Oran ausgezeichnet, in der seine Rekonstruktionen von Inschriften hohes Ansehen genossen. Er hatte sich jedoch mit einer Reihe von Vorträgen über den modernen Individualismus eine größere Zuhörerschaft erworben, als sie ein Spezialist gewöhnlich findet. Er hatte leidenschaftlich ein anspruchsvolles Christentum gefordert, das von der modernen Freidenkerei so entfernt sein sollte wie vom Obskurantismus der vergangenen Jahrhunderte. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich nicht gescheut, seinen Zuhörern einige bittere Wahrheiten zu sagen. Daher sein Ruf. Nun beschlossen gegen Ende dieses Monats die Kirchenbehörden unserer Stadt, mit ihren Mitteln gegen die Pest zu kämpfen und eine Woche des gemeinschaftlichen Gebetes durchzuführen. Diese Kundgebungen der öffentlichen Frömmigkeit sollten am Sonntag mit einer feierlichen Messe zu Ehren des Pestheiligen St. Rochus ihren Abschluß finden. Man hatte Pater Paneloux gebeten, bei diesem Anlaß das Wort zu ergreifen. Seit vierzehn Tagen hatte sich dieser von seinen Arbeiten über Augustinus und die afrikanische Kirche losgerissen, dank denen er in seinem Orden eine Sonderstellung einnahm. Heftig und leidenschaftlich, wie er war, hatte er die ihm übertragene Aufgabe entschlossen angenommen. Schon lange vorher wurde in der Stadt von jener Predigt gesprochen, die auf ihre Weise einen wichtigen Tag in der Geschichte dieser Zeit bedeutete. Die Gebetswoche wurde von vielen Leuten besucht. Nicht etwa, daß für gewöhnlich die Einwohner von Oran besonders fromm gewesen wären. Am Sonntagmorgen zum Beispiel machten die Meerbäder der Messe ernsthaft Konkurrenz. Es war auch nicht so, daß eine plötzliche Bekehrung sie erleuchtet hätte. Aber einerseits war die Stadt geschlossen und der Hafen verboten und damit das Baden unmöglich, und andererseits befanden sie sich in einem ganz besonderen Geisteszustand, in dem sie genau spürten, daß sich etwas verändert hatte, obwohl sie sich im innersten Herzen die überraschenden Ereignisse, die sie trafen, noch nicht eingestanden. Viele hofften indessen, die Seuche werde aufhören und sie und die ihren verschonen. Infolgedessen fühlten sie sich noch zu nichts verpflichtet. Die Pest war für sie bloß ein unangenehmer Besuch, der eines Tages auch wieder fortgehen mußte, wie er gekommen war. Sie waren erschreckt, aber nicht verzweifelt, und der Zeitpunkt war noch nicht erreicht, da sie in der Pest ihre eigentliche Lebensform erblicken und ihr bisheriges Dasein vergessen würden. Kurz, sie warteten. Hinsichtlich der Religion wie vieler anderer Probleme flößte die Pest ihnen eine merkwürdige Geisteshaltung ein, die weder Gleichgültigkeit noch Leidenschaft kannte und die sehr gut mit dem Wort «Unvoreingenommenheit» bezeichnet werden kann. Von den Leuten, die die Gebetswoche mitmachten, hätten zum Beispiel die meisten dem Gedanken beigestimmt, den ein Gläubiger Dr. Rieux gegenüber äußerte: «Auf jeden Fall schadet es nicht.» Tarrou verzeichnete in seinem Tagebuch zuerst, daß die Chinesen bei einer solchen Gelegenheit vor dem Genius der Pest Tamburin spielen und bemerkte dann, man könne ganz unmöglich wissen, ob das Tamburin wirksamer sei als die Vorbeugungsmaßnahmen. Er fügte nur hinzu: um das zu entscheiden, müßte man die Gewißheit haben, daß es einen Pestgenius gebe, und unsere Ungewißheit in diesem Punkt machte jede Erörterung unfruchtbar. Auf alle Fälle war unsere Kathedrale während der ganzen Woche beinahe voll besetzt. In den ersten Tagen blieben noch viele Bewohner in den Anlagen von Palmen und Granatbäumen, die an den Vorhof grenzen, um von dort aus der Brandung der Anrufungen und Gebete zuzuhören, die bis auf die Straße hinausdrangen. Nach und nach entschlossen sich die gleichen Zuhörer, dem Beispiel der anderen zu folgen, einzutreten und schüchtern in den Antwortgesang der Gemeinde einzustimmen. Und am Sonntag füllte eine beträchtliche Menschenmenge das Kirchenschiff, drang bis in den Vorhof und stand noch auf den obersten Treppenstufen. Seit dem Vorabend hatte sich der Himmel überzogen, und es regnete in Strömen. Die draußen Stehenden hatten die Regenschirme aufgespannt. Ein Geruch von Weihrauch und feuchtem Stoff schwebte in der Kirche, als Pater Paneloux die Kanzel bestieg. Er war mittelgroß, aber stämmig. Als er sich auf die Brüstung der Kanzel stützte und mit seinen derben Händen das Holz umschloß, sah man nur seine massige schwarze Gestalt, aus der seine hochroten Wangen unter einer Stahlbrille wie zwei Farbflecke hervorstachen. Er hatte eine kräftige, leidenschaftliche, weittragende Stimme, und die Gemeinde wurde bis auf den Vorhof hinaus von einem Schauer durchdrungen, als er sie mit einem einzigen, heftigen, hämmernden Satz ansprach: «Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient.» Was folgte, schien logisch nicht zu diesem pathetischen Anfang zu passen. Erst im weiteren Verlauf begriffen unsere Mitbürger, daß der Pater mit einem geschickten rednerischen Vorgehen in einem Satz wie mit einem Keulenschlag das Thema der ganzen Predigt ausgedrückt hatte. Paneloux las nämlich sogleich nach diesem Anfang den Text über den Auszug aus dem von der Pest heimgesuchten Ägypten und sagte: «Das erste Mal erscheint diese Geißel in der Geschichte, um die Feinde Gottes zu strafen. Pharao widersetzt sich den Absichten des Ewigen, und die Pest zwingt ihn in die Knie. Seit allem Anfang der Geschichte wirft die Geißel Gottes die Hochmütigen und die Verblendeten zu seinen Füßen nieder. Bedenket das und fallt auf die Knie.» Draußen strömte der Regen mit erneuter Heftigkeit nieder, und das Prasseln an den Fenstern verstärkte noch das Schweigen, in das dieser letzte Satz hineinfiel; er ertönte mit solchem Widerhall, daß nach einer Sekunde des Zögerns einige Zuhörer sich vom Stuhl auf den Betschemel gleiten ließen. Andere glaubten, sie müßten ihrem Beispiel folgen, so daß, ohne ein anderes Geräusch als das Krachen einiger Stühle, bald die ganze Gemeinde kniete. Da richtete sich Paneloux auf, atmete tief und fuhr immer eindringlicher fort: «Wenn euch heute die Pest anschaut, so deshalb, weil der Augenblick des Nachdenkens gekommen ist. Die Gerechten brauchen sich nicht davor zu fürchten, aber die Bösen haben Ursache zu zittern. In der unermeßlichen Scheuer des Weltalls wird der unerbittliche Dreschflegel das menschliche Korn dreschen, bis die Spreu vom Weizen geschieden ist. Es wird mehr Spreu geben als Weizen, mehr Berufene als Auserwählte, und dieses Unglück ist nicht von Gott gewollt. Zu lange hat diese Welt sich mit dem Bösen vertragen, zu lange hat sie sich auf das göttliche Erbarmen verlassen. Man mußte nur bereuen, dann war alles erlaubt. Und jeder war seiner Reue sicher. Wenn es darauf ankam, würde man sie gewiß empfinden. Bis dahin war es am einfachsten, wenn man sich gehen ließ, das Göttliche Erbarmen würde schon für das Übrige sorgen. Nun, das konnte nicht so weitergehen. Gott hat so lange sein Antlitz des Mitleids den Menschen dieser Stadt zugekehrt; jetzt hat er, des Wartens müde, enttäuscht in seiner ewigen Hoffnung, seinen Blick abgewandt. Des göttlichen Lichtes beraubt, sind wir jetzt für lange Zeit in die Finsternis der Pest gestürzt!» Jemand schnaubte wie ein ungeduldiges Pferd. Nach einer kurzen Pause fuhr der Pater leiser fort: «In der Goldenen Legende steht, daß zur Zeit des Königs Humbert die Lombardei von einer so heftigen Pest verwüstet wurde, daß es kaum genug Lebende gab, um die Toten zu bestatten; und diese Pest wütete hauptsächlich in Rom und in Pavia, und ein guter Engel erschien sichtbarlich und gab dem bösen Engel, der einen Jagdspieß trug, Anweisungen und befahl ihm, an die Häuser zu schlagen, und so viele Schläge ein Haus erhielt, so viele Tote wurden hinausgetragen.» Hier streckte Paneloux seine beiden kurzen Arme zum Vorhof aus, als zeige er auf etwas hinter dem schwanken Vorhang des Regens. «Liebe Brüder», sagte er kraftvoll, «heute wird die gleiche tödliche Jagd in unseren Straßen gejagt. Schaut ihn, diesen Pestengel, schön wie Luzifer und strahlend wie das Böse selber. Er steht über euren Dächern, seine Rechte hält den roten Spieß erhoben, und mit der Linken deutet er auf eines eurer Häuser. Vielleicht reckt er den Finger in diesem Augenblick gegen eure Tür, der Spieß erdröhnt auf dem Holz; in dem Augenblick tritt die Pest bei euch ein, setzt sich in euer Zimmer und wartet auf eure Rückkehr. Da sitzt sie, aufmerksam und geduldig, so sicher wie die Ordnung der Welt. Keine Macht der Erde und, merkt es wohl, nicht einmal die eitle Wissenschaft der Menschen kann verhüten, daß ihr die Hand ergreift, die sie euch hinhält. Und auf der blutigen Tenne des Schmerzes gedroschen, werdet ihr zur Spreu geworfen werden.» An dieser Stelle nahm der Pater das pathetische Bild des Dreschflegels wieder auf und malte es noch weiter aus. Er zeichnete das ungeheure Stück Holz, das über der Stadt wirbelte, blind zuschlug und blutbefleckt weiterdrehte und endlich das Blut und den Schmerz der Menschen ausstreute «für Saaten, die die Ernte der Wahrheit vorbereiten». Nach diesem langen Teil hielt Pater Paneloux inne; die Haare fielen ihm in die Stirn, das Zittern seines Körpers pflanzte sich in die Hände und in die Kanzel fort; dumpfer, aber in anklagendem Ton fuhr er fort: «Ja, die Zeit der Besinnung ist gekommen. Ihr habt geglaubt, wenn ihr Gott am Sonntag einen Besuch machtet, genüge das, um die übrigen Tage frei zu sein. Ihr habt gedacht, ein paar Kniebeugen entschädigten ihn wohl für eure verbrecherische Sorglosigkeit. Aber Gott ist nicht lau. Diese seltenen Bezeigungen waren nicht genug für seine verzehrende Liebe. Er wollte euch länger sehen; das ist seine Art, euch zu lieben, und in Wahrheit ist es die einzige Art zu lieben. Nun ist er es müde geworden, auf euer Kommen zu warten, darum läßt er die Geißel euch heimsuchen, wie er alle sündigen Städte heimgesucht hat, seitdem die Menschen eine Geschichte haben. Ihr wißt jetzt, was die Sünde ist, wie Kain und seine Söhne es gewußt haben, wie die Menschen vor der Sintflut, wie die in Sodom und Gomorra, wie Pharao und wie Hiob und auch wie alle Verdammten. Und wie alle diese schaut ihr mit neuen Augen auf die Menschen und die Dinge seit dem Tag, da diese Stadt ihre Mauern um euch und die Heimsuchung geschlossen hat. Jetzt endlich wißt ihr, daß es um das Letzte geht.» Ein feuchter Wind fing sich nun im Kirchenschiff, und die Kerzenflammen neigten sich knisternd. Ein dichter Wachsgeruch, Husten, Niesen stiegen zu Pater Paneloux empor; dieser kam mit einer von vielen geschätzten Eleganz auf seine Ausführungen zurück: «Ich weiß, daß viele unter euch sich fragen, wo ich hinaus will. Ich will euch zur Wahrheit bringen und euch lehren, euch zu freuen, trotz allem, was ich gesagt habe. Die Zeit ist vorüber, da gute Ratschläge oder eine brüderliche Hand die Mittel waren, mit denen ihr auf den rechten Weg zu führen seid. Heute ist die Wahrheit ein Befehl. Und ein roter Spieß zeigt euch den Weg des Heils und stößt euch darauf. Hier, liebe Brüder, wird endlich das göttliche Erbarmen offenbar, das in jedes Ding das Gute und das Böse legt, den Zorn und das Mitleid, die Pest und das Heil. Sogar die Geißel, die euch martert, erhebt euch noch und zeigt euch den Weg. Vor langer Zeit sahen die Christen Abessiniens in der Pest ein wirksames, gottgesandtes Mittel, um in die Ewigkeit zu gelangen. Diejenigen, die nicht angesteckt waren, wickelten sich in die Bettlaken der Pestkranken, um ganz sicher zu sterben. Zweifellos ist diese Heilssucht nicht zu empfehlen. Sie verrät eine bedauerliche Überstürzung, die an Hochmut grenzt. Man darf es nicht eiliger haben als Gott, und alles, was die unveränderliche Ordnung, die er ein für allemal festgesetzt hat, beschleunigen will, führt zur Ketzerei. Aber dieses Beispiel birgt wenigstens eine Lehre. Für uns, die wir klarer sehen, läßt es einfach jenen wunderbaren Schein der Ewigkeit hervortreten, der auf dem Grund jedes Leides ruht. Dieser Schein erhellt die dämmerigen Wege, die zur Erlösung führen. Er offenbart den göttlichen Willen, der ohne Unterlaß das Böse in Gutes verwandelt. Auch heute noch führt er uns auf diesen Pfaden von Tod, Angst und Gezeter der letzten Stille und dem Urquell allen Lebens entgegen. Liebe Brüder, darin liegt der unermeßliche Trost, den ich euch bringen wollte, damit ihr nicht nur Züchtigung von hinnen traget, sondern auch ein Wort der Linderung.» Man spürte, daß Paneloux geendet hatte. Draußen hatte der Regen aufgehört. Ein Himmel aus Wasser und Sonne verströmte ein verjüngtes Licht auf den Platz. Auf der Straße ertönten Stimmenlärm, das Gleiten von Fahrzeugen, alle Geräusche einer erwachenden Stadt. Mit gedämpfter Unruhe rafften die Zuhörer verstohlen ihre Siebensachen zusammen. Der Pater ergriff jedoch das Wort noch einmal und sagte, nachdem er den göttlichen Ursprung der Pest und die strafende Absicht der Heimsuchung aufgezeigt habe, sei er fertig und wolle in einer so tragischen Angelegenheit keine unangebrachte Beredsamkeit entfalten. Es scheine ihm, es müsse allen alles klar sein. Er erinnerte nur daran, daß anläßlich der großen Pest von Marseille der Chronist Matthias Marais sich beklagt habe, er müsse in der Hölle leben, so ohne Hilfe und ohne Hoffnung. Nun gut! Matthias Marais war blind! Pater Paneloux hatte im Gegenteil nie mehr als heute die göttliche Hilfe und die christliche Hoffnung gespürt, die allen dargeboten wurden. Er hoffte gegen jede Hoffnung, daß trotz des Entsetzens dieser Tage und der Schreie der Sterbenden unsere Mitbürger das einzige Wort an den Himmel richten würden, das christlich und deshalb ein Wort der Liebe sei. Gott werde das übrige tun. Ob diese Predigt unsere Mitbürger beeinflußte, ist schwer zu sagen. Der Untersuchungsrichter, Herr Othon, erklärte Dr. Rieux, er habe die Ausführungen von Pater Paneloux «absolut unwiderlegbar» gefunden. Aber nicht alle waren so entschiedener Meinung. Immerhin verhalf die Predigt einigen zur Klärung des bisher verschwommenen Eindrucks, daß sie eines unbekannten Verbrechens wegen zu einer unvorstellbaren Gefangenschaft verurteilt waren. Und während die einen ihr kleines Leben weiterlebten und sich der Einkerkerung anpaßten, begann der Gedanke an Flucht aus diesem Gefängnis andere völlig zu beherrschen. Zuerst hatten die Leute ihre Abschließung von der Außenwelt hingenommen, wie sie jede andere vorübergehende Belästigung hingenommen hätten, die sie nur in einigen ihrer Gewohnheiten störte. Aber plötzlich wurden sie sich einer Art Einsperrung bewußt, und unter der Glocke des Himmels, in dem der Sommer zu knistern anfing, spürten sie verworren, daß diese Abgeschnittenheit ihr ganzes Leben bedrohte. Die Willenskraft, die sie in der Abendkühle zurückgewannen, trieb sie manchmal zu Verzweiflungstaten. Zuallererst, sei es nun Zufall oder nicht, war von diesem Sonntag an eine Art Angst in unserer Stadt ziemlich allgemein und so groß, daß man annehmen mußte, unsere Mitbürger würden sich nun wirklich ihrer Lage bewußt. Von diesem Gesichtspunkt aus veränderte sich die Stimmung in der Stadt ein wenig. Aber die Frage ist, ob diese Wandlung in Wahrheit nur die äußere Stimmung betraf oder ob sie sich in den Herzen vollzog. Ein paar Tage nach der Predigt war Rieux mit Grand unterwegs zur Vorstadt und besprach mit ihm dieses Ereignis. In der Dunkelheit stieß er plötzlich an einen Mann, der vor ihnen herumschlenkerte, ohne den Versuch zu machen, vorwärtszukommen. Im selben Augenblick erstrahlten plötzlich die Straßenlampen, die man nun gern später anzündete. Die Laterne hinter den Spaziergängern beleuchtete jäh den Mann, der lautlos mit geschlossenen Augen lachte. Auf seinem weißlichen Gesicht, das von dieser stummen Heiterkeit verzerrt wurde, perlten große Schweißtropfen. Sie gingen vorüber. «Ein Verrückter», sagte Grand. Rieux, der den Arm des Angestellten ergriffen hatte, um ihn weiterzuziehen, fühlte, wie er vor Aufregung zitterte. «Bald wird es in dieser Stadt überhaupt nur noch Verrückte geben», bemerkte Rieux. Seine Müdigkeit trug dazu bei, daß er das Gefühl hatte, seine Kehle sei ausgetrocknet. «Trinken wir etwas.» In dem kleinen Café, das sie betraten und das von einer einzigen Lampe über dem Schanktisch erleuchtet wurde, herrschte eine dicke, rötliche Luft, und die Leute sprachen ohne ersichtlichen Grund mit unterdrückter Stimme. Zur Überraschung des Arztes bestellte Grand an der Theke einen Schnaps, den er in einem Zug hinuntertrank und als stark bezeichnete. Dann wollte er gehen. Draußen schien es Rieux, die Nacht sei von Stöhnen erfüllt. Ein dumpfes Pfeifen über den Laternen am schwarzen Himmel erinnerte ihn an den unsichtbaren Dreschflegel, der unermüdlich die heiße Luft durchwirbelte. «Zum Glück, zum Glück», sagte Grand. Rieux fragte sich, was er wohl meine. «Zum Glück», sagte der andere, «habe ich meine Arbeit.» «Ja», sagte Rieux, «das ist ein Vorteil.» Und entschlossen, nicht auf das Pfeifen zu hören, fragte er Grand, ob er von dieser Arbeit befriedigt sei. «Nun, ich glaube, ich bin auf dem rechten Weg.» «Bleibt Ihnen noch viel zu tun?» Grand schien sich zu beleben, die Wärme des Alkohols verriet sich in seiner Stimme. «Ich weiß nicht. Aber es handelt sich nicht darum, Herr Doktor, nein, darum handelt es sich nicht.» Rieux erriet in der Finsternis, daß der andere die Arme heftig bewegte. Er schien etwas vorzubereiten, das dann mit jäher Beredsamkeit aus ihm herausbrach: «Sehen Sie, Herr Doktor, was ich will ist folgendes: am Tag, da das Manuskript zum Verleger kommt, soll der nach dem Lesen aufstehen und zu seinen Mitarbeitern sagen: » Diese unverhoffte Erklärung überraschte Rieux. Es war ihm, als mache sein Begleiter die Gebärde des Hutabnehmens: er hob die Hand zum Kopf und streckte dann den Arm waagrecht aus. Das merkwürdige Pfeifen oben schien mit erneuter Kraft anzuschwellen. «Jawohl», sagte Grand, «vollkommen muß es sein.» Obschon Rieux über die literarischen Gebräuche wenig Bescheid wußte, hatte er doch den Eindruck, es gehe nicht so einfach zu, und die Verleger säßen zum Beispiel barhäuptig in ihren Arbeitsräumen. Aber schließlich konnte man nie wissen, und Rieux zog es vor zu schweigen. Gegen seinen Willen horchte er auf die geheimnisvollen Geräusche der Pest. Die beiden Männer näherten sich Grands Viertel, und da es ein wenig höher lag, erfrischte sie eine leichte Brise, die gleichzeitig auch die Stadt von all ihrem Lärm säuberte. Grand sprach indessen immer weiter, doch erfaßte Rieux nicht alles, was er sagte. Er verstand bloß, daß das betreffende Werk schon zahlreiche Seiten umfaßte, daß es aber seinem Autor viel Mühe und Schmerzen bereite, es zur Vollkommenheit zu erheben. «Ganze Abende, ganze Wochen für ein einziges Wort . . . und manchmal ein einfaches Bindewort.» An dieser Stelle hielt Grand inne und packte den Arzt bei einem Mantelknopf. Die Worte holperten aus seinem beinahe zahnlosen Mund. «Verstehen Sie mich wohl, Herr Doktor. Zur Not ist es ziemlich leicht, zwischen und zu wählen. Schwieriger wird es schon bei und . Und noch schlimmer ist es mit und . Aber das allerschwerste ist ganz sicher, zu entscheiden, ob man setzen darf oder nicht.» «Aha», sagte Rieux, «ich verstehe.» Und er ging weiter. Der andere schien verwirrt und eilte ihm nach. «Verzeihen Sie mir», stammelte er. «Ich weiß gar nicht, was heute abend mit mir los ist.» Rieux klopfte ihm leicht auf die Schulter und sagte, er möchte ihm helfen, seine Geschichte interessiere ihn sehr. Der andere schien wieder etwas erleichtert, und vor dem Haus angelangt, bat er den Arzt mit leichtem Zögern, noch einen Augenblick hinaufzukommen. Rieux nahm an. Grand lud ihn ein, im Eßzimmer am Tisch Platz zu nehmen, auf dem zahllose, mit winziger Schrift bedeckte Blätter lagen, auf denen es von Streichungen wimmelte. «Ja, das ist es», sagte Grand auf den fragenden Blick des Arztes. «Aber wollen Sie nicht etwas trinken? Ich habe ein bißchen Wein.» Rieux lehnte ab. Er schaute die Blätter an. «Schauen Sie nicht hin», sagte Grand. «Das ist mein erster Satz. Er macht mir Mühe, viel Mühe.» Er betrachtete ebenfalls all diese Blätter, und seine Hand schien unwiderstehlich von einem Papier angezogen, das er schließlich vor die schirmlose elektrische Birne hielt. Das Blatt zitterte in seiner Hand. Rieux bemerkte, daß die Stirn des Angestellten feucht war. «Setzen Sie sich und lesen Sie mir vor», sagte er. Der andere blickte auf und lächelte irgendwie dankbar. «Ja», sagte er, «ich glaube, ich habe Lust dazu.» Er wartete ein bißchen, schaute immer noch das Blatt an, dann setzte er sich. Rieux hörte gleichzeitig auf eine Art verworrenes Brausen, das in der Stadt dem Pfeifen des Dreschflegels zu antworten schien. In diesem Augenblick nahm er mit außerordentlicher Deutlichkeit die Stadt wahr, die sich zu seinen Füßen ausdehnte; er sah die abgeschlossene Welt, die sie bildete, und er hörte die entsetzlichen Schreie, die sie in der Nacht erstickte. Grands Stimme erhob sich gedämpft: «An einem schönen Morgen des Monats Mai durchritt eine elegante Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.» Die Stille kam zurück und mit ihr der undeutliche Lärm der leidenden Stadt. Grand hatte das Blatt niedergelegt und fuhr fort, es zu betrachten. Nach einer Weile hob er die Augen. «Was halten Sie davon?» Rieux antwortete, dieser Anfang mache ihn auf die Fortsetzung neugierig. Aber der andere sagte lebhaft, das sei nicht der richtige Standpunkt. Er schlug mit der flachen Hand auf die Papiere. «Das ist nur eine Andeutung. Wenn ich es fertiggebracht habe, das Bild, das mir vorschwebt, vollkommen wiederzugeben, wenn mein Satz an sich die Gangart dieses Spazierrittes ausdrückt, eins zwei drei, eins zwei drei, dann wird alles übrige leichter, und vor allem wird der Eindruck von Anfang an so sein, daß man sagen kann: » Aber damit hatte es noch gute Weile. Nie würde er den Satz in dieser Form dem Drucker überlassen. Denn er sei sich trotz der Befriedigung, die er ihm manchmal gewähre, klar, daß er noch nicht an die Wirklichkeit herankomme. In gewissem Grad besitze dieser Satz sogar einen zu leichten Ton, der zwar von ferne, aber doch, an eine Schablone erinnere. Das war wenigstens der Sinn seiner Worte, als sie Menschen unter dem Fenster vorbeilaufen hörten. Rieux stand auf. «Sie werden sehen, was ich daraus mache», sagte Grand; und gegen das Fenster gewendet fügte er hinzu: «Wenn das alles einmal fertig ist!» Aber wieder ertönte der Lärm überstürzter Schritte. Rieux stieg schon die Treppe hinab, und als er auf der Straße war, überholten ihn zwei Männer. Sie gingen offenbar in Richtung auf die Stadttore. Es hatten nämlich einige unserer Mitbürger über der Hitze und der Pest den Kopf verloren, sich zu Gewalttaten hinreißen lassen und versucht, die Aufmerksamkeit der Wachen zu täuschen, um aus der Stadt zu fliehen. Andere, wie Rambert, versuchten ebenfalls, aus dieser Stimmung beginnender Panik zu entfliehen. Aber sie taten es mit größerer Zähigkeit und mehr Geschick, wenn auch nicht mit mehr Erfolg. Rambert hatte zunächst seine offiziellen Schritte fortgesetzt. Wie er sagte, hatte er immer gedacht, Beharrlichkeit führe schließlich zum Ziel, und von einem gewissen Standpunkt aus war es sein Beruf, sich durchzuschlagen. Er hatte also eine große Menge Beamte und andere Leute besucht, deren Zuständigkeit für gewöhnlich unbestritten war. Aber im vorliegenden Fall nützte ihnen ihre Zuständigkeit nichts. Es waren meistens Männer, die genaue und wohlgeordnete Kenntnisse hatten in allem, was das Bankwesen oder die Ausfuhr oder die Südfrüchte oder den Weinhandel betraf; die unzweifelhaft in den Problemen der Verwaltungsstreitigkeiten oder Versicherungen bewandert waren, ganz abgesehen von ihren gewichtigen Diplomen und einem offensichtlichen guten Willen. Das war sogar bei allen am auffälligsten: dieser gute Wille. Aber über die Pest wußten sie so gut wie nichts. Dennoch hatte Rambert vor jedem von ihnen und jedesmal, wenn es möglich war, seine Sache vertreten. Sein Hauptgrund war immer der, daß er fremd war in unserer Stadt und daß sein Fall deshalb gesondert zu prüfen sei. Im allgemeinen gaben die Leute das gern zu. Aber meistens hielten sie ihm vor Augen, daß sich noch einige andere Menschen in dieser Lage befänden und daß infolgedessen seine Angelegenheit nicht so einzig dastehe, wie er es sich vorstelle. Rambert konnte erwidern, daß sich damit an seiner Beweisführung nichts ändere, worauf er zur Antwort erhielt, es ändere aber etwas an den verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die sich jeder Ausnahmebehandlung entgegenstellten, da man Gefahr laufe, damit einen Präzedenzfall zu schaffen, und diesen Ausdruck gebrauchte man nur mit großem Widerwillen. Nach der Einteilung, die Rambert Dr. Rieux vorschlug, gehörte diese Art Klügler zu der Klasse der Formalisten. Außer ihnen gab es noch die Schönredner, die dem Bittsteller versicherten, das alles könne nicht lange dauern, die, wenn man Entscheidungen verlangte, von guten Ratschlägen troffen und Rambert mit der bündigen Erklärung trösteten, es handle sich nur um eine vorübergehende Unannehmlichkeit. Dann gab es die Wichtigtuer, die den Besucher baten, seinen Fall schriftlich zusammenzufassen und die ihm mitteilten, sie würden über eben diesen Fall beschließen; die Leichtfertigen, die ihm Übernachtungsgutscheine oder Adressen billiger Pensionen anboten; die Planmäßigen, die einen Zettel ausfüllen ließen, den sie nachher einordneten; die Überbeanspruchten, die die Arme gen Himmel warfen, und jene Belästigten, die ihre Augen abwandten; schließlich traf man am häufigsten die üblichen Beamten, die Rambert an ein anderes Büro wiesen oder ihm einen neuen Schritt empfahlen. So hatte sich der Journalist in Besuchen ausgegeben und eine richtige Vorstellung von dem bekommen, was ein Rathaus oder eine Präfektur sein mochte; so lange hatte er auf Plüschbänken vor großen Anschlägen warten müssen, die einen aufforderten, steuerfreie, gut verzinste Staatsanleihen zu zeichnen oder sich in die Kolonialarmee anwerben zu lassen; so oft war er in Amtsräume eingetreten, wo Angestellte saßen, deren Gesichter ebenso leicht vorauszusehen waren wie die Ordner und die Gestelle von Aktenstöße. Rambert bemerkte mit einem Anflug von Bitterkeit zu Rieux, der einzige Vorteil sei gewesen, daß ihm dies alles die wirkliche Lage verschleiert habe. Die Fortschritte der Pest entgingen ihm fast ganz. Und außerdem verflogen die Tage so schneller, und bei den Verhältnissen, in denen sich die ganze Stadt befand, konnte man sagen, daß jeder vergangene Tag jeden Menschen dem Ende seiner Prüfung näher brachte, vorausgesetzt, daß er nicht vorher starb. Rieux mußte die Richtigkeit dieses Standpunkts zugeben, fand aber, diese Wahrheit sei doch ein bißchen zu allgemein gefaßt. Einmal schöpfte Rambert Hoffnung. Von der Präfektur hatte er einen Schein erhalten, mit der Bitte, ihn genau auszufüllen. Dieses Formular fragte nach seinen Personalien, seinem Zivilstand, seinem früheren und gegenwärtigen Einkommen und nach dem, was man sein curriculum vitae nannte. Er bekam den Eindruck, es handle sich um eine Umfrage, die festzustellen suchte, wie viele Leute man an ihren Wohnort zurückschicken könnte. Ein paar undeutliche Angaben bestätigten diesen Eindruck. Aber nach einigen genauen Erkundigungen konnte er die Stelle herausfinden, die ihm den Zettel geschickt hatte, und dort erklärte man ihm, man habe diese Angaben gebraucht «für den Fall». «Für welchen Fall?» fragte Rambert. Man setzte ihm auseinander, es sei für den Fall, daß er pestkrank werde und sterbe, damit man einerseits seine Angehörigen benachrichtigen könne und andererseits wisse, ob die Stadt die Spitalkosten bezahlen müsse oder ob mit einer Rückzahlung durch die Familie gerechnet werden könne. Das bewies natürlich, daß er nicht vollständig von der Frau getrennt war, die auf ihn wartete, da die Gesellschaft sich immerhin mit ihnen befaßte. Aber das war kein Trost. Bemerkenswerter, und Rambert bemerkte es infolgedessen, war die Art, wie inmitten einer Katastrophe ein Amt seinen Dienst weiterhin versehen und oft ohne Wissen der vorgesetzten Behörde Schritte aus einer anderen Zeit unternehmen konnte, aus dem einfachen Grund, weil es für diesen Dienst da war. Die folgende Zeit war für Rambert am leichtesten und am schwersten zugleich. Es war eine Zeit der Erschlaffung. Er war auf allen Büros gewesen, hatte alle Schritte unternommen, für den Augenblick waren nach dieser Seite hin alle Möglichkeiten erschöpft. Nun irrte er von Café zu Café. Er setzte sich am Morgen auf die Terrasse, bestellte ein Glas lauwarmes Bier, las die Zeitung in der Hoffnung, ein paar Anzeichen des nahen Endes der Krankheit zu finden, schaute den Vorübergehenden ins Gesicht, wandte sich angewidert von ihrem traurigen Ausdruck ab, und nachdem er zum hundertstenmal die Aushängeschilder der gegenüberliegenden Geschäfte, die Reklame der großen, schon nicht mehr erhältlichen Apéritifmarken gesehen hatte, stand er auf und wanderte ziellos durch die gelben Straßen der Stadt. So vertauschte er einsame Spaziergänge mit Cafés und Cafés mit Weinstuben, bis es langsam Abend wurde. Rieux sah ihn gerade eines Abends zögernd vor der Tür eines Cafés stehen. Dann schien er sich zu entschließen, trat ein und setzte sich ganz hinten hin. Es war um die Zeit, da in den Restaurants auf höheren Befehl der Augenblick des Lichtanzündens so lange wie möglich hinausgeschoben wurde. Die Dämmerung durchflutete den Raum wie graues Wasser, das Rosa des Abendhimmels spiegelte sich in den Scheiben, und die Marmorplatten der Tische schimmerten schwach in der beginnenden Dunkelheit. Inmitten des leeren Saals erschien Rambert wie ein verlorener Schatten, und Rieux dachte, dies sei die Stunde seiner Verzagtheit. Aber es war auch der Augenblick, da alle die Gefangenen dieser Stadt die ihre fühlten, und man mußte etwas tun, um die Befreiung zu beschleunigen. Rieux wandte sich ab. Rambert verbrachte auch viel Zeit im Bahnhof. Der Zugang zu den Bahnsteigen war untersagt. Aber die Wartesäle, die von außen zu betreten waren, blieben geöffnet, und weil sie schattig und kühl waren, ließen sich an heißen Tagen manchmal Bettler darin nieder. Rambert kam und las alte Fahrpläne, die Schilder, die das Spucken verboten, und die bahnpolizeilichen Vorschriften. Dann setzte er sich in eine Ecke. Der Raum war düster. Ein alter, gußeiserner Ofen kühlte seit Monaten ab, während der Boden ringsum die achterförmigen Spuren des Besprengens aufwies. An der Wand lockten ein paar Plakate zu einem glücklichen und freien Leben in Cannes oder Bandol. Rambert rührte hier an jene entsetzliche Freiheit, die in der tiefsten Verarmung zu finden ist. Nach dem, was er Rieux erzählte, waren die Bilder, die er damals am schwersten ertrug, die von Paris. Eine Landschaft von alten Steinen und Wasser, die Tauben des Palais Royal, der Nordbahnhof, die menschenleeren Viertel ums Panthéon und ein paar andere Orte in einer Stadt, von der er nicht gewußt hatte, daß er sie so liebte, verfolgten ihn, setzten ihn außerstande, etwas Bestimmtes zu unternehmen. Rieux dachte nur, er setze diese Bilder an die Stelle seiner Liebe. Und am Tag, da Rambert ihm sagte, er erwache gern morgens um vier Uhr, um an seine Stadt zu denken, fiel es dem Arzt aus seiner eigenen Erfahrung heraus nicht schwer, zu merken, daß er dann an die Frau dachte, die er zurückgelassen hatte. Denn das war die Stunde, da er sie fassen konnte. Bis vier Uhr morgens tut man gewöhnlich nichts, man schläft, selbst wenn es die Nacht eines Verrats war. Ja, man schläft um diese Zeit, und das ist tröstlich, weil der große Wunsch eines unruhigen Herzens darin besteht, den geliebten Menschen unaufhörlich zu besitzen oder ihn, wenn die Zeit der Trennung gekommen ist, in einen traumlosen Schlaf zu tauchen, der sein Ende erst am Tag der Wiedervereinigung fände. Kurz nach der Predigt begann die große Hitze. Der Monat Juni ging zu Ende. Am Tag nach dem verspäteten Regen, der den Predigtsonntag gekennzeichnet hatte, brach sich mit einem Schlag am Himmel und über den Häusern der Sommer Bahn. Zuerst erhob sich ein heftiger Wind, wehte einen Tag lang und trocknete die Mauern aus. Die Sonne strahlte Tag für Tag. Von morgens bis abends überfluteten ununterbrochene Hitze- und Lichtströme die Stadt. Es war, als gebe es außerhalb der Laubengänge und der Wohnungen kein Plätzchen in der ganzen Stadt, das nicht in blendenden Glanz getaucht war. Die Sonne verfolgte unsere Mitbürger bis in den hintersten Straßenwinkel und traf sie mit voller Wucht, wenn sie still standen. Da diese erste Hitzewelle von einem jähen Ansteigen der Todesfälle begleitet war, die sich auf ungefähr siebenhundert in der Woche beliefen, bemächtigte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit der Stadt. Aus den Vorstädten, aus den ebenen Straßen und den Flachdachhäusern schwand der Betrieb, und in dem Viertel, wo die Leute immer unter der Haustür lebten, waren alle Türen geschlossen und die Jalousien heruntergelassen, ohne daß man wußte, ob man sich auf diese Weise vor der Pest oder vor der Sonne zu schützen suchte. Aus einigen Häusern jedoch drang Stöhnen. Früher waren bei solchen Gelegenheiten oft Gaffer zu sehen, die auf der Straße standen und horchten. Aber nach dieser langen Spannung schien sich jedes Herz verhärtet zu haben, und alle schritten oder lebten an den Klagen vorbei, als wären sie die natürliche Sprache der Menschen. Die Zusammenstöße an den Toren, in deren Verlauf die Polizei von ihren Waffen hatte Gebrauch machen müssen, schufen eine dumpfe Aufregung. Es hatte sicher Verwundete gegeben, aber in der Stadt redete man von Toten, da infolge der Hitze und der Angst alles übertrieben wurde. Auf alle Fälle stimmte es, daß die Unzufriedenheit ständig wuchs, daß die Behörden das Schlimmste befürchteten und allen Ernstes die Maßnahmen überlegten, die zu ergreifen wären, wenn die von der Seuche geknechtete Bevölkerung sich erheben sollte. Die Zeitungen veröffentlichten Bestimmungen, die das Verlassen der Stadt aufs neue untersagten und Zuwiderhandelnde mit Gefängnisstrafen bedrohten. Patrouillen durchstreiften die Stadt. In den menschenleeren, überhitzten Straßen erklang oft Hufklappern auf dem Pflaster, dann erschienen die Wachen und ritten zwischen den Reihen geschlossener Fenster hindurch. Wenn die Patrouille verschwunden war, fiel die gefährdete Stadt erneut in drückendes, mißtrauisches Schweigen. Von Zeit zu Zeit ertönten Schüsse; ein kürzlich erlassener Befehl beauftragte besondere Gruppen, die Hunde und Katzen zu töten, da sie Flöhe übertragen konnten. Dieses trockene Knallen verstärkte noch die Alarmstimmung in der Stadt. In der Hitze und dem Schweigen und in den verängstigten Herzen unserer Mitbürger bekam übrigens alles eine größere Bedeutung. Die Farbe des Himmels und die Gerüche der Erde, die den Wandel der Jahreszeiten ausmachen, wurden zum erstenmal allen spürbar. Jeder begriff mit Schrecken, daß der Sommer da war. Das Pfeifen der Mauersegler im Abendhimmel über der Stadt wurde dünn. Es war der Junidämmerung, die bei uns den Horizont weit macht, nicht mehr gewachsen. Die Blumen kamen nicht mehr als Knospen auf den Markt, sie waren schon voll erblüht, und nach dem morgendlichen Verkauf bedeckten ihre Blütenblätter das staubige Trottoir. Man sah deutlich, daß der Frühling sich erschöpft und in Tausenden von Blüten verschwendet hatte, die nun ringsumher prangten, und daß er jetzt einschlummern werde, erdrückt von der zwiefachen Last von Pest und Hitze. Für alle unsere Mitbürger hatten dieser Sommerhimmel, diese von Staub und Langeweile weiß werdenden Straßen, den gleichen bedrohlichen Sinn wie die hundert Toten, die täglich schwer auf unsere Stadt fielen. Der unveränderliche Sonnenschein, die Stunden, die nach Schlaf und Ferien schmeckten, luden nicht wie früher dazu ein, das Wasser und den Leib zu feiern. Nein, sie erklangen hohl in der verschlossenen, schweigenden Stadt. Sie hatten den kupfernen Glanz der glücklichen Zeiten verloren. Die Sonne der Pest löschte alle Farben aus und vertrieb jede Freude. Das war eine der großen Wandlungen der Krankheit. Gewöhnlich begrüßten alle unsere Mitbürger den Sommer mit Fröhlichkeit. Die Stadt öffnete sich dann gegen das Meer und ergoß ihre Jugend auf den Strand. Diesen Sommer hingegen war das nahe Meer untersagt, und der Körper hatte kein Recht mehr auf seine Freuden. Was tun unter diesen Umständen? Wiederum ist es Tarrou, der das getreueste Bild unseres damaligen Lebens entwirft. Wohlverstanden verfolgte er die Fortschritte der Pest im allgemeinen und bemerkte ganz richtig, daß in der Seuche eine Wendung eingetreten war, als im Rundfunk nicht mehr Hunderte von Todesfällen in der Woche bekanntgegeben wurden, sondern 92, 107 und 120 am Tag. «Die Zeitungen und die Behörden versuchen, die Pest hinters Licht zu führen. Sie stellen sich vor, daß sie ihr eine Runde abgewinnen, weil 130 eine kleinere Zahl ist als 910.» Er beschrieb auch die pathetischen oder augenfälligen Seiten der Epidemie wie das Erlebnis mit jener Frau, die in einem verlassenen Viertel mit geschlossenen Jalousien unvermittelt über ihm ein Fenster aufgerissen und zwei laute Schreie ausgestoßen hatte, ehe sie die Laden vor dem dichten Dunkel des Zimmers wieder zuschlug. Anderswo vermerkte er, daß die Pfefferminzplättchen aus den Apotheken verschwunden seien, da viele Leute sie lutschten, um sich vor einer möglichen Ansteckung zu schützen. Er fuhr auch fort, seine Lieblingspersonen zu beobachten. Man erfuhr, daß der kleine Alte mit den Katzen ebenfalls ein tragisches Dasein führte. Eines Morgens hatten nämlich Schüsse geknallt, und das gespuckte Blei, wie Tarrou beschrieb, hatte die meisten Katzen getötet und die übrigen so erschreckt, daß sie die Straße verließen. An demselben Tag war der Alte zur gewohnten Zeit auf seinen Balkon getreten, hatte eine gewisse Überraschung gezeigt, sich hinausgebeugt, forschend die Straße hinauf- und hinabgeblickt und sich dann zum Warten entschlossen. Er hatte eine Weile gewartet, auf das Geländer getrommelt, ein wenig Papier zerfetzt, war hineingegangen, wieder herausgekommen, dann war er nach geraumer Zeit plötzlich verschwunden und hatte wütend die Fenstertüren hinter sich geschlossen. An den folgenden Tagen wiederholte sich der Vorgang, aber in den Zügen des kleinen Alten konnte man immer deutlicher Traurigkeit und Verwirrung lesen. Nach einer Woche wartete Tarrou vergeblich auf die tägliche Erscheinung, und die Fenster blieben hartnäckig vor einem gut begreiflichen Kummer geschlossen. «Verboten, in Pestzeiten auf Katzen zu spucken», folgerte das Tagebuch. Andererseits traf Tarrou sicher, wenn er abends heimkehrte, in der Halle des Hotels die düstere Gestalt des Nachtportiers, der auf und ab spazierte. Er erinnerte jedermann daran, daß er die Ereignisse vorausgesehen habe. Als Tarrou zugab, er habe wohl ein Unglück prophezeit, aber doch von einem Erdbeben gesprochen, antwortete der alte Nachtwächter: «Ach! wenn's nur ein Erdbeben wäre! Ein tüchtiger Stoß und damit Schluß . . . Man zählt die Toten, die Lebenden, und der Spaß ist zu Ende. Aber diese Schweinerei von einer Krankheit! Sogar die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen.» Der Direktor war nicht weniger niedergedrückt. Am Anfang waren die Reisenden durch die Schließung der Stadt im Hotel festgehalten worden, da sie nicht mehr fortgehen konnten. Aber als die Seuche länger dauerte, hatten es viele allmählich vorgezogen, bei Freunden zu wohnen. Und alle Hotelzimmer blieben aus den gleichen Gründen leer, aus denen sie bisher besetzt gewesen waren, da keine neuen Reisenden mehr in die Stadt kamen. Tarrou blieb einer der wenigen Mieter, und der Direktor verfehlte keine Gelegenheit, ihm zu sagen, ohne den Wunsch, seinem letzten Kunden einen Dienst zu erweisen, hätte er seinen Betrieb seit langem geschlossen. Er bat Tarrou oft, die wahrscheinliche Dauer der Epidemie abzuschätzen. «Man sagt, daß die Kälte solchen Krankheiten unzuträglich sei», bemerkte Tarrou. Der Direktor verzweifelte: «Aber hier wird es nie richtig kalt!» Und auf alle Fälle würde es ja noch ein paar Monate dauern. Übrigens sei er sicher, daß die Reisenden noch lange einen Umweg um die Stadt machen würden. Diese Pest sei das Ende des Fremdenverkehrs. Im Speisesaal tauchte nach einer kurzen Abwesenheit Herr Othon, der Eulenmann, wieder auf, aber nur von den zwei abgerichteten Hunden begleitet. Erkundigungen ergaben, daß die Frau ihre eigene Mutter gepflegt und begraben hatte und jetzt ihre Quarantäne durchmachte. «Ich habe das nicht gern», sagte der Direktor zu Tarrou. «Quarantäne hin oder her, sie ist verdächtig, und die anderen infolgedessen auch.» Tarrou fand, daß von diesem Standpunkt aus alle Welt verdächtig sei. Aber der andere ließ keinen Einwand gelten, sondern hatte seine ganz bestimmten Ansichten in der Frage. «Nein, Herr Tarrou, Sie und ich sind nicht verdächtig. Aber die anderen.» Herr Othon jedoch änderte sich wegen einer solchen Kleinigkeit nicht, und diesmal hatte die Pest das Nachsehen. Er betrat den Speisesaal auf dieselbe Weise, setzte sich vor seinen Kindern und führte weiterhin vornehme und feindselige Reden. Nur der kleine Knabe hatte sich im Aussehen verändert. Er war schwarz gekleidet wie seine Schwester, ein bißchen mehr in sich zusammengesunken und erschien wie der kleine Schatten seines Vaters. Der Nachtwächter, der Herrn Othon nicht eben gern sah, hatte zu Tarrou gesagt: «Ach der, der krepiert mal in den Kleidern. Dann braucht man ihn wenigstens nicht zurechtzumachen. Der wird stracks abgehen.» Paneloux' Predigt war auch vermerkt, aber mit folgendem Zusatz: «Ich verstehe dieses anziehende Feuer. Am Anfang und am Schluß von Heimsuchungen macht man immer ein wenig in Rhetorik. Im ersten Fall hat man die Gewohnheit noch nicht verloren, und im zweiten hat man sie schon wieder angenommen. Im Augenblick des Unglücks allein gewöhnt man sich an die Wahrheit, das heißt ans Schweigen. Warten wir ab.» Schließlich verzeichnete Tarrou, daß ein langes Gespräch mit Dr. Rieux gute Ergebnisse gezeigt habe; bei dieser Gelegenheit erwähnte er die hell-kastanienbraune Augenfarbe von Rieux' Mutter, versicherte merkwürdigerweise gleichzeitig, daß ein Blick so voll Güte immer stärker sein werde als die Pest, und widmete schließlich dem alten, von Rieux behandelten Asthmatiker ziemlich lange Abschnitte. Nach jener Unterredung hatte er den Arzt zu diesem Patienten begleitet. Der Alte hatte Tarrou spöttisch grinsend und händereibend empfangen. Er saß im Bett, an sein Kopfkissen gelehnt. Auf seinem Schoß standen die zwei Töpfe mit Erbsen. «Aha, noch einer», hatte er gesagt, als er Tarrou sah. «Die reinste verkehrte Welt, mehr Ärzte als Kranke. Es geht schnell, ja? Der Priester hat recht, wir verdienen es nicht besser.» Am nächsten Tag war Tarrou unangemeldet wiedergekommen. Das Tagebuch erzählt, daß der alte Asthmatiker Kurzwarenhändler von Beruf gewesen war und mit 50 Jahren gefunden hatte, er habe genug geleistet. Er hatte sich ins Bett gelegt und war seither nicht mehr aufgestanden. Dabei hätte sein Asthma ihm das Stehen sehr wohl erlaubt. Eine kleine Rente hatte ihm das Leben ermöglicht. Nun war er 75 Jahre alt und trug nicht schwer an seinen Jahren. Er konnte den Anblick einer Uhr nicht leiden, und tatsächlich gab es im ganzen Haus keine einzige. «Eine Uhr ist etwas Teures und etwas Dummes», pflegte er zu sagen. Er maß die Zeit, und hauptsächlich die Essenszeiten, die ihm allein wichtig waren, mit seinen zwei Töpfen, von denen der eine bei seinem Erwachen voll Erbsen war. Die füllte er mit gleichmäßigen, sorgfältigen Bewegungen in den andern um. So fand er sich in seinen Tagen zurecht, die mit dem Kochtopf eingeteilt wurden. «Alle fünfzehn Töpfe muß ich etwas zum Beißen haben», sagte er. «Das ist ganz einfach.» Wenn man seiner Frau glauben wollte, hatte er übrigens schon sehr früh Zeichen seiner Berufung erkennen lassen. Es hatte ihn nämlich nichts jemals interessiert, weder seine Arbeit noch die Freunde, noch das Wirtshaus, noch die Musik, noch die Frauen, noch die Spaziergänge. Er war nie aus der Stadt hinausgekommen, außer einen Tag, als er sich in Familienangelegenheiten nach Algier begeben sollte und am nächsten Bahnhof wieder ausgestiegen war, weil er es nicht über sich brachte, das Abenteuer weiterzutreiben. Mit dem ersten Zug war er zurückgekehrt. Als Tarrou sich über sein eingesperrtes Leben wunderte, hatte er ihm im Groben erklärt, daß nach der Religion das Leben eines Menschen in der ersten Hälfte ein Aufstieg und in der zweiten ein Abstieg sei, daß während des Abstiegs die Tage nicht mehr dem Menschen gehörten und man sie ihm jeden Augenblick entreißen könne, daß er also nichts damit anfangen könne und es infolgedessen das Beste sei, nichts damit anzufangen. Er scheute sich übrigens nicht vor Widersprüchen, denn bald darauf hatte er Tarrou erklärt, es gebe sicher keinen Gott, da sonst die Priester überflüssig wären. Aber aus einigen folgenden Bemerkungen schloß Tarrou, daß diese Philosophie eng mit dem Ärger verknüpft war, den ihm die häufigen Almosensammlungen in seiner Gemeinde verursachten. Was dem Bild des Greises jedoch seine Abrundung verlieh, war ein scheinbar inniger Wunsch, den er zu wiederholten Malen vor Tarrou äußerte: er hoffte, sehr alt zu werden. «Ist er ein Heiliger?» fragte sich Tarrou. Und er gab zur Antwort: «Ja, wenn die Heiligkeit sich aus Gewohnheiten zusammensetzt.» Zur selben Zeit jedoch unternahm Tarrou eine ziemlich eingehende Beschreibung eines Tages in der verpesteten Stadt und vermittelte so einen richtigen Begriff von den Beschäftigungen und dem Leben unserer Mitbürger während dieses Sommers. «Niemand lacht, außer den Betrunkenen, und die lachen zuviel», sagte Tarrou. Dann begann er seine Beschreibung: «Am frühen Morgen wehen leichte Winde durch die noch menschenleere Stadt. Es ist, als hielte zu dieser Stunde die Pest zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Alle Geschäfte sind geschlossen. Aber an manchen bezeugen Schilder , daß sie nachher nicht mit den anderen zusammen öffnen werden. Schlafende Zeitungsverkäufer rufen noch keine Nachrichten aus, sondern lehnen an den Straßenecken und bieten ihre Ware mit nachtwandlerischen Gebärden den Laternen dar. Sobald in einem Augenblick die ersten Straßenbahnen sie wecken, werden sie sich in die ganze Stadt verteilen und Blätter auf Armeslänge vor sich hinhalten, auf denen in großen Buchstaben das Wort steht. - <180 Tote, das ist die Bilanz des 94. Tages der Pest.> Trotz des Papiermangels, der immer fühlbarer wird und einige Zeitschriften gezwungen hat, ihren Umfang zu vermindern, ist eine neue Zeitung entstanden: Der Epidemiebote. Er stellt sich die Aufgabe, . In Wirklichkeit hat sich diese Zeitung sehr schnell darauf beschränkt, Inserate von neuen, unfehlbaren Pestverhütungsmitteln zu veröffentlichen. Gegen sechs Uhr morgens werden alle diese Zeitungen in den Schlangen verkauft, die sich mehr als eine Stunde vor der Öffnung der Geschäfte an den Eingängen bilden, und dann auch in den Straßenbahnen, die überfüllt aus den Vorstädten hereinfahren. Die Straßenbahn ist das einzige Verkehrsmittel geworden, und die Wagen mit ihren zum Bersten besetzten Trittbrettern und Schutzgittern kommen nur mühsam voran. Merkwürdig ist indessen, wie sich alle Fahrgäste nach Möglichkeit den Rücken zudrehen, um eine gegenseitige Ansteckung zu vermeiden. An den Haltestellen entläßt die Straßenbahn eine Fracht Männer und Frauen, die es eilig hat, auseinanderzugehen und allein zu sein. Es kommt häufig zu Auftritten, die einzig auf die zum Dauerzustand gewordene schlechte Laune zurückzuführen sind. Nach der Durchfahrt der ersten Straßenbahn erwacht die Stadt allmählich, die ersten Restaurants öffnen ihre Pforten; die Schanktische hängen voller Schilder: , usw. Dann öffnen die Geschäfte, die Straßen beleben sich. Gleichzeitig steigt die Sonne, und die vom Julihimmel niederstrahlende Hitze wird bleiern. Das ist die Stunde, in der die Müßiggänger sich auf die Boulevards wagen. Die meisten scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, durch die Schaustellung ihres Luxus die Pest zu beschwören. Alle Tage sieht man gegen elf Uhr in den Hauptstraßen junge Männer und junge Frauen dahinschlendern, denen man die in den Zeiten großen Unglücks gedeihende Lebensgier anmerkt. Wenn die Seuche sich ausdehnt, werden auch die Sitten freier werden. Wir werden die mailändischen Saturnalien am Rand der Gräber wieder erleben. Mittags füllen sich die Gaststätten im Nu. An den Türen bilden sich sehr schnell kleine Gruppen von Leuten, die keinen Platz mehr gefunden haben. Der Himmel wird farblos vor lauter Hitze. Am Rand der sonneberstenden Straße warten im Schatten der großen Markisen die Eßlustigen, bis die Reihe an sie kommt. Die Restaurants sind überfüllt, weil sie für viele die Ernährungsfrage vereinfachen. Hingegen lassen sie die Furcht vor Ansteckung unvermindert bestehen. Die Gäste verlieren viele Minuten mit geduldigem Abreiben ihres Bestecks. Vor kurzer Zeit schlugen gewisse Restaurants an: . Aber nach und nach haben sie auf alle Reklame verzichtet, da die Gäste ja ohnehin gezwungen waren zu kommen. Der Gast gibt übrigens gern viel Geld aus. Erlesene oder als solche verkaufte Weine, die teuersten Gerichte bilden den Anfang einer zügellosen Jagd. Es scheint auch, daß in einem Restaurant eine Panik ausgebrochen ist, weil ein Gast von Unwohlsein befallen wurde, erbleichte, aufstand, taumelte und sehr schnell hinausging. Gegen zwei Uhr leert sich die Stadt allmählich. Nun ist der Augenblick, da die Stille, der Staub, die Sonne und die Pest sich auf der Straße begegnen. An den großen grauen Häusern entlang schleicht die Hitze. Es sind lange Stunden des Gefangenseins, und sie münden in feurige Abende, die über die volkreiche, schwatzende Stadt hereinbrechen. Während der ersten Tage der Hitze waren die Abende hie und da menschenleer, ohne daß man wußte, warum. Aber jetzt bringt die erste Kühle eine Entspannung, beinahe eine Hoffnung. Alle gehen auf die Straße hinaus, betäuben sich mit Reden, streiten oder begehren sich, und unter dem roten Julihimmel gleitet die mit Pärchen und Schreiern erfüllte Stadt in die keuchende Nacht. Vergeblich drängt sich jeden Abend auf den Boulevards ein verzückter Greis mit Filzhut und Lavallière durch die Menge und wiederholt unablässig: ; alle stürzen sich im Gegenteil auf etwas, das sie schlecht kennen oder das ihnen dringender erscheint als Gott. Am Anfang, als sie glaubten, es sei eine Krankheit wie eine andere, war die Religion angebracht. Aber als sie sahen, daß es ernst war, haben sie sich an das Genießen erinnert. Die ganze Beklemmung, die sich tagsüber in den Gesichtern malt, löst sich in der glühenden und staubigen Dämmerung zu einer Art wilder Erregung, einer linkischen Freiheit, die ein ganzes Volk in Fieber versetzt. Und ich bin auch wie sie. Aber warum denn! Der Tod ist nichts für Menschen meines Schlages. Er ist ein Ereignis, das ihnen recht gibt.» Die Unterredung mit Rieux, von der Tarrou in seinen Aufzeichnungen spricht, war auf seine Bitte hin erfolgt. An jenem Abend, als Dr. Rieux ihn erwartete, betrachtete der Arzt gerade seine Mutter, die gelassen auf einem Stuhl in einer Ecke des Eßzimmers saß. Dort verbrachte sie ihre Tage, wenn sie sich nicht mehr um den Haushalt kümmern mußte. Die Hände im Schoß wartete sie. Rieux war nicht einmal sicher, ob sie ihn erwartete. Indessen veränderte sich etwas im Gesicht seiner Mutter, wenn er erschien. Alles, was ein von Arbeit erfülltes Leben an Wortkargheit darauf gezeichnet hatte, schien sich dann zu beleben. Gleich darauf fiel sie wieder in Schweigen. An jenem Abend schaute sie durch das Fenster auf die jetzt verödete Straße. Die Nachtbeleuchtung war um zwei Drittel vermindert worden. Und nur in weiten Abständen warf hie und da eine schwache Laterne ein wenig Licht in die dunklen Schatten der Nacht. «Wird man die herabgesetzte Beleuchtung während der ganzen Pest beibehalten?» fragte Frau Rieux. «Wahrscheinlich.» «Wenn es nur nicht bis in den Winter hinein dauert. Dann wäre es traurig.» «Ja», sagte Rieux. Er bemerkte, wie seine Mutter ihm auf die Stirn blickte. Er wußte, daß die Unruhe und Überanstrengungen der letzten Tage sein Gesicht zerfurcht hatten. «Ist es nicht gutgegangen heute?» fragte Frau Rieux. «Ach, wie gewöhnlich.» Wie gewöhnlich! Das hieß, daß das neue, von Paris geschickte Serum weniger wirksam schien als die erste Sendung und daß die Zahl der Fälle stieg. Es war noch immer nicht möglich, mehr Menschen vorbeugend zu impfen als gerade die Angehörigen der schon Erkrankten. Um eine allgemeine Impfung durchzuführen, hätte es ungeheurer Mengen Serums bedurft. Die meisten Beulen wollten nicht aufbrechen; als sei die Zeit ihrer Verhärtung gekommen, so folterten sie die Kranken. Seit dem vorhergehenden Abend war die Epidemie in der Stadt bei zwei Fällen unter einer neuen Form aufgetreten. Die Pest griff nun auf die Lungen über. Noch am gleichen Tag hatten die zermürbten Ärzte während einer Zusammenkunft von dem hilflosen Präfekten verlangt und erreicht, daß neue Maßnahmen getroffen wurden, um die Ansteckung zu verhüten, die bei der Lungenpest von Mund zu Mund geschah. Wie gewöhnlich wußte man noch immer nichts. Er schaute seine Mutter an. Der Blick ihrer warmen braunen Augen ließ Jahre der Zärtlichkeit in ihm aufsteigen. «Hast du Angst, Mutter?» «In meinem Alter fürchtet man nicht mehr viel.» «Die Tage sind so lang, und ich bin nie mehr daheim.» «Es ist mir gleich, auf dich zu warten, wenn ich weiß, daß du einmal kommst. Und wenn du nicht da bist, denke ich an das, was du machst. Hast du Nachrichten?» «Ja. Wenn ich dem letzten Telegramm glauben darf, geht alles gut. Aber ich weiß, daß sie das sagt, um mich zu beruhigen.» Es klingelte an der Tür. Der Arzt lächelte seiner Mutter zu und erhob sich, um zu öffnen. Im Halbdunkel des Treppenhauses sah Tarrou aus wie ein großer, grau angezogener Bär. Rieux bat seinen Besucher, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selber blieb aufrecht hinter seinem Sessel stehen. Zwischen ihnen befand sich nur die Schreibtischlampe, die allein angezündet war. Ohne weitere Einleitung sagte Tarrou: «Ich weiß, daß ich ganz offen mit Ihnen sprechen kann.» Rieux nickte schweigend. «In vierzehn Tagen oder in einem Monat werden Sie hier völlig überflüssig sein, die Ereignisse wachsen Ihnen über den Kopf.» «Das stimmt», sagte Rieux. «Die Organisation des Sanitätsdienstes ist schlecht. Es fehlt an Leuten und an Zeit.» Rieux gab zu, daß auch dies stimmte. «Ich habe erfahren, daß die Präfektur eine Art Zivildienst ins Auge faßt, um alle gesunden Männer zur allgemeinen Rettung heranzuziehen.» «Sie sind gut unterrichtet. Aber die Unzufriedenheit ist schon groß, und der Präfekt zögert.» «Warum rufen Sie keine Freiwilligen auf?» «Es wurde versucht, aber mit geringem Erfolg.» «Man hat es von Amts wegen versucht, und ohne daran zu glauben. Was ihnen fehlt ist Phantasie. Sie sind nie auf der Höhe der Heimsuchungen. Und die Heilmittel, die sie erfinden, reichen knapp für einen Schnupfen. Wenn wir sie machen lassen, werden sie zugrunde gehen und wir mit ihnen.» «Wahrscheinlich schon», sagte Rieux. «Allerdings muß ich sagen, daß sie auch daran gedacht haben, die Gefangenen das verrichten zu lassen, was ich die groben Arbeiten nennen möchte.» «Ich würde freie Menschen vorziehen.» «Ich auch. Aber warum eigentlich?» «Ich verabscheue Todesurteile.» Rieux blickte Tarrou an. «Und nun? » «Und nun habe ich einen Plan, um einen freiwilligen Sanitätsdienst zu organisieren. Erlauben Sie mir, mich darum zu kümmern, und lassen wir die Verwaltung beiseite. Sie ist sowieso überlastet. Ich habe überall ein paar Freunde. Die werden den ersten Kern bilden. Und ich werde selbstverständlich auch mitmachen.» «Sie können sich vorstellen, daß ich natürlich mit Freuden ja sage. Hilfe ist nötig, besonders in unserem Beruf. Ich übernehme es, Ihren Gedanken von der Präfektur gutheißen zu lassen. Es bleibt ihnen übrigens gar keine Wahl. Aber ...» Rieux dachte nach. «Aber Sie wissen, daß diese Arbeit tödlich sein kann. Jedenfalls muß ich Sie darauf aufmerksam machen. Haben Sie es sich wohl überlegt?» Tarrou schaute ihn mit seinen grauen, ruhigen Augen an. «Wie denken Sie über Paneloux' Predigt, Herr Doktor?» Die Frage war natürlich gestellt, und Rieux beantwortete sie natürlich. «Ich habe zu lange in Spitälern gelebt, um den Gedanken einer Kollektivstrafe zu lieben. Aber wissen Sie, die Christen sprechen manchmal so, ohne es je wirklich zu denken. Sie sind besser als sie scheinen.» «Und doch glauben Sie, wie Paneloux, daß die Pest auch ihr Gutes hat, daß sie die Augen öffnet, daß sie zum Denken zwingt!» Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf. «Wie alle Krankheiten auf dieser Erde. Aber was für die Übel dieser Welt gilt, das gilt auch für die Pest. Das kann ein paar wenigen dazu verhelfen, größer zu werden. Wer jedoch das Elend und den Schmerz sieht, die die Pest bringt, muß wahnsinnig, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden.» Rieux hatte die Stimme kaum erhoben. Aber Tarrou machte eine Handbewegung, als wollte er ihn beruhigen. Er lächelte. «Ja», sagte Rieux und zuckte die Achseln. «Aber Sie haben mir nicht geantwortet. Haben Sie es sich überlegt?» Tarrou nahm in seinem Sessel eine etwas bequemere Stellung ein und schob den Kopf ins Licht vor. «Glauben Sie an Gott, Herr Doktor?» Auch diese Frage war natürlich gestellt. Aber diesmal zögerte Rieux. «Nein, aber was heißt das schon ? Ich tappe im dunkeln und versuche, dennoch klar zu sehen. Ich habe schon lange aufgehört, das originell zu finden.» «Ist es nicht das, was Sie von Paneloux scheidet?» «Ich glaube nicht. Paneloux ist ein Büchermensch. Er hat nicht genug sterben sehen, und deshalb spricht er im Namen einer Wahrheit. Aber der geringste Priester, der auf dem Land seine Gemeinde betreut und dem Atem eines Sterbenden gelauscht hat, denkt wie ich. Er wird dem Elend zu steuern suchen, ehe er es unternimmt, seine Vorzüge aufzuzeigen.» Rieux erhob sich, sein Gesicht war jetzt im Schatten. «Lassen wir das, da Sie nicht antworten wollen.» Tarrou lächelte, ohne sich zu rühren. «Darf ich mit einer Frage antworten?» Der Arzt lächelte nun seinerseits und sagte: «Sie lieben das Geheimnis. Also gut.» «Sehen Sie», sagte Tarrou, «weshalb zeigen Sie selbst so viel Aufopferung, wenn Sie doch nicht an Gott glauben ? Ihre Antwort wird mir vielleicht helfen, die meine zu finden.» Ohne aus dem Schatten herauszutreten, erwiderte Rieux, daß er schon geantwortet habe. Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen, und diese Sorge ihm überlassen. Aber kein Mensch auf der ganzen Welt, nein, nicht einmal Paneloux, glaube an einen solchen Gott, obwohl er daran zu glauben glaube, denn es gebe sich ihm ja niemand völlig hin, und er, Rieux, glaube, wenigstens in dieser Beziehung auf dem Weg zur Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie sei, ankämpfe. «Ah!» sagte Tarrou. «Dies ist also das Bild, das Sie sich von Ihrem Beruf machen?» «Ungefähr», antwortete der Arzt und trat wieder ins Licht. Tarrou pfiff leise, und der Arzt schaute ihn an. «Ja», sagte er, «Sie finden, daß Stolz dazu gehört. Aber ich habe nicht mehr Stolz als notwendig ist, glauben Sie mir. Ich weiß weder, was meiner wartet, noch was nach alldem kommen wird. Im Augenblick gibt es Kranke, die geheilt werden müssen. Nachher werden sie nachdenken und ich auch. Aber dringlich ist nur, daß sie geheilt werden. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles.» «Gegen wen?» Rieux kehrte sich zum Fenster. An einer dichteren Dunkelheit des Horizonts erriet er in der Ferne das Meer. Er fühlte nur seine Müdigkeit und kämpfte gleichzeitig gegen den plötzlichen und unsinnigen Wunsch, sich diesem sonderbaren Menschen, in dem er doch den Bruder spürte, ein wenig mehr anzuvertrauen. «Ich weiß es nicht, Tarrou, ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Als ich diesen Beruf ergriff, geschah es irgendwie ohne zu überlegen, weil ich einen brauchte, weil er so gut war wie alle anderen, einer von denen, die die jungen Leute ins Auge fassen. Vielleicht auch, weil es für mich als Sohn eines Arbeiters besonders schwierig war. Und dann mußte man sterben sehen. Wissen Sie, daß es Leute gibt, die sich weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau schreien hören, die im Sterben lag? Ich schon. Und dann habe ich gemerkt, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war damals noch jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selber zu richten. Seither bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich einfach immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber schließlich ...» Rieux hielt inne und setzte sich. Er hatte ein trockenes Gefühl im Mund. «Schließlich?» sagte Tarrou sanft. «Schließlich ...» begann der Arzt, und wieder zögerte er und blickte Tarrou aufmerksam an, «ist es etwas, das ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr; aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.» «Ja», stimmte Tarrou zu, «ich verstehe. Nur werden Ihre Siege immer vorläufig bleiben, das ist alles.» Rieux' Gesicht schien sich zu verdüstern. «Immer, ich weiß. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben.» «Nein, das ist kein Grund. Aber nun kann ich mir vorstellen, was die Pest für Sie bedeuten muß.» «Ja», sagte Rieux, «eine endlose Niederlage.» Tarrou schaute den Arzt einen Augenblick fest an, dann stand er auf und ging mit schweren Schritten zur Tür. Und Rieux folgte ihm. Er stand schon bei ihm, als Tarrou, der seine Füße zu betrachten schien, sagte: «Wer hat Sie das alles gelehrt, Herr Doktor?» Die Antwort kam augenblicklich: «Das Elend.» Rieux öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und sagte im Gang zu Tarrou, daß er auch hinuntergehe, da er noch in die Vorstadt müsse, um nach einem seiner Kranken zu sehen. Tarrou bot ihm seine Begleitung an, und der Arzt nahm an. Am Ende des Ganges begegneten sie Frau Rieux, der der Arzt Tarrou vorstellte. «Ein Freund», sagte er. «Ach», sagte Frau Rieux, «ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.» Als sie ging, drehte Tarrou sich nochmals nach ihr um. Im Flur versuchte der Arzt vergeblich, die Treppenbeleuchtung einzuschalten. Die Stiege blieb in Finsternis getaucht. Der Arzt fragte sich, ob das die Folge einer neuen Sparmaßnahme sei. Aber das konnte man nicht wissen. Schon seit einiger Zeit ging in den Häusern und in der Stadt alles drunter und drüber. Das war vielleicht nur, weil die Hauswarte und unsere Mitbürger im allgemeinen für nichts mehr Sorge trugen. Aber Rieux hatte keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln, denn hinter ihm ertönte Tarrous Stimme: «Noch ein Wort, Herr Doktor, selbst wenn es Ihnen lächerlich erscheinen sollte: Sie haben vollkommen recht.» Rieux zuckte die Achseln, für sich allein, in der Finsternis. «Ich weiß es wirklich nicht. Aber Sie, was wissen Sie davon?» «Oh», sagte der andere gleichmütig, «ich habe nicht mehr viel zu lernen.» Der Arzt blieb stehen, und Tarrou glitt hinter ihm auf einer Stufe aus. Um nicht zu fallen, packte er Rieux' Schulter. «Glauben Sie, das Leben ganz zu kennen?» fragte dieser. Die Antwort kam in der Dunkelheit, von der gleichen, ruhigen Stimme getragen: «Ja.» Als sie auf die Straße hinaustraten, merkten sie, daß es ziemlich spät war, vielleicht elf Uhr. Die Stadt war stumm, nur von einem unfaßbaren Streichen erfüllt. In weiter Ferne ertönte das Bimmeln eines Krankenwagens. Sie stiegen ins Auto, und Rieux setzte den Motor in Gang. «Sie müssen morgen ins Spital kommen, um sich impfen zu lassen. Aber um ein Ende zu machen, und ehe wir die Geschichte anfangen, merken Sie sich, daß Ihre Chancen, davonzukommen, nur eins zu zwei stehen.» «Diese Schätzungen haben keinen Sinn, Herr Doktor, das wissen Sie so gut wie ich. Vor hundert Jahren hat eine Pestseuche in Persien alle Bewohner einer Stadt getötet, nur ausgerechnet den Totenwäscher nicht, der nie aufgehört hatte, seinen Beruf auszuüben.» «Ihm ist eben die dritte Chance zugefallen, das ist alles», sagte Rieux, und seine Stimme tönte plötzlich dumpfer. «Aber es stimmt, daß wir in dieser Beziehung noch alles zu lernen haben.» Sie gelangten jetzt in die Vorstadt. Die Scheinwerfer leuchteten in den verlassenen Straßen. Sie hielten an. Vor dem Wagen fragte Rieux Tarrou, ob er mit hineinkommen wolle, und dieser sagte ja. Ein Widerschein des Himmels erhellte ihre Gesichter. Rieux lachte plötzlich freundschaftlich und sagte: «Hören Sie, Tarrou, was treibt Sie eigentlich, sich damit zu befassen?» «Ich weiß nicht. Meine Moral vielleicht.» «Und die wäre? » «Das Verständnis.» Tarrou wandte sich dem Haus zu, und Rieux sah sein Gesicht nicht mehr, bis sie bei dem alten Asthmatiker standen. Gleich am nächsten Tag machte Tarrou sich an die Arbeit und stellte eine erste Gruppe zusammen, der zahlreiche andere folgen sollten. Der Erzähler hat indessen nicht die Absicht, diesen Hilfstruppen mehr Bedeutung zu verleihen, als sie wirklich besaßen. Es ist gewiß, daß an seiner Stelle viele unserer Mitbürger heute der Versuchung erliegen würden, die Wichtigkeit ihrer Rolle zu übertreiben. Doch ist der Erzähler eher versucht zu glauben, daß man schließlich dem Bösen eine mittelbare und machtvolle Huldigung zuteil werden läßt, wenn man die guten Taten zu sehr herausstreicht. Denn man läßt in diesem Fall vermuten, daß diese guten Taten nur deshalb so viel Wert haben, weil sie selten vorkommen, und daß Bosheit und Gleichgültigkeit bedeutend häufiger die Beweggründe der menschlichen Handlungen sind. Das ist eine Ansicht, die der Erzähler nicht teilt. Das Böse in der Welt rührt fast immer von der Unwissenheit her, und der gute Wille kann so viel Schaden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als böse, und in Wahrheit dreht es sich gar nicht um diese Frage. Aber sie sind mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster. Das trostloseste Laster ist die Unwissenheit, die alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten. Die Seele des Mörders ist blind, und es gibt keine wahre Güte noch Liebe ohne die größtmögliche Hellsichtigkeit. Deshalb müssen unsere Sanitätskolonnen, die dank Tarrou ins Leben gerufen wurden, mit sachlicher Befriedigung beurteilt werden. Deshalb wird der Erzähler auch kein Hoheslied auf den Willen und den Heroismus singen, denen er nur die ihnen gebührende Bedeutung beilegt. Aber er wird fortfahren, die Geschichte der Herzen aller unserer Mitbürger zu schreiben, die nun von der Pest zerrissen und von Verlangen erfüllt wurden. Diejenigen, die sich dem Sanitätsdienst widmeten, hatten deshalb tatsächlich kein so großes Verdienst, denn sie wußten, daß sie gar nicht anders handeln konnten, und es wäre im Gegenteil unglaublich gewesen, wenn sie sich nicht dazu entschlossen hätten. Diese Gruppen halfen unseren Mitbürgern, weiter in die Pest einzudringen, und überzeugten sie teilweise davon, daß alles Nötige unternommen werden mußte, um die Krankheit zu bekämpfen, weil sie nun einmal da war. Wie die Pest so die Pflicht einiger einzelner wurde, erschien sie wirklich als das, was sie war: eine Angelegenheit, die alle anging. Das ist gut so. Aber man beglückwünscht keinen Lehrer, weil er lehrt, daß zwei und zwei vier ist. Man wird ihn vielleicht dazu beglückwünschen, daß er diesen schönen Beruf gewählt hat. Sagen wir also, daß es löblich war, daß Tarrou und andere beschlossen hatten, zu zeigen, daß zwei und zwei vier ergibt und nicht etwas anderes; sagen wir aber auch, daß sie diesen guten Willen mit dem Lehrer und mit all denen gemein hatten, die das gleiche Herz haben wie der Lehrer und die, zur Ehre der Menschen sei es gesagt, zahlreicher sind, als angenommen wird. Dies ist wenigstens die Überzeugung des Erzählers. Er ist sich übrigens des Einwandes sehr wohl bewußt, der ihm entgegengehalten werden könnte, daß nämlich diese Männer ihr Leben aufs Spiel setzten. Aber es kommt immer ein Augenblick in der Geschichte, wo derjenige, der zu behaupten wagt, daß zwei und zwei vier ergibt, mit dem Tode bestraft wird. Der Lehrer weiß das wohl. Und es handelt sich nicht darum, zu wissen, welche Belohnung oder Strafe auf dieser Überlegung steht. Es handelt sich darum, zu wissen, ob, ja oder nein, zwei und zwei vier ergibt. Für jene Mitbürger, die damals ihr Leben aufs Spiel setzten, handelt es sich darum, zu entscheiden, ob sie, ja oder nein, in der Pest waren und ob man, ja oder nein, dagegen ankämpfen mußte. Viele neue Moralprediger verkündeten damals in unserer Stadt, daß nichts etwas tauge und man einfach auf die Knie fallen müsse. Tarrou und Rieux und ihre Freunde konnten dieses oder jenes erwidern; die Schlußfolgerung bestätigte immer, was sie schon wußten: man mußte auf die eine oder andere Art kämpfen und nicht auf die Knie fallen. Es ging ausschließlich darum, möglichst viele Menschen vor dem Sterben und der endgültigen Trennung zu bewahren. Dafür gab es nur ein einziges Mittel, das hieß: die Pest bekämpfen. Diese Wahrheit war nicht bewundernswert, sie war nur folgerichtig. Deshalb war es natürlich, daß der alte Castel sein ganzes Vertrauen und seine ganze Kraft daran setzte, an Ort und Stelle und mit notdürftigen Mitteln einen Impfstoff herzustellen. Rieux und er hofften, aus den Kulturen jener Mikroben, die die Stadt unsicher machten, ein Serum zu gewinnen, das unmittelbarer wirken werde als der von außen geschickte Impfstoff, da die Mikroben sich ein wenig von der klassischen Erscheinung des Pestbazillus unterschieden. Castel hoffte, sein erstes Serum ziemlich bald bereit zu haben. Deshalb war es auch natürlich, daß Grand, der gar nichts Heldisches an sich hatte, jetzt eine Art Sekretariat des Hilfssanitätsdienstes übernahm. Einige der von Tarrou gebildeten Gruppen widmeten sich nämlich einer vorbeugenden Arbeit in den übervölkerten Stadtteilen. Man versuchte, dort die nötige Hygiene einzuführen, man zählte die Estriche und Keller, die nicht desinfiziert worden waren. Ein anderer Teil der Hilfskräfte begleitete die Ärzte auf ihren Hausbesuchen, sorgte für die Überführung der Pestkranken und lenkte später, als es an ausgebildeten Leuten zu fehlen begann, sogar die Krankenwagen. Das alles mußte verzeichnet und statistisch erfaßt werden, und Grand hatte sich zu dieser Arbeit bereit erklärt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheint es dem Erzähler, daß Grand mehr als Rieux oder Tarrou der wahre Vertreter jener ruhigen Kraft war, die alle Hilfsmannschaften erfüllte. Er hatte mit dem ihm eigenen guten Willen und ohne zu zögern ja gesagt. Er hatte nur den Wunsch geäußert, sich in kleinen Arbeiten nützlich zu machen. Für alles andere sei er zu alt. Von 18 bis 20 Uhr konnte er seine Zeit zur Verfügung stellen. Und als Rieux ihm warm dankte, verwunderte er sich: «Das ist nicht das Schwerste. Da ist die Pest, man muß sich wehren, das ist klar. Ach, wenn doch alles so einfach wäre!» Und er kam auf seinen Satz zurück. Am Abend, wenn die Zettelarbeit erledigt war, unterhielt sich Rieux manchmal mit Grand. Dann hatten sie auch Tarrou in ihre Gespräche gezogen, und Grand vertraute sich seinen beiden Gefährten mit sichtlich wachsendem Vergnügen an. Jene verfolgten mit Anteilnahme die Arbeit, die Grand inmitten der Pest geduldig fortsetzte. Schließlich fanden auch sie darin eine Art Entspannung. «Wie geht es der Amazone?» fragte Tarrou häufig. Und Grand erwiderte unentwegt: «Sie trabt, sie trabt», und dabei lächelte er verlegen. Eines Abends sagte Grand, er habe nun das Adjektiv «elegant» endgültig fallenlassen und bezeichnete seine Amazone von jetzt an als «schlank». «Es ist anschaulicher», hatte er hinzugefügt. Ein anderes Mal las er seinen beiden Zuhörern die folgende Neufassung des Satzes vor: «An einem schönen Maimorgen durchritt eine schlanke Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.» «Nicht wahr», sagte Grand, «so sieht man sie besser, und ich habe vorgezogen, weil den Trab etwas zu lang machte.» Dann zeigte er sich sehr besorgt wegen des Beiworts «wunderbar». Er fand es nicht sprechend genug und suchte den Ausdruck, der das Bild der prunkvollen Stute, das ihm vorschwebte, treffend festhielte. «Kräftig» ging nicht; es war anschaulich, aber ein bißchen herabsetzend. «Glänzend» hatte ihn einen Augenblick gereizt, aber das paßte im Klang nicht gut. Eines Abends verkündete er frohlockend, er habe gefunden: «eine schwarze Fuchsstute». Das «schwarz» deute unaufdringlich die Eleganz an, meinte er. «Das ist nicht möglich», sagte Rieux. «Und warum nicht?» «Fuchs geht nicht auf die Rasse, sondern auf die Farbe.» «Welche Farbe?» «Nun, jedenfalls eine Farbe, die nicht schwarz ist.» Grand schien sehr niedergeschlagen. «Danke», sagte er vor sich hin sinnend. «Ein Glück, daß Sie da sind. Aber da sehen Sie nur, wie schwierig es ist.» «Was halten Sie von ?» fragte Tarrou. Grand schaute ihn an. Er überlegte. Dann sagte er: «Ja ... ja!» Und langsam hellten sich seine Züge auf. Einige Zeit darauf gestand er, das Wort «blühend» setze ihn in Verlegenheit. Da er in seinem Leben nur Qran und Montelimar gesehen hatte, bat er seine Freunde manchmal, ihm zu beschreiben, wie die Alleen des Bois eigentlich blühten. Genaugenommen hatten sie in Rieux oder Tarrou gar nie diesen Eindruck erweckt, aber die Überzeugung des Angestellten machte sie schwankend. Er wunderte sich über ihre Unsicherheit. «Nur die Künstler verstehen es, zu schauen.» Aber einmal fand ihn der Arzt in großer Aufregung. Er hatte «blühend» durch «voller Blumen» ersetzt. Er rieb sich die Hände. «Endlich sieht man sie, riecht man sie. Hut ab, meine Herren!» Beglückt las er den Satz: «An einem schönen Maimorgen durchritt eine schlanke Amazone auf einer prächtigen Fuchsstute die Alleen voller Blumen des Bois de Boulogne.» Aber laut gelesen wirkte das Ende des Satzes störend, und Grand stockte ein wenig. Er setzte sich mit niedergedrückter Miene. Dann bat er den Arzt um die Erlaubnis fortzugehen. Er mußte ein wenig nachdenken. Zu dieser Zeit begann er, wie man später erfuhr, auf dem Amt Anzeichen einer Unaufmerksamkeit zu zeigen, die man sehr bedauerlich fand, da das Rathaus gerade jetzt mit verringerten Hilfskräften erdrückenden Verpflichtungen gewachsen sein sollte. Sein Dienst litt darunter, was der Vorgesetzte ihm streng vorwarf, indem er ihn daran erinnerte, daß er bezahlt werde, um eine Arbeit zu verrichten, die er eben nicht verrichtete. Der Vorgesetzte hatte gesagt: «Es scheint, daß Sie außerhalb Ihrer Arbeitszeit freiwillig im Sanitätsdienst mithelfen. Das geht mich nichts an. Aber was mich angeht ist Ihre Arbeit. Um sich unter diesen schrecklichen Umständen nützlich zu machen, müssen Sie zuallererst einmal Ihre Arbeit gewissenhaft verrichten. Andernfalls taugt auch der ganze Rest nichts.» «Er hat recht», sagte Grand zu Rieux. «Ja, er hat recht», stimmte der Arzt bei. «Aber ich bin zerstreut und weiß nicht, wie ich mit dem Schluß meines Satzes fertig werden soll.» Er hatte daran gedacht, «de Boulogne» wegzulassen, im Glauben, daß jedermann es verstünde. Aber dann schien der Satz das mit «Blumen» zu verbinden, was in Wirklichkeit zu «Alleen» gehörte. Er hatte auch die Möglichkeit erwogen zu schreiben: «die Alleen des Bois voller Blumen». Aber die Stellung von «Bois» zwischen einem Hauptwort und seiner Eigenschaftsbestimmung, die er willkürlich auseinanderriß, war ihm ein Dorn im Auge. An manchen Abenden sah er wahrhaftig noch erschöpfter aus als Rieux. Ja, er war erschöpft von diesem Suchen, das ihn völlig in Anspruch nahm. Aber trotzdem fuhr er fort, die Additionen und Statistiken zu machen, die die Sanitätsgruppen benötigten. Jeden Abend bereinigte er geduldig die Zettel, denen er Kurven beifügte, und er war mit aller Kraft bestrebt, allmählich möglichst genaue Darstellungen anzufertigen. Ziemlich häufig suchte er Rieux in einem der Spitäler auf und bat ihn um einen Tisch in irgendeinem Arbeitsraum oder Aufsichtszimmer. Dort richtete er sich mit seinen Papieren ein, genau so, wie er sich an seinem Platz im Rathaus einrichtete, und in der von Desinfektionsmitteln und der Krankheit selbst schweren Luft schwenkte er seine Blätter, um die Tinte trocknen zu lassen. Er war dann ehrlich bemüht, nicht mehr an seine Amazone zu denken und nur das zu tun, was getan sein mußte. Ja, wenn es stimmt, daß die Menschen daran hängen, Beispiele und Vorbilder vor Augen zu haben, die sie Helden nennen, dann schlägt der Erzähler gerade diesen unbedeutenden und bescheidenen Helden vor, der nichts für sich Tiatte als ein wenig Herzensgüte und ein offensichtlich lächerliches Ideal. Das wird der Wahrheit geben, was ihr gebührt, der Rechnung von zwei und zwei ihr Ergebnis vier, und dem Heldentum jene zweite Stelle, die ihm zukommt, unmittelbar nach, aber niemals vor der mutigen Forderung nach Glück. Das wird auch dieser Chronik den Charakter einer Berichterstattung verleihen, die mit guten Gefühlen abgefaßt ist, das heißt, mit Gefühlen, die weder sichtlich schlecht sind noch übersteigert in der abstoßenden Art eines Schaustücks. Das war zumindest Dr. Rieux' Ansicht, wenn er in den Zeitungen las oder am Radio hörte, wie sich die Außenwelt mit Aufrufen und Zusprüchen an die verpestete Stadt richtete. Gleichzeitig mit der Unterstützung, die auf dem Land- und Luftwege gesandt wurde, prasselten jeden Abend durch den Äther oder in den Zeitungen mitleidige oder bewundernde Erklärungen auf die nunmehr vereinsamte Stadt nieder. Und jedesmal machte der Ton den Arzt ungeduldig. Sicherlich wußte er, daß diese bewegte Anteilnahme nicht erheuchelt war. Aber sie vermochte sich nur in der hergebrachten Sprache auszudrücken, in der die Menschen das zu sagen versuchen, was sie mit der Menschheit verbindet. Und diese Sprache paßte zum Beispiel nicht auf Grands tägliche kleine Bemühungen, da sie unfähig war, wiederzugeben, was Grand inmitten der Pest bedeutete. Manchmal, wenn Dr. Rieux sich um Mitternacht im großen Schweigen der nun menschenleeren Stadt für einen zu kurzen Schlummer niederlegte, stellte er seinen Radioapparat an. Und aus allen Enden der Welt, über Tausende von Kilometern, versuchten unbekannte und brüderliche Stimmen ungeschickt die Verbundenheit zu zeigen. Und sie zeigten sie auch, bewiesen aber gleichzeitig, wie furchtbar unfähig der Mensch ist, einen Schmerz, den er nicht sehen kann, wirklich zu teilen: «Oran! Oran!» Vergebens überquerte der Ruf die Meere, vergebens hielt sich Rieux wach; bald schwoll die Beredsamkeit an und ließ so die wesentliche Trennung noch deutlicher hervortreten, die aus Grand und dem Redner zwei Fremde machte. «Oran! Ja, Oran!» - , dachte Rieux, Und was eben noch zu schildern bleibt, ehe wir zum Höhepunkt der Pest kommen, während die Seuche alle ihre Kräfte sammelte, um sie auf die Stadt zu werfen und sich ihrer endgültig zu bemächtigen, das sind die langwierigen, verzweifelten und eintönigen Anstrengungen, die ein paar letzte Menschen wie Rambert unternahmen, um ihr Glück wiederzufinden und der Pest jenen Teil ihres Wesens zu entziehen, den sie gegen jede Beeinträchtigung verteidigten. Es war ihre Art, die drohende Versklavung zurückzuweisen. Und obgleich diese Weigerung scheinbar nicht so wirksam war wie jene andere, ist der Erzähler der Ansicht, daß auch sie ihren Sinn hatte und bis in ihre Eitelkeit und Widersprüche hinein für den Teil Stolz zeugte, den damals jeder von uns in sich trug. Rambert kämpfte, um nicht von der Pest verschlungen zu werden. Nachdem er den Beweis dafür hatte, daß er die Stadt nicht auf rechtlichem Wege verlassen konnte, hatte er Rieux seinen Entschluß mitgeteilt, die anderen Mittel zu gebrauchen. Der Journalist begann bei den Kellnern. Ein Kellner ist immer auf dem laufenden. Aber die ersten, die er befragte, waren vor allem über die äußerst schweren Strafen unterrichtet, die auf solchen Unternehmen standen. Einmal wurde er sogar für einen Spitzel gehalten. Es brauchte schon die Begegnung mit Cottard, den er bei Rieux traf, um ihn ein wenig vorwärts zu bringen. An jenem Tag hatte er mit Rieux wieder von den vergeblichen Schritten gesprochen, die er bei den Behörden unternommen hatte. Ein paar Tage später begegnete Cottard Rambert auf der Straße und begrüßte ihn mit der Ungezwungenheit, die er jetzt in alle seine Beziehungen legte: «Immer noch nichts?» «Nein, nichts.» «Man kann nicht auf die Ämter zählen, sie sind nicht fähig, etwas zu begreifen.» «Das stimmt. Aber ich suche einen anderen Weg. Es ist schwierig.» «Aha!» sagte Cottard. «Ich verstehe.» Er kannte einen Schleichweg, und als Rambert sich darob verwunderte, erklärte er ihm, daß er seit langer Zeit in allen Cafés von Oran verkehre, daß er dort Freunde habe und wisse, daß eine Organisation bestehe, die sich mit solchen Geschäften abgebe. Die Wahrheit war, daß Cottard sich am Schleichhandel mit rationierten Erzeugnissen beteiligte, weil seine Ausgaben jetzt die Einnahmen überstiegen. So verkaufte er Zigaretten und schlechten Alkohol weiter, deren Preise unablässig stiegen und ihm allmählich ein kleines Vermögen eintrugen. «Sind Sie ganz sicher?» fragte Rambert. «Ja, denn man hat mir den Vorschlag gemacht.» «Und Sie haben die Gelegenheit nicht benutzt?» «Seien Sie nicht mißtrauisch», sagte Cottard gutmütig, «ich habe sie nicht benutzt, weil ich selber keine Lust habe, fortzugehen. Ich habe meine Gründe.» Nach einer Pause fügte er hinzu: «Sie fragen mich nicht nach meinen Gründen?» «Ich vermute, sie gehen mich nichts an», sagte Rambert. «Einerseits geht Sie es tatsächlich nichts an. Aber andererseits . . . Nun, das eine ist sicher, ich fühle mich hier bedeutend wohler, seit wir die Pest bei uns haben.» Der andere hörte seinen Vortrag an. «Wie kann ich mit der Organisation in Verbindung kommen?» «Ach so!» sagte Cottard. «Das ist nicht leicht. Kommen Sie mit mir.» Es war vier Uhr nachmittags. Unter einem bleischweren Himmel briet die Stadt. Alle Geschäfte hatten ihre Jalousien heruntergelassen. Die Straßen waren verödet. Cottard und Rambert wählten die Lauben und gingen lange Zeit, ohne zu sprechen. Es war eine jener Stunden, da die Pest sich unsichtbar machte. Dieses Schweigen, dieser Tod der Farben und Bewegungen konnte genauso gut vom Sommer bedingt sein wie von der Seuche. Man wußte nicht recht, ob die Luft von Drohungen oder von Staub und sengender Hitze schwer war. Man mußte beobachten und nachdenken, um wieder auf die Pest zu kommen. Denn sie verriet sich nur durch negative Zeichen. Cottard, der ihr nahestand, machte Rambert zum Beispiel auf das Fehlen von Hunden aufmerksam, die eigentlich in den Hauseingängen hätten auf der Seite liegen und nach unerreichbarer Kühlung lechzen sollen. Sie schlugen den Boulevard des Palmiers ein, überquerten den Waffenplatz und gingen in das Marine viertel hinab. Linker Hand verbarg sich eine grüne Wirtschaft hinter einer schrägen Markise aus grobem gelbem Leinentuch. Als Cottard und Rambert eintraten, wischten sie sich den Schweiß von der Stirn. Sie nahmen an einem der grünen Eisentische auf zusammenklappbaren Gartenstühlen Platz. Der Raum war völlig menschenleer. Fliegen summten in der Luft. Auf dem schiefen Schanktisch kauerte in einem gelben Käfig ein Papagei auf seiner Stange und ließ alle Federn hängen. Alte Bilder aus dem Soldatenleben hingen an den Wänden, schmutzbedeckt und von dichten Spinnennetzen umwoben. Auf allen Eisentischen, auch vor Rambert selber, trocknete Hühnermist, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte, bis nach einiger Unruhe ein prachtvoller Hahn aus einer dunklen Ecke hervorschlüpfte. Die Hitze schien sich in diesem Augenblick noch zu steigern. Cottard zog seine Jacke aus und klopfte auf den Tisch. Im Hintergrund wurde ein kleiner Mann sichtbar, der in einer langen blauen Schürze schwamm. Er begrüßte Cottard schon aus der Ferne, räumte den Hahn mit einem kräftigen Fußtritt aus dem Weg, näherte sich und fragte, während das Federvieh gackerte, was er den Herren vorsetzen dürfe. Cottard bestellte Weißwein und erkundigte sich nach einem gewissen Garcia. Nach den Aussagen des Kleinen hatte man ihn schon seit mehreren Tagen nicht mehr im Lokal gesehen. «Glauben Sie, daß er heute abend kommen wird?» «He!» sagte der andere. «Ich stecke nicht in seinen Kleidern. Aber Sie kennen doch seine Zeit?» «Ja. Es ist zwar nicht sehr wichtig. Ich möchte ihm nur einen Freund vorstellen.» Der Kellner wischte seine feuchten Hände an der Schürze ab. Er sagte: «Ach so! Der Herr befaßt sich auch mit Geschäften?» «Ja», antwortete Cottard. Der Knirps meinte schnüffelnd: «Also, kommen Sie heute abend. Ich werde den Jungen zu ihm schicken.» Beim Hinausgehen fragte Rambert, um was für Geschäfte es sich handle. «Um Schleichhandel natürlich. Sie schmuggeln Waren in die Stadt. Sie verkaufen zu überhöhten Preisen.» «Schön», sagte Rambert. «Haben sie Helfershelfer?» «Ja, eben.» Am Abend war die Markise hochgezogen, der Papagei plapperte in seinem Käfig, und rings um die Eisentische saßen Männer in Hemdsärmeln. Einer von ihnen hatte einen Strohhut in den Nacken geschoben und trug ein weißes, offenes Hemd, das seine braungebrannte Brust freigab. Er erhob sich, als Cottard eintrat. Er hatte ein regelmäßiges, sonnenverbranntes Gesicht, kleine schwarze Augen, weiße Zähne, zwei oder drei Ringe an den Händen und schien etwa dreißig Jahre alt. «'n Abend!» sagte er. «Wir bleiben am Ausschank.» Sie tranken schweigend drei Runden. Dann sagte Garcia: «Wie wäre es, wenn wir gingen?» Sie stiegen zum Hafen hinab, und Garcia fragte, was sie von ihm wollten. Cottard sagte, daß er ihm Rambert nicht eigentlich wegen Geschäften vorzustellen wünsche, sondern für das, was er einen «Ausgang» nannte. Garcia ging rauchend geradeaus. Er stellte Fragen und sagte «er», wenn er von Rambert sprach, dessen Anwesenheit er nicht zu bemerken schien. «Zu welchem Zweck?» fragte er. «Er hat seine Frau in Frankreich.» «Aha!» Und nach einer Weile: «Was ist er von Beruf?» «Journalist.» «Ein Beruf, in dem man viel schwatzt.» Rambert schwieg. «Er ist ein Freund», sagte Cottard. Schweigend gingen sie weiter. Sie hatten die Hafenanlagen erreicht, deren Zugang durch große Gitter versperrt war. Aber sie begaben sich zu einer kleinen Schenke, wo gebackene Sardinen feilgehalten wurden, deren Geruch bis zu ihnen drang. «Jedenfalls», schloß Garcia, «geht diese Sache nicht mich an, sondern Raoul. Und den muß ich erst aufspüren. Das wird nicht leicht sein.» «Ach», erkundigte sich Cottard lebhaft, «versteckt er sich denn?» Garcia gab keine Antwort. Nahe bei der Schenke blieb er stehen und wandte sich zum erstenmal Rambert zu. «Übermorgen um elf Uhr an der Ecke der Zollkaserne, oberhalb der Stadt.» Er schien fortgehen zu wollen, kehrte sich aber nochmals gegen die beiden Männer und sagte: «Es wird Unkosten geben.» Das war eine Feststellung. «Selbstverständlich», pflichtete Rambert bei. Kurz darauf bedankte sich der Journalist bei Cottard. «Oh! Nicht doch», erwiderte dieser gönnerhaft. «Es freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann. Und dann ... Sie sind Journalist, eines Tages werden Sie es mir vergelten.» Am übernächsten Tag stiegen Rambert und Cottard die breiten, schattenlosen Straßen hinauf, die zum oberen Teil der Stadt führen. Ein Flügel der Zollkaserne war in ein Krankenhaus verwandelt worden, und vor dem großen Tor stauten sich Leute, die in der Hoffnung kamen, einen Besuch machen zu dürfen, den man ihnen nicht gestatten konnte. Oder sie suchten Nachrichten zu erhalten, die von einer Stunde zur nächsten überholt waren. Jedenfalls brachte diese Ansammlung ein ständiges Kommen und Gehen mit sich, und es war anzunehmen, daß diese Überlegung bei der Wahl des Treffpunkts von Garcia und Rambert nicht ohne Einfluß gewesen war. «Seltsam», sagte Cottard, «wie Sie sich aufs Fortgehen versteifen. Was sich ereignet, ist doch eigentlich höchst spannend.» «Nicht für mich», gab Rambert zurück. «Oh! Gewiß, man setzt etwas aufs Spiel dabei. Aber schließlich setzte man vor der Pest gerade soviel aufs Spiel, wenn man eine stark belebte Straßenkreuzung überquerte.» In diesem Augenblick hielt Rieux' Wagen neben ihnen. Tarrou saß am Steuer. Rieux schien halb zu schlafen. Er ermunterte sich, um die Herren vorzustellen. «Wir kennen uns schon», sagte Tarrou, «wir wohnen im gleichen Hotel.» Er bot Rambert an, ihn in die Stadt zu fahren. «Nein, ich habe eine Verabredung hier.» Rieux schaute Rambert an. «Ja», erwiderte dieser. «Ach!» verwunderte sich Cottard. «Der Herr Doktor ist also unterrichtet?» «Da kommt der Untersuchungsrichter», warnte Tarrou mit einem Blick auf Cottard. Dieser wechselte die Farbe. Herr Othon kam tatsächlich die Straße herab und näherte sich ihnen mit kräftigem, doch gemessenem Schritt. Er hob den Hut, als er an der kleinen Gruppe vorbeiging. «Guten Tag, Herr Richter», sagte Tarrou. Der Richter begrüßte die Insassen des Wagens und nickte Cottard und Rambert, die im Hintergrund geblieben waren, ernsthaft zu. Tarrou stellte den Rentner und den Journalisten vor. Der Richter betrachtete den Himmel eine Sekunde lang, seufzte dann auf und sagte, es sei eine recht traurige Zeit. «Ich habe mir sagen lassen, daß Sie, Herr Tarrou, für die Anwendung der Vorbeugungsmaßnahmen besorgt sind. Ich kann Ihnen gar nicht recht genug geben. Glauben Sie, Herr Doktor, daß die Krankheit sich ausbreiten wird?» Rieux sagte, man müsse hoffen, daß sie nicht weiter um sich greife, und der Richter wiederholte, man müsse immer hoffen, da die Beschlüsse der Vorsehung unergründlich seien. Tarrou fragte ihn, ob die Ereignisse ihm eine Mehrbelastung gebracht hätten. «Im Gegenteil, die Fälle, die wir zum Strafrecht zählen, gehen zurück. Ich habe nur noch grobe Verstöße gegen die neuen Bestimmungen zu untersuchen. Noch nie wurden die alten Gesetze so genau geachtet.» «Weil sie, mit den jetzigen verglichen, natürlich gut erscheinen», sagte Tarrou. Der Richter hatte bis jetzt mit verträumter Miene den Blick auf den Himmel geheftet. Jetzt änderte er seinen Ausdruck, maß Tarrou mit einem kalten Blick und sagte: «Was tut das schon? Nicht das Gesetz zählt, sondern die Strafe. Daran können wir nichts ändern.» Als der Richter gegangen war, sagte Cottard: «Der da ist der Feind Nummer eins!» Der Wagen fuhr ab. Ein wenig später sahen Rambert und Cottard Garcia kommen. Mit völlig unbeteiligter Miene und ohne eine Geste trat er zu ihnen und sagte zur Begrüßung nur: «Sie müssen warten.» Rings um sie wartete die Menge, meistens Frauen, in völligem Schweigen. Fast alle trugen Körbe in der eitlen Hoffnung, sie könnten sie ihren kranken Angehörigen zukommen lassen, in dem noch wahnwitzigeren Glauben, daß diese für ihre Vorräte Verwendung hätten. Das Tor wurde von bewaffneten Posten bewacht, und von Zeit zu Zeit drang ein seltsamer Schrei durch den Hof, der zwischen dem Tor und der Kaserne lag. Dann kehrten sich besorgte Gesichter den Krankensälen zu. Die drei Männer betrachteten dieses Schauspiel, als hinter ihnen ein klares, tiefes «Guten Tag» ertönte, das sie sich umwenden ließ. Trotz der Hitze war Raoul sehr sorgfältig gekleidet. Er war groß und kräftig gebaut, trug einen dunklen, zweireihigen Anzug und einen Filzhut mit aufgeschlagener Krempe. Sein Gesicht war ziemlich blaß. Er hatte braune Augen, zusammengepreßte Lippen und sprach rasch und deutlich. «Gehen Sie stadtwärts», sagte er. «Garcia, du kannst uns allein lassen.» Garcia zündete sich eine Zigarette an, während die anderen sich entfernten. Sie gingen schnell und paßten ihre Schritte Raouls Gang an, der sich zwischen ihnen befand. «Garcia hat mir erklärt», sagte er. «Es läßt sich machen. Auf jeden Fall wird es Sie 10000 Francs kosten.» Rambert erwiderte, er nehme an. «Essen Sie morgen im spanischen Restaurant Zur Marine mit mir zu Mittag.» Rambert erklärte sich einverstanden, und Raoul drückte ihm die Hand und lächelte zum erstenmal. Als er gegangen war, entschuldigte sich Cottard. Er war am folgenden Tag nicht frei, und überdies brauchte Rambert ihn ja nicht mehr. Als der Journalist am nächsten Tag das spanische Restaurant betrat, drehten sich alle Köpfe nach ihm um. Der düstere Keller befand sich unterhalb der kleinen gelben, von der Sonne ausgedörrten Straße und wurde ausschließlich von Männern meist spanischen Schlages besucht. Aber sobald Raoul, der an einem Tisch im Hintergrund saß, dem Journalisten ein Zeichen gemacht hatte und Rambert auf ihn zuging, verschwand die Neugier von den Gesichtern, die sich wieder ihren Tellern zukehrten. An Raouls Tisch saß ein großer, magerer und unrasierter Kerl mit übermäßig breiten Schultern, einem Pferdegesicht und lichtem Haar. Aus aufgekrempelten Hemdsärmeln ragten seine langen, dünnen Arme hervor, die schwarz behaart waren. Er nickte dreimal mit dem Kopf, als ihm Rambert vorgestellt wurde. Sein Name war nicht erwähnt worden, und Raoul nannte ihn nie anders als «unser Freund». » «Unser Freund glaubt, Ihnen helfen zu können. Er wird Sie ...» Raoul unterbrach sich, weil die Kellnerin erschien, um Ramberts Bestellung entgegenzunehmen. «Er wird Sie mit zwei Freunden zusammenbringen, die Sie mit uns wohlgesinnten Wachen bekannt machen werden. Damit ist aber noch nicht alles erledigt. Die Wachen müssen selber den günstigsten Augenblick bestimmen. Es wäre am einfachsten, wenn Sie ein paar Nächte bei einem der Wachtposten schliefen, der in der Nähe der Tore wohnt. Doch wird unser Freund zuvor für die nötige Fühlungnahme sorgen. Wenn alles bereinigt ist, werden Sie ihm den Betrag für die Unkosten entrichten.» Der Freund nickte nochmals mit seinem Pferdekopf, ohne dabei aufzuhören, den Salat aus Tomaten und Pfefferfrüchten zu mahlen, den er in sich hineinschlang. Dann begann er mit einem leichten spanischen Akzent zu sprechen. Er forderte Rambert auf, sich am übernächsten Tag um acht Uhr morgens am Eingang der Kathedrale einzufinden. «Nochmals zwei Tage», bemerkte Rambert. «Es ist eben nicht so einfach», erklärte Raoul. «Man muß die Leute erst wieder finden.» Das Roß schlug von neuem mit dem Kopf aus, und Rambert stimmte zu. Das ganze übrige Mittagessen verging auf der Suche nach einem Gesprächsstoff. Aber alles wurde sehr einfach, als Rambert entdeckte, daß das Roß Fußball spielte. Er hatte diesen Sport selber viel getrieben. Also sprachen sie von den Meisterschaftsspielen in Frankreich und vom Wert der englischen Berufsmannschaften. Am Ende des Mittagessens war das Roß völlig aufgetaut und duzte Rambert, um ihn davon zu überzeugen, daß es in einer Mannschaft keinen schöneren Platz gebe als den des Mittelläufers. «Verstehst du, der Mittelläufer, der verteilt das Spiel. Und das Spiel verteilen, das ist Fußball.» Rambert war auch dieser Ansicht, obwohl er immer Mittelstürmer gewesen war. Die Diskussion wurde erst durch den Rundfunk unterbrochen, der bis jetzt halblaut sentimentale Melodien gesäuselt hatte und nun meldete, am Vortag seien 137 Menschen der Pest zum Opfer gefallen. Keiner der Anwesenden machte eine Bemerkung dazu. Der Mann mit dem Pferdekopf zuckte die Achseln und erhob sich. Raoul und Rambert folgten seinem Beispiel. Draußen schüttelte der Mittelläufer Rambert kräftig die Hand und sagte: «Ich heiße Gonzales.» Diese zwei Tage erschienen Rambert endlos lang. Er suchte Rieux auf und erzählte ihm in allen Einzelheiten die Schritte, die er unternommen hatte. Dann begleitete er den Arzt auf einem Krankenbesuch. Er verabschiedete sich von ihm an der Tür eines Hauses, wo den Arzt ein verdächtiger Kranker erwartete. Im Flur begann ein Laufen und Stimmenlärm; man benachrichtigte die Familie vom Erscheinen des Arztes. «Hoffentlich verspätet sich Tarrou nicht», murmelte Rieux. Er sah sehr müde aus. «Macht die Epidemie zu rasche Fortschritte?» erkundigte sich Rambert. Rieux sagte, das sei es nicht, die statistische Kurve steige sogar langsamer an. Nur gebe es einfach nicht genug Mittel, um gegen die Pest zu kämpfen. «Es fehlt uns an Material. In allen Armeen der Welt wird das fehlende Material ersetzt. Aber uns fehlt es auch an Menschen.» «Es sind doch Ärzte und Sanitätspersonal von draußen gekommen.» «Ja», sagte Rieux. «Zehn Ärzte und etwa hundert Mann. Das scheint viel. Das reicht kaum für den gegenwärtigen Stand der Krankheit. Das wird unzulänglich, wenn die Seuche sich ausbreitet.» Rieux horchte auf die Geräusche im Innern des Hauses. Dann lächelte er Rambert zu. «Ja, Sie sollten sich beeilen, wegzukommen.» Ein Schatten glitt über Ramberts Gesicht, und mit tonloser Stimme sagte er: «Sie wissen, daß es nicht das ist, was mich forttreibt.» Rieux antwortete, er wisse es; aber Rambert fuhr fort: «Ich glaube nicht, daß ich feige bin, wenigstens nicht oft. Ich habe Gelegenheit gehabt, das nachzuprüfen. Nur gibt es gewisse Gedanken, die ich nicht ertragen kann.» Der Arzt schaute ihm gerade ins Gesicht. «Sie werden sie wiederfinden», sagte er. «Vielleicht, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß dieser Zustand andauern wird und daß sie während all dieser Zeit altert. Mit dreißig Jahren beginnt man zu altern und muß jeden Tag nutzen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können.» Rieux murmelte, daß er zu verstehen glaube, als Tarrou in sehr angeregter Stimmung erschien. «Eben habe ich Paneloux aufgefordert, sich uns anzuschließen.» «Und?» fragte der Arzt. «Er hat überlegt und dann ja gesagt.» «Das freut mich», sagte Rieux. «Ich bin froh, daß er besser ist als seine Predigt.» «Alle Leute sind so», antwortete Tarrou lächelnd und zwinkerte Rieux zu, «sie müssen nur die Gelegenheit dazu haben.» Der Arzt entgegnete: «Das ist eine Aufgabe im Leben: die Gelegenheiten zu liefern.» «Entschuldigen Sie mich bitte», sagte Rambert, «aber ich muß gehen.» Am Donnerstag fand sich Rambert pünktlich fünf Minuten vor acht zu der verabredeten Zusammenkunft vor der Kathedrale ein. Es war noch ziemlich kühl. Am Himmel schwammen runde weiße Wölkchen, die die aufsteigende Hitze bald mit einem Schlag aufsaugen würde. Ein schwacher Geruch nach Feuchtigkeit entstieg dem längst ausgetrockneten Rasen. Die Sonne war noch hinter den Häusern im Osten versteckt und erwärmte erst den Helm der ganz vergoldeten Jeanne d'Arc, die den Platz ziert. Eine Uhr schlug acht. Rambert machte ein paar Schritte in der leeren Vorhalle. Undeutliches, eintöniges Geleier und modriger Geruch nach Kellern und Weihrauch drangen aus dem Innern bis zu ihm. Plötzlich verstummte der Gesang. Ein Dutzend kleiner schwarzer Gestalten trat aus der Kirche und trippelte der Stadt zu. Rambert wurde allmählich ungeduldig. Andere schwarze Gestalten stiegen die breite Treppe hinan und bewegten sich gegen den Eingang. Er zündete eine Zigarette an, dann fiel ihm ein, daß ihn der Ort vielleicht gar nicht dazu berechtigte. Ein Viertel nach acht begann die Orgel der Kathedrale gedämpft zu spielen. Rambert betrat das dunkle Gewölbe. Nach einiger Zeit konnte er im Schiff die kleinen schwarzen Gestalten erkennen, die vorhin an ihm vorbeigezogen waren. Sie waren alle in einer Ecke vor einem improvisierten Altar versammelt; dort wurde eben eine Statue des heiligen Rochus aufgestellt, die in aller Eile in einer unserer Werkstätten angefertigt worden war. Sie knieten und schienen so noch zusammengeschrumpfter, verloren im grauen Staub, wie Teile geronnenen Schattens, da und dort kaum dichter als der Nebel, in dem sie verschwammen. Über ihnen erging sich die Orgel in endlosen Variationen. Als Rambert wieder ins Freie trat, stieg Gonzales gerade die Treppe zur Stadt hinunter. «Ich glaubte, du seist gegangen», sagte er zum Journalisten. «Begreiflicherweise .» Er erklärte, daß er an einer anderen Stelle, nicht weit von hier, seine Freunde erwartet habe, die er auf zehn vor acht bestellt hatte. Aber er hatte zwanzig Minuten umsonst gewartet. «Irgend etwas hat sie verhindert, das ist sicher. Bei unserer Arbeit ist man nicht immer ungestört.» Er schlug eine andere Verabredung vor, auf den nächsten Tag, zur gleichen Zeit, vor dem Totendenkmal. Rambert seufzte und schob mit einer heftigen Bewegung seinen Hut ins Genick. «Das ist nicht so schlimm», schloß Gonzales lachend. «Denk doch nur, wie oft man kombinieren, durchbrechen und zuspielen muß, bis man ein Tor erzielt.» «Das schon», antwortete Rambert, «aber das ganze Spiel dauert nur eineinhalb Stunden.» Das Totendenkmal von Oran befindet sich an der einzigen Stelle, von der aus das Meer zu sehen ist, einer Art Promenade, die auf einer ziemlich kurzen Strecke an den Klippen über dem Hafen entlangführt. Am nächsten Morgen war Rambert wieder als erster zur Stelle und las aufmerksam die Namen auf dem Felde der Ehre Gefallenen. Wenige Minuten später näherten sich zwei Männer, schauten ihn gleichgültig an, lehnten sich dann gegen die Brüstung der Promenade und schienen völlig in den Anblick der verlassenen, öden Hafenanlagen versunken. Sie waren beide gleich groß, mit blauen Hosen und einem kurzärmeligen Matrosenleibchen bekleidet. Der Journalist entfernte sich ein wenig, setzte sich dann auf eine Bank und konnte sie nun nach Belieben beobachten. Da fiel ihm auf, daß sie beide sicher nicht über zwanzig Jahre alt waren. In diesem Augenblick gewahrte er Gonzales, der auf ihn zukam und sich entschuldigte. «Das sind unsere Freunde», sagte er und führte ihn zu den beiden jungen Leuten, die er ihm als Marcel und Louis vorstellte. Ihre Gesichter waren sehr ähnlich, und Rambert vermutete, sie seien Brüder. «So», sagte Gonzales, «die Bekanntschaft wäre geschlossen. Nun müssen wir die Sache selbst in Ordnung bringen.» Marcel, oder Louis, sagte darauf, ihre Wachablösung beginne am übernächsten Tag, dauere eine Woche, und unterdessen müsse man den günstigsten Tag ausfindig machen. Sie bewachten das westliche Tor zu viert, und die beiden anderen waren Berufssoldaten. Sie in die Geschichte einzuweihen kam nicht in Frage. Sie waren nicht zuverlässig, und überdies würde es die Kosten erhöhen. Aber es kam manchmal vor, daß die beiden Kameraden einen Teil der Nacht im Hinterzimmer einer ihnen bekannten Bar verbrachten. Marcel oder Louis, schlug Rambert deshalb vor, bei ihnen in der Nähe des Tores Wohnung zu nehmen und zu warten, bis er geholt werde. Der Übertritt werde dann ganz einfach sein. Doch müsse man sich beeilen, denn seit kurzem werde davon gesprochen, auch außerhalb der Stadt Doppelposten aufzustellen. Rambert war einverstanden und bot einige seiner letzten Zigaretten an. Dann erkundigte sich derjenige der beiden, der noch nicht gesprochen hatte, bei Gonzales, ob die Kostenfrage erledigt sei und ob man einen Vorschuß beziehen könne. «Nein», sagte Gonzales, «das ist überflüssig. Er ist ein Kamerad. Die Kosten werden beim Fortgehen entrichtet.» Sie verabredeten sich aufs neue. Gonzales schlug für den übernächsten Tag ein Nachtessen im spanischen Restaurant vor. Von dort aus könnten sie in die Wohnung der Wachen gehen. Und er sagte zu Rambert: «Die erste Nacht werde ich dir Gesellschaft leisten.» Am folgenden Tag begegnete Rambert, der auf sein Zimmer gehen wollte, Tarrou im Treppenhaus des Hotels. «Ich gehe zu Rieux», sagte er. «Kommen Sie mit?» «Ich bin nie sicher, ob ich nicht störe», erwiderte Rambert nach einigem Zögern. «Das glaube ich nicht, er hat mir viel von Ihnen erzählt.» Der Journalist überlegte. «Hören Sie», sagte er. «Wenn Sie nach dem Abendessen einen Augenblick Zeit haben, selbst wenn es spät ist, kommen Sie beide in die Bar des Hotels.» «Das kommt auf ihn und die Pest an», sagte Tarrou. Um elf Uhr abends jedoch betraten Rieux und Tarrou die kleine, enge Bar. Etwa dreißig Leute drängten sich darin und unterhielten sich sehr laut. Die beiden Ankömmlinge, die aus dem Schweigen der verpesteten Stadt kamen, blieben wie betäubt stehen. Sie begriffen die Ausgelassenheit, als sie merkten, daß hier noch Alkohol ausgeschenkt wurde. Rambert saß an einem Ende des Lokals und winkte sie von seinem Barstuhl aus herbei. Sie umringten ihn, und Tarrou schob gelassen einen lärmenden Nachbarn beiseite. «Haben Sie keine Angst vor dem Alkohol? » «Nein», sagte Tarrou, «im Gegenteil.» Rieux zog den Geruch von bitteren Krautern ein, der seinem Glas entstieg. Es war schwierig, in diesem Tumult zu sprechen, aber Rambert schien vor allem mit Trinken beschäftigt. Der Arzt konnte noch nicht beurteilen, ob er betrunken war. An einem der beiden Tische, die den übrigen Platz des schmalen Raums einnahmen, erzählte ein Marineoffizier mit einer Frau an jedem Arm einem dicken Mann mit hochrotem Gesicht von einer Typhusepidemie in Kairo: «Lager», erzählte er, «man hat Lager für die Eingeborenen hergerichtet, mit Zelten für die Kranken und ringsherum eine Reihe Schildwachen, die auf die Angehörigen schoß, wenn sie versuchten, Hausmittelchen hereinzuschmuggeln. Das war hart, aber gerecht.» Am anderen Tisch saßen elegante junge Leute, deren Gespräch unverständlich war und sich in den Takten von St. James Infirmary verlor, die ein Lautsprecher von hoch oben über die Anwesenden ergoß. Rieux erhob die Stimme, um zu fragen: «Sind Sie zufrieden?» «Der Augenblick nähert sich», sagte Rambert, «vielleicht im Laufe der Woche.» «Schade!» rief Tarrou. «Warum?» Tarrou schaute Rieux an. «Ach so!» meinte dieser. «Tarrou sagt das, weil er denkt, daß Sie uns hier hätten nützlich sein können. Ich aber verstehe Ihren Wunsch fortzugehen nur zu gut.» Tarrou zahlte eine weitere Runde. Rambert kletterte von seinem Stuhl herunter und schaute ihm zum erstenmal gerade ins Gesicht. «Worin könnte ich Ihnen nützlich sein?» «Nun», sagte Tarrou, während er, ohne sich zu beeilen, die Hand nach seinem Glas ausstreckte, «in unseren Sanitätsgruppen.» Rambert nahm von neuem den ihm eigenen Ausdruck trotzigen Nachdenkens an und bestieg wieder seinen Stuhl. «Scheinen Ihnen diese Gruppen nicht nützlich?» fragte Tarrou, nachdem er getrunken hatte, und blickte Rambert aufmerksam an. «Sehr nützlich», sagte der Journalist und trank. Rieux fiel auf, daß seine Hand zitterte. Er dachte, daß er wirklich und wahrhaftig ganz betrunken sei. Am nächsten Tag, als Rambert das spanische Restaurant zum zweitenmal betrat, ging er durch eine kleine Gruppe von Männern, die Stühle vor den Eingang hinausgetragen hatten, um einen grüngoldenen Abend zu genießen, in dem die Hitze eben erst abzuklingen begann. Sie rauchten einen scharf riechenden Tabak. Im Innern des Lokals befand sich fast niemand. Rambert setzte sich an den Tisch im Hintergrund, wo er Gonzales zum erstenmal begegnet war. Er sagte der Kellnerin, daß er warten wolle. Es war 19 Uhr 30. Allmählich kamen die Männer in den Eßsaal und setzten sich an die Tische. Man fing an, sie zu bedienen. Und das niedrige Gewölbe wurde vom Klappern der Bestecke und von halblaut geführten Unterhaltungen erfüllt. Um 20 Uhr wartete Rambert immer noch. Es wurde Licht gemacht. Neue Gäste nahmen an seinem Tisch Platz. Er bestellte sein Essen. Um 20 Uhr 30 war er fertig, ohne Gonzales oder die beiden jungen Leute gesehen zu haben. Er rauchte Zigaretten. Langsam leerte sich der Saal. Draußen wurde es plötzlich Nacht. Ein lauer Luftzug, der vom Meer kam, blähte die Vorhänge an den Fenstertüren ein wenig. Um 21 Uhr merkte Rambert, daß der Saal leer war und daß die Kellnerin ihn verwundert betrachtete. Er zahlte und ging. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein offenes Café. Rambert blieb am Schanktisch und überwachte den Eingang des Restaurants. Um 21 Uhr 30 machte er sich auf den Weg zu seinem Hotel und überlegte vergeblich, wie er Gonzales erreichen konnte, dessen Adresse er nicht kannte. Das Herz wurde ihm schwer bei dem Gedanken an alle Schritte, die er nun nochmals unternehmen mußte. In diesem Augenblick, in der von flüchtigen Krankenwagen durcheilten Nacht, merkte er, wie er sich später Dr. Rieux gegenüber ausdrückte, daß er während all dieser Zeit seine Frau irgendwie vergessen hatte, um sich ganz darauf zu konzentrieren,, eine Lücke in den Mauern zu finden, die ihn von ihr trennten. Aber in diesem selben Augenblick, als wieder einmal alle Wege verbaut waren, fand er sie auch wieder im Mittelpunkt seines Verlangens, und zwar mit einem so plötzlichen, stechenden Schmerz, daß er zu seinem Hotel zu rennen anfing, um diesem unerträglichen Brennen zu entfliehen, das er doch in sich trug und das ihm die Schläfen verzehrte. Am nächsten Morgen suchte er indessen sehr früh Rieux auf, um ihn zu fragen, wie er Cottard wohl finden könne. «Es bleibt mir nichts anderes übrig», sagte er, «als von neuem der ganzen Kette nachzugehen.» «Kommen Sie morgen abend», sagte Rieux. «Tarrou hat mich gebeten, Cottard einzuladen, warum, weiß ich nicht. Er soll um zehn Uhr kommen. Erscheinen Sie halb elf.» Als Cottard am nächsten Abend zu Rieux kam, sprachen Tarrou und der Arzt gerade von einer unerwarteten Heilung, die sich in Rieux' Abteilung ereignet hatte. «Einer auf zehn, er hat Glück gehabt», sagte Tarrou. «Ach», sagte Cottard, «schön, es war eben nicht die Pest.» Sie versicherten ihm, daß es sich wirklich um diese Krankheit handelte. «Das ist nicht möglich, da er gesund geworden ist. Sie wissen so gut wie ich, die Pest vergibt nicht.» «Im allgemeinen nicht», sagte Rieux. «Aber mit ein wenig Zähigkeit erlebt man Überraschungen.» Cottard lachte. «Es sieht nicht so aus. Haben Sie die Zahlen gehört heute abend?» Tarrou blickte den Rentner wohlwollend an und sagte, er kenne die Ziffern. Gewiß war die Lage ernst, aber was bewies das schon? Das bewies, daß noch außerordentlichere Maßnahmen nötig waren. «Nun! Sie haben sie ja bereits getroffen.» «Ja, aber jeder einzelne muß sie für sich treffen.» Cottard schaute Tarrou verständnislos an. Der erklärte ihm, daß zu viele Menschen untätig bleiben, die Seuche jeden einzelnen anging und jeder einzelne seine Pflicht tun müsse. Die Sanitätsgruppen standen allen Leuten offen. «Das ist eine Idee», sagte Cottard, «aber es wird nichts helfen. Die Pest ist zu stark.» «Wir werden es wissen», sagte Tarrou geduldig, «wenn wir alles versucht haben.» Unterdessen schrieb Rieux an seinem Arbeitstisch Zettel ab. Tarrou betrachtete noch immer den Rentner, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. «Warum sollten Sie nicht zu uns kommen, Herr Cottard?» Der andere erhob sich mit beleidigter Miene und nahm seine Melone zur Hand. «Es ist nicht mein Beruf», und dann in herausforderndem Ton: «Überhaupt fühle ich mich wohl in der Pest, und ich sehe nicht ein, warum ich mich dreinmischen sollte, um sie aufzuhalten.» Tarrou schlug sich an die Stirn, wie von einer plötzlichen Erkenntnis erleuchtet. «Ach so! Richtig, ich vergaß. Ohne die Pest würden Sie ja verhaftet!» Cottard zuckte zusammen und klammerte sich an den Stuhl, als sei er am Umfallen. Rieux hatte zu schreiben aufgehört und sah ihn mit ernsthafter Aufmerksamkeit an. «Wer hat Ihnen das gesagt?» schrie der Rentner. Tarrou schien überrascht und sagte: «Aber Sie selbst. Oder wenigstens haben Dr. Rieux und ich Sie so verstanden.» Und da Cottard, plötzlich von ohnmächtiger Wut erfüllt, unverständliche Worte stammelte, fügte er hinzu: «Regen Sie sich doch nicht auf! Wir werden Sie schon nicht anzeigen. Ihre Geschichte geht uns nichts an. Und zudem - die Polizei, die haben wir nie geliebt. Kommen Sie, setzen Sie sich wieder.» Der Rentner schaute seinen Stuhl an, zögerte und setzte sich dann. Nach einer Weile seufzte er. «Es ist eine alte Geschichte, die sie wieder ausgegraben haben», gab er zu. «Ich glaubte, es sei vergessen. Aber es war da einer, der hat geschwatzt. Sie haben mich vorgeladen und gesagt, ich müsse mich bis zum Ende der Untersuchung zu ihrer Verfügung halten. Ich habe begriffen, daß sie mich schließlich verhaften würden.» «Ist es schlimm?» erkundigte sich Tarrou. «Es kommt darauf an, was Sie meinen. Jedenfalls kein Mord.» «Gefängnis oder Zuchthaus?» Cottard schien sehr niedergeschlagen. «Gefängnis, wenn ich Glück habe ...» Aber gleich darauf fuhr er mit erneuter Heftigkeit fort: «Es ist ein Irrtum! Alle Menschen begehen Irrtümer. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich deshalb abgeführt werden soll, getrennt von meinem Haus, von meinen Gewohnheiten, von allen, die ich kenne.» «Aha!» meinte Tarrou. «Deshalb haben Sie also den Einfall gehabt, sich zu erhängen?» «Ja, gewiß, eine Dummheit.» Nun griff Rieux in ihr Gespräch ein und sagte zu Cottard, er verstehe seine Beunruhigung, aber vielleicht werde doch noch alles in Ordnung kommen. «Oh! Ich weiß wohl, daß ich für den Augenblick nichts zu fürchten habe.» «Ich sehe», sagte Tarrou, «daß Sie nicht in unseren Dienst eintreten werden.» Der andere drehte seinen Hut in den Händen und schaute Tarrou unsicher an. «Sie dürfen mir deshalb nicht böse sein.» «Sicherlich nicht. Aber», fügte Tarrou lächelnd hinzu, «versuchen Sie wenigstens, die Mikroben nicht absichtlich auszustreuen.» Cottard versicherte, er habe die Pest nicht gewollt, sie sei einfach so gekommen, und schließlich sei es nicht seine Schuld, wenn sie für den Augenblick seiner Sache diene. Und als Rambert hereinkam, fügte der Rentner mit sehr entschiedener Stimme hinzu: «Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß Sie nichts erreichen werden.» Rambert erfuhr, daß Cottard nicht wußte, wo Gonzales wohnte; aber man konnte immerhin wieder in die kleine Wirtschaft gehen. Sie verabredeten sich auf den nächsten Tag. Und da Rieux den Wunsch äußerte, auf dem laufenden gehalten zu werden, lud Rambert ihn mit Tarrou zusammen ein, am Wochenende zu irgendeiner Stunde der Nacht zu ihm aufs Zimmer zu kommen. Am Morgen begaben sich Cottard und Rambert in die kleine Wirtschaft und bestellten Garcia auf den gleichen Abend oder auf den nächsten, falls er verhindert sein sollte. Am Abend erwarteten sie ihn umsonst. Am anderen Tag war Garcia da. Er hörte sich schweigend Ramberts Geschichte an. Er war nicht genau unterrichtet, aber er wußte, daß ganze Stadtteile während 24 Stunden abgeriegelt worden waren, weil man Wohnsitzkontrollen durchführte. Möglicherweise hatten Gonzales und die beiden jungen Burschen die Sperre nicht durchbrechen können. Immerhin konnte er Rambert wieder mit Raoul in Verbindung bringen. Natürlich würde das nicht vor übermorgen möglich sein. «Ich verstehe», sagte Rambert, «ich muß ganz von vorne anfangen.» Am übernächsten Tag bestätigte Raoul an einer Straßenecke Garcias Vermutung; die untere Stadt war abgeriegelt worden. Man mußte wieder mit Gonzales Fühlung nehmen. Zwei Tage später aß Rambert mit dem Fußballspieler zu Mittag. «Es ist zu dumm», sagte dieser, «wir hätten Mittel und Wege ausmachen sollen, um die Verbindung wieder aufnehmen zu können.» Rambert war auch dieser Meinung. «Morgen früh werden wir die Kleinen aufsuchen und alles in Ordnung zu bringen trachten.» Am anderen Tag waren die Kleinen nicht zu Hause. Man hinterließ ihnen eine Verabredung für den nächsten Mittag, Place du Lycee. Und Rambert ging mit einem Gesichtsausdruck heim, der Tarrou betroffen machte, als er ihm am Nachmittag begegnete. «Geht es nicht?» fragte er. «Ich muß alles von vorne anfangen», sagte Rambert. Und er wiederholte seine Einladung: «Kommen Sie heute abend!» Als die beiden Männer am Abend Ramberts Zimmer betraten, hatte sich dieser niedergelegt. Er erhob sich und füllte die Gläser, die er bereitgestellt hatte. Rieux nahm sein Glas und fragte ihn, ob die Sache auf guten Wegen sei. Der Journalist gab zur Antwort, daß er von neuem den ganzen Kreislauf gemacht habe, nun wieder am gleichen Punkt angelangt sei und bald zu seiner letzten Verabredung gehen werde. Er trank und fügte hinzu: «Natürlich werden sie nicht kommen.» «Man darf das nicht zur Regel machen», sagte Tarrou. «Sie haben noch nicht begriffen», erwiderte Rambert achselzuckend. «Was denn?» «Die Pest.» «Ach!» rief Rieux. «Nein, Sie haben noch nicht begriffen, daß sie darin besteht, wieder von vorne anzufangen.» Rambert ging in eine Ecke seines Zimmers und öffnete ein kleines Grammophon. «Wie heißt diese Platte?» fragte Tarrou. «Ich kenne sie.» Rambert erwiderte, es sei St. James Infirmary. Mitten im Ablauf der Platte hörte man in der Ferne zwei Schüsse krachen. «Ein Hund oder ein Fluchtversuch», sagte Tarrou. Einen Augenblick später war die Platte zu Ende, und man vernahm das Bimmeln eines Krankenwagens, das lauter wurde, unter den Fenstern des Hotelzimmers vorbeizog, abnahm und schließlich erlosch. «Diese Platte ist nicht lustig», sagte Rambert. «Und dann ist es gut das zehnte Mal, daß ich sie heute höre.» «Haben Sie sie denn so gern?» «Nein, aber ich besitze nur diese.» Und nach einer Pause: «Ich sage Ihnen ja, daß es darin besteht, wieder von vorne anzufangen.» Er fragte Rieux, wie sich die Sanitätsgruppen entwickelten. Es waren fünf Mannschaften an der Arbeit. Man hoffte, weitere aufstellen zu können. Der Journalist saß auf seinem Bett und schien von seinen Fingernägeln in Anspruch genommen. Rieux betrachtete seine gedrängte, kraftvolle Gestalt, die auf dem Bettrand kauerte. Plötzlich bemerkte er, daß Rambert ihn anschaute. «Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe viel an Ihre Organisation gedacht. Wenn ich nicht mit Ihnen bin, so habe ich dafür meine Gründe. Abgesehen davon glaube ich, daß ich mein Leben noch einzusetzen wüßte; ich habe den spanischen Bürgerkrieg mitgemacht.» «Auf welcher Seite?» fragte Tarrou. «Auf der Seite der Besiegten. Aber seither habe ich ein wenig nachgedacht.» «Worüber?» warf Tarrou ein. «Über den Mut. Jetzt weiß ich, daß der Mensch zu großen Taten fähig ist. Aber wenn er zu keinem großen Gefühl fähig ist, interessiert er mich nicht.» «Man hat den Eindruck, daß er zu allem fähig ist», sagte Tarrou. «Eben nicht. Er ist unfähig, lange Zeit zu leiden oder glücklich zu sein. Er ist also zu nichts fähig, das Wert hätte.» Er schaute sie an und sagte dann: «Was meinen Sie, Tarrou, sind Sie fähig, für eine große Liebe zu sterben?» «Ich weiß nicht, aber jetzt scheint es mir kaum mehr möglich.» «Da haben wir es. Und Sie sind fähig, für eine Idee zu sterben, das sieht man mit bloßem Auge. Nun gut, ich habe genug von den Leuten, die für eine Idee sterben. Ich glaube nicht an das Heldentum. Ich weiß, daß es leicht ist, und ich habe erfahren, daß es mörderisch ist. Mich interessiert nur noch, von dem zu leben und an dem zu sterben, was ich liebe.» Rieux hatte den Journalisten aufmerksam angehört. Ohne seinen Blick von ihm abzuwenden, sagte er sanft: «Der Mensch ist keine Idee, Rambert.» Der andere sprang von seinem Bett herab. Sein Gesicht glühte leidenschaftlich. «Er ist eine Idee, und zwar eine kurzsichtige Idee, sobald er sich von der Liebe abwendet. Und gerade der Liebe sind wir nicht mehr fähig. Schicken wir uns darein, Herr Doktor! Warten wir darauf, es zu werden, und wenn es wirklich nicht möglich ist, warten wir auf die allgemeine Erlösung, ohne den Helden zu spielen. Ich gehe nicht weiter.» Rieux erhob sich, er schien plötzlich ermattet. «Sie haben recht, Rambert, vollkommen recht, und ich wollte Sie um alles in der Welt nicht von Ihrem Vorhaben abbringen, das mir richtig und gut erscheint. Aber dennoch muß ich es Ihnen sagen: es handelt sich nicht um Heldentum in dieser ganzen Sache. Es handelt sich um Ehrlichkeit. Dieser Gedanke kann lächerlich wirken, aber die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.» «Was ist Ehrlichkeit?» fragte Rambert mit unvermittelt ernstem Gesicht. «Ich weiß nicht, was sie im allgemeinen ist. Aber in meinem Fall, das weiß ich, besteht sie darin, daß ich meinen Beruf ausübe.» «Ah!» sagte Rambert grimmig. «Aber ich weiß nicht, welches mein Beruf ist. Vielleicht bin ich im Unrecht, weil ich die Liebe wähle.» Rieux stellte sich gerade vor ihn hin. «Nein», sagte er mit Entschiedenheit, «Sie sind nicht im Unrecht.» Rambert schaute seine Gäste nachdenklich an. «Ich vermute, daß Sie beide nichts dabei zu verlieren haben. Es ist leichter, auf der guten Seite zu stehen.» Rieux leerte sein Glas. «Wir müssen weiter», sagte er, «wir haben zu tun.» Er ging hinaus. Tarrou folgte ihm, schien sich jedoch beim Fortgehen anders zu besinnen, kehrte sich nochmals dem Journalisten zu und sagte: «Wissen Sie eigentlich, Rambert, daß Rieux' Frau ein paar hundert Kilometer von hier in einem Sanatorium ist?» Rambert machte eine überraschte Bewegung, aber Tarrou war schon verschwunden. Am anderen Morgen in aller Frühe rief Rambert den Arzt an: «Wären Sie einverstanden, mich mit Ihnen arbeiten zu lassen, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, aus der Stadt herauszukommen?» Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause, und dann: «Ja, Rambert, ich danke Ihnen.» 3 So wehrten sich die Gefangenen der Pest Woche um Woche, so gut es ging. Und wie man sieht, gab es sogar ein paar unter ihnen, die sich, wie Rambert, einbilden konnten, sie handelten noch als freie Menschen, sie vermöchten es noch, eine eigene Wahl zu treffen. Aber in Wahrheit konnte man zu dieser Zeit, Mitte August, sagen, daß die Pest alles überschwemmt hatte. Da gab es keine Einzelschicksale mehr, sondern nur noch ein gemeinschaftliches Erleben: das der Pest und der von allen empfundenen Gefühle. Das größte war die Trennung und die Verbannung, mit allem, was sie an Angst und Auflehnung mit sich brachte. Darum findet der Erzähler, auf diesem Höhepunkt der Hitze und der Krankheit sei es angezeigt, ganz allgemein und als Beispiel die Gewalttaten der Lebenden, die Beerdigungen der Toten und das Leiden der getrennten Liebenden zu schildern. In der Mitte jenes Jahres erhob sich der Wind und wehte mehrere Tage lang durch die verpestete Stadt. Der Wind wird von den Einwohnern Orans besonders gefürchtet, weil sich auf der Hochebene, auf der die Stadt liegt, kein natürliches Hindernis entgegenstellt und er deshalb mit seiner ganzen Heftigkeit in die Straßen hineinstürmt. Die Stadt war nach den langen Monaten, da kein Tropfen Wasser ihr Erfrischung gebracht hatte, mit einer grauen Schicht überzogen, die unter den Windstößen abblätterte. Staub- und Papierwolken wirbelten auf und peitschten gegen die Beine der seltener gewordenen Spaziergänger, die vornübergebeugt durch die Straßen eilten und ein Taschentuch oder die Hand auf den Mund drückten. Am Abend sah man kleine Gruppen von Leuten, die nach Hause oder ins Café eilten, während sie sich bisher zusammengefunden hatten, um die Tage, von denen jeder der letzte sein konnte, möglichst zu verlängern. So waren die Straßen mehrere Tage lang in der Dämmerung, die um diese Zeit viel schneller hereinbrach, menschenleer, und nur der Wind klagte unaufhörlich. Vom bewegten und immer unsichtbaren Meer stieg ein Geruch von Algen und Salz auf. Die verlassene, staubgebleichte Stadt, durchdrungen von Meeresgerüchen, erfüllt vom Heulen des Windes, stöhnte dann wie eine unselige Insel. Bisher hatte die Pest in den dichter bevölkerten und der Hygiene ermangelnden Außenquartieren viel mehr Opfer gefordert als in der Innenstadt. Aber plötzlich schien sie sich zu nähern und sich auch in den Geschäftsvierteln einzunisten. Die Einwohner beschuldigten den Wind, er übertrage die Ansteckungskeime. «Er stiftet Verwirrung», sagte der Hoteldirektor. Aber dem mochte sein wie dem wollte, jedenfalls wußte die Innenstadt, daß die Reihe an sie gekommen war, wenn sie nachts ganz nahe das immer häufigere Bimmeln der Krankenwagen hörte, die unter ihren Fenstern den trüben, leidenschaftslosen Ruf der Pest ertönen ließen. Man kam auf den Gedanken, innerhalb der Stadt selbst gewisse, besonders stark betroffene Viertel abzusperren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, das Verlassen zu gestatten. Die Leute, die bisher dort gelebt hatten, konnten nicht umhin, diese Maßnahme als besonders gegen sie gerichtete Schikane anzusehen und betrachteten auf alle Fälle im Gegensatz zu sich die Bewohner der anderen Viertel als freie Menschen. Diese ihrerseits trösteten sich dafür in ihren schweren Stunden mit dem Gedanken, daß andere noch weniger frei waren als sie. «Es gibt immer einen, der noch mehr gefangen ist als ich», war der Satz, der damals ihre einzig mögliche Hoffnung zusammenfaßte. Ebenfalls um ungefähr diese Zeit stellte man immer häufiger Feuersbrünste fest, und zwar hauptsächlich in den Vergnügungsvierteln an den westlichen Stadttoren. Erkundigungen ergaben, daß es sich um aus der Quarantäne zurückgekehrte Leute handelte, die vor Trauer und Unglück den Kopf verloren und ihr Haus in Brand steckten, weil sie sich einbildeten, die Pest darin zu vernichten. Man hatte große Mühe, diese Unternehmungen zu bekämpfen; ihre Häufigkeit setzte des heftigen Windes wegen ganze Viertel ständiger Gefahr aus. Nachdem man vergeblich erklärt hatte, daß die von den Behörden durchgeführte Desinfektion der Häuser jede Ansteckungsgefahr ausschließe, mußte man sehr strenge Strafen über diese unschuldigen Brandstifter verhängen. Und zweifellos war es nicht der Gedanke an das Gefängnis, der dann die Unglücklichen zurückschrecken ließ, sondern die allen Einwohnern gemeinsame Gewißheit, daß infolge der ungewöhnlich hohen Sterblichkeit im städtischen Kerker eine Gefängnisstrafe einem Todesurteil gleichkam. Dieser Glaube war durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Aus einleuchtenden Gründen schien die Pest es ganz besonders auf alle jene abgesehen zu haben, die gewöhnlich in Gruppen lebten: Soldaten, Mönche oder Sträflinge. Denn trotz der Absonderung gewisser Häftlinge bildet ein Gefängnis eine Gemeinschaft, und die Tatsache, daß in unserem städtischen Gefängnis die Wärter so gut wie die Sträflinge der Krankheit ihren Tribut zahlten, ist dafür Beweis genug. Vom höheren Standpunkt der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Gefangenen alle verurteilt, und vielleicht zum erstenmal im Gefängnis bedingungslose Gerechtigkeit. Vergeblich versuchten die Behörden, in diese Gleichschaltung eine Rangordnung einzuführen, indem sie auf den Gedanken kamen, die in der Ausübung ihrer Pflicht gestorbenen Gefängniswärter mit einem Orden auszuzeichnen. Da der Belagerungszustand verhängt war und in gewisser Hinsicht die Wärter als Mobilisierte betrachtet werden konnten, verlieh man ihnen nach ihrem Tod die Militärmedaille. Aber wenn auch die Häftlinge keinen Einspruch dagegen erhoben, so nahmen doch die militärischen Stellen die Sache krumm und wiesen darauf hin, daß in den Gemütern der Leute eine bedauerliche Verwirrung entstehen könnte. Man berücksichtigte ihren Einspruch und fand es am einfachsten, den Wärtern, die starben, den Orden der Epidemie zu verleihen. Aber bei den ersten war das Unglück schon geschehen, und es war natürlich ausgeschlossen, ihnen den Orden wieder wegzunehmen, obwohl das Militär auf seinem Standpunkt beharrte. Was aber andererseits den Orden der Epidemie betraf, so hatte er den Nachteil, nicht die gleiche moralische Wirkung hervorzurufen wie die Militärmedaille, da es in Epidemiezeiten nichts Besonderes war, eine Auszeichnung solcher Art zu erhalten. Die Unzufriedenheit war demzufolge allgemein. Außerdem konnten die Strafbehörden nicht vorgehen wie die kirchlichen und in geringerem Maße auch die militärischen. Die Mönche der beiden einzigen Klöster der Stadt waren nämlich verteilt worden und wohnten vorläufig bei frommen Familien. Im Rahmen des Möglichen waren auch kleine Abteilungen aus den Kasernen entfernt und in Schulhäusern oder öffentlichen Gebäuden einquartiert worden. So zerstörte die Krankheit, die scheinbar die Bevölkerung zu einer Gemeinschaft von Belagerten gezwungen hatte, gleichzeitig die hergebrachten Verbindungen und überantwortete den einzelnen seiner Einsamkeit. Das schuf Verwirrung. Man kann sich vorstellen, daß alle diese Umstände, zusammen mit dem Wind, auch gewisse Köpfe in Brand steckten. Die Stadttore wurden von neuem und wiederholt des Nachts angegriffen, aber diesmal von kleinen bewaffneten Trupps. Man wechselte Schüsse, es gab Verwundete, und einige konnten fliehen. Die Wachtposten wurden verstärkt, und diese Versuche hörten ziemlich schnell auf. Sie hatten jedoch genügt, um in der Stadt einen Anflug von Aufruhr zu entfachen, der ein paar Gewalttaten hervorrief. Brennende oder aus Gesundheitsgründen geschlossene Häuser wurden geplündert. Ehrlich gesagt ist es schwer, zu glauben, daß diese Handlungen mit Vorbedacht geschahen. In den meisten Fällen verleitete eine unverhoffte Gelegenheit bis dahin ehrenwerte Leute zu strafbaren Taten, die sogleich nachgeahmt wurden. So gab es Rasende, die sich in ein noch brennendes Haus stürzten, während der vor Schmerz stumpfsinnige Besitzer daneben stand. Durch diese Gleichgültigkeit wurden viele Zuschauer gereizt, es den ersten gleichzutun, und in der dunklen, nur von der Brandröte erhellten Straße sah man nach allen Seiten Schatten auseinanderfliehen, verzerrt von den niedersinkenden Flammen und den Gegenständen oder Möbeln, die sie auf den Schultern trugen. Diese Zwischenfälle zwangen die Behörden, den Pestzustand dem Belagerungszustand gleichzusetzen und die entsprechenden Gesetze anzuwenden. Man erschoß zwei Diebe, aber es kann bezweifelt werden, ob das den anderen Eindruck machte, denn inmitten so vieler Toten erregten diese zwei Hinrichtungen kein Aufsehen: es war ein Tropfen Wasser ins Meer. Und in Wahrheit wiederholten sich derartige Vorgänge ziemlich häufig, ohne daß die Behörden Miene machten, einzuschreiten. Die einzige Maßnahme, die alle Leute zu beeindrucken schien, war die Verhängung des Ausgehverbotes. Von elf Uhr an erstarrte die in vollständige Nacht gehüllte Stadt zu Stein. Unter dem mondhellen Himmel reihte sie ihre weißen Mauern und die geraden Straßen aneinander, die nirgends durch die schwarzen Schatten eines Baumes befleckt wurden, die kein Schritt und kein Hundegebell störte. Die große, schweigende Stadt war dann nur noch eine Anhäufung massiver, regloser Klötze, zwischen denen allein die schweigsamen Bildnisse vergessener Wohltäter oder ehemaliger großer, nun auf immer in Bronze erstickter Männer versuchten, mit ihren falschen Gesichtern aus Stein oder Eisen einen verzerrten Abglanz dessen zu geben, was der Mensch gewesen war. Diese mittelmäßigen Götzenbilder thronten wie gefühllose Rohlinge auf leblosen Plätzen unter einem schweren Himmel und versinnbildlichten ziemlich gut das unbewegliche Reich, in das wir eingetreten waren, oder zumindest seine letzte Ordnung: die einer Totenstadt, wo Pest, Stein und Nacht schließlich jede Stimme zum Schweigen brachten. Aber Nacht war es auch in allen Herzen, und die wahren und falschen Geschichten, die man sich über die Begräbnisse erzählte, waren nicht dazu angetan, unsere Mitbürger zu beruhigen. Der Erzähler entschuldigt sich, aber es muß eben von den Begräbnissen gesprochen werden. Er fühlt den Vorwurf wohl, den man ihm deswegen machen könnte, und seine einzige Rechtfertigung ist, daß es während dieser ganzen Zeit Begräbnisse gab und daß man ihn, wie alle seine Mitbürger, in gewissem Maße zwang, sich damit zu befassen. Er tut es auf jeden Fall nicht, weil er an dieser Art Feierlichkeiten Geschmack fände, im Gegenteil, er zieht die Gesellschaft der Lebenden vor, die Meerbäder, um ein Beispiel zu nennen. Aber schließlich waren die Meerbäder untersagt worden, und die Gesellschaft der Lebenden fürchtete tagein, tagaus, der Gesellschaft der Toten den Vorrang lassen zu müssen. Das war die Wirklichkeit. Wohlverstanden konnte man sich immer bemühen, sie nicht zu sehen, die Augen zu schließen und sie abzulehnen. Aber die Wirklichkeit besitzt eine schreckliche Kraft, die zum Schluß alles überwindet. Wie könnte man zum Beispiel die Begräbnisse an dem Tag ablehnen, da geliebte Menschen ein Begräbnis nötig haben? Nun, was am Anfang unsere Zeremonien auszeichnete, war die Schnelligkeit! Alle Formalitäten waren vereinfacht und die Begräbnisfeierlichkeiten ganz allgemein abgeschafft worden. Die Kranken starben fern von ihrer Familie, und man hatte die rituelle Totenwache verboten, so daß der am Abend Gestorbene die Nacht ganz allein verbrachte, und der, der untertags starb, ohne Verzug bestattet wurde. Selbstverständlich benachrichtigte man die Angehörigen, aber die konnten sich meistens nicht frei bewegen, da sie in Quarantäne waren, wenn sie mit dem Kranken gelebt hatten. In den Fällen, wo die Familie nicht mit dem Verstorbenen zusammengewohnt hatte, stellte sie sich zur Abfahrt nach dem Friedhof ein, wenn die Leiche schon gewaschen und eingesargt war. Nehmen wir an, diese Formalität habe im Hilfsspital stattgefunden, dem Dr. Rieux vorstand. Die Schule hatte hinter dem Hauptgebäude einen Ausgang. Eine große Gerümpelkammer, die auf den Flur ging, enthielt Särge. Auf dem Flur selber fand die Familie einen einzigen schon geschlossenen Sarg vor. Man ging sogleich zum Wichtigsten über, das heißt, das Familienoberhaupt mußte Papiere unterschreiben. Dann lud man den Leichnam in ein Auto, das entweder ein richtiger Leichenwagen oder ein großer, umgebauter Krankenwagen war. Die Angehörigen stiegen in einen der noch erlaubten Mietwagen, und die Autos fuhren mit aller Geschwindigkeit durch die Außenviertel zum Friedhof. An der Pforte hielten Polizisten den Zug auf, drückten einen Stempel auf den amtlichen Passierschein, ohne den es unmöglich war, eine letzte Ruhestätte zu bekommen, wie unsere Mitbürger das nannten; dann traten sie beiseite, und die Wagen hielten auf einem viereckigen Platz, wo zahlreiche Gruben bereit waren. Ein Priester empfing die Leiche, denn die Trauerfeierlichkeiten in der Kirche waren abgeschafft worden. Unter Gebeten hob man den Sarg herunter, umwickelte ihn mit einem Seil, schleifte ihn, er glitt, stieß auf dem Grund auf, der Priester schwang seinen Weihwedel, und schon polterten die ersten Erdschollen auf den Deckel. Kurz zuvor war der Krankenwagen weggefahren, um sich einer Desinfektion zu unterziehen, und während die Schaufeln voll Lehm immer dumpfer ertönten, verkroch sich die Familie wieder in den Mietwagen. Eine Viertelstunde später war sie zu Hause. So ging wirklich alles mit einem Maximum an Schnelligkeit und einem Minimum an Gefahr vor sich. Und zweifellos wurde das natürliche Empfinden der Familien wenigstens am Anfang dadurch verletzt. Aber das sind Rücksichten, die man in Pestzeiten nicht walten lassen kann: alles mußte der Wirksamkeit geopfert werden. Wenn übrigens zu Beginn die Moral der Bevölkerung unter diesem Vorgehen gelitten hatte - denn der Wunsch, anständig begraben zu werden, ist verbreiteter, als man glaubt -, so wurde zum Glück ein wenig später die Ernährungsfrage heikel und lenkte das Interesse der Leute auf dringlichere Sorgen. Wenn die Einwohner essen wollten, wurden sie vollauf beschäftigt mit Schlangestehen, Schritte unternehmen und Formalitäten erfüllen, so daß ihnen keine Zeit blieb, an die Art und Weise zu denken, wie man rings um sie starb und wie sie selbst eines Tages sterben würden. So entpuppten sich diese materiellen Schwierigkeiten, die eigentlich ein Übel waren, später als eine Wohltat. Und alles wäre zum besten bestellt gewesen, wenn die Seuche nicht weiter um sich gegriffen hätte. Denn nun wurden die Särge seltener, für die Leichentücher mangelte es an Leinwand und im Friedhof an Platz. Man mußte sich anders behelfen. Das einfachste, immer von der Wirksamkeit aus betrachtet, schien, die Feierlichkeiten zusammenzufassen und, wenn nötig, die Fahrten zwischen Spital und Kirchhof zu vermehren. Rieux' Abteilung verfügte zum Beispiel zu jener Zeit über fünf Särge. Wenn sie alle besetzt waren, wurden sie in den Krankenwagen geladen. Auf dem Friedhof leerte man die Kisten, die bleifarbenen Leichen wurden auf Bahren gelegt und warteten in einem dazu hergerichteten Schuppen. Die Särge wurden mit einer antiseptischen Lösung begossen, ins Spital zurückgefahren, und das Ganze wiederholte sich, so oft es nötig war. Die Organisation war also sehr gut, und der Präfekt zeigte sich befriedigt. Er sagte sogar zu Rieux, es sei schließlich besser als die von Negern geschobenen Totenkarren, von denen die alten Pestchroniken berichteten. «Ja», sagte Rieux, «das Begräbnis bleibt sich gleich, aber wir fertigen wenigstens Zettel an. Der Fortschritt ist unbestreitbar.» Trotz dieser Erfolge der Verwaltung sah sich die Präfektur gezwungen, die Verwandten von den Feierlichkeiten fernzuhalten, weil diese Formalitäten jetzt auf eine widerwärtige Weise vor sich gingen. Man duldete die Angehörigen einzig am Tor des Gottesackers, und auch das war nicht offiziell. Denn was den letzten Vorgang betraf, so hatten sich hier die Zustände etwas verändert. Am äußersten Ende des Friedhofs waren auf einem leeren, nur von Mastixbäumen bewachsenen Platz zwei riesige Gruben ausgehoben worden. Es gab eine für die Männer und eine für die Frauen. In dieser Beziehung wahrte die Verwaltung die Sitten, und erst viel später verschwand in der Übermacht des Geschehens diese letzte Scham, so daß Männer und Frauen ohne Rücksicht auf den Anstand durch- und übereinander begraben wurden. Glücklicherweise kennzeichnete diese höchste Verwirrung nur die letzten Augenblicke der Heimsuchung. Zu der Zeit, die uns jetzt beschäftigt, wurde die Trennung der Gruben noch eingehalten, und die Präfektur legte großen Wert darauf. Auf dem Grund einer jeden kochte und brodelte eine dicke Schicht ungelöschten Kalks. An den Rändern des Lochs ließ ein kleiner Berg des gleichen Kalks seine Blasen in der freien Luft platzen. Wenn die Fahrten des Krankenwagens beendet waren, trug man die Bahren hintereinander herbei; man ließ die entblößten und leicht verkrümmten Leichen ungefähr nebeneinander hinuntergleiten und deckte sie augenblicklich mit ungelöschtem Kalk und dann mit Erde zu, aber nur bis zu einer gewissen Höhe, um für die kommenden Gäste noch Raum zu sparen. Am folgenden Tag wurden die Verwandten ersucht, in einem Register zu unterschreiben - was den Unterschied zwischen den Menschen und etwa den Hunden klarmacht: eine Nachprüfung war immer möglich. Für alle diese Verrichtungen war Personal erforderlich, und man war immer drauf und dran, keines mehr zu finden. Zahlreiche dieser zuerst amtlichen, dann improvisierten Krankenwärter und Totengräber starben an der Pest. So viele Vorsichtsmaßnahmen auch getroffen wurden, eines Tages wurden sie doch angesteckt. Aber wenn man wohl überlegt, war es am erstaunlichsten, daß es während der ganzen Epidemie nie an Männern für diesen Beruf mangelte. Die kritische Zeit kam kurz vor dem Höhepunkt der Pest, und Dr. Rieux' Besorgnis war damals begründet. Die Hilfskräfte genügten weder für die höheren Posten noch für die grobe Arbeit, wie er das nannte. Aber vom Augenblick an, da die Pest sich tatsächlich der ganzen Stadt bemächtigte, hatte ihr Überhandnehmen nützliche Folgen, denn sie brachte das Handelsleben völlig aus den Fugen und verursachte so eine beträchtliche Arbeitslosigkeit. In den meisten Fällen fanden sich unter den Arbeitslosen keine Anwärter für die leitenden Stellungen, aber die niedrigen Arbeiten wurden dadurch erleichtert. Von dem Augenblick an sah man nämlich immer, daß das Elend stärker war als die Angst, um so mehr, als die Arbeit den Gefahren entsprechend bezahlt wurde. Die Gesundheitsbehörden verfügten über eine Liste von Bewerbern, und sobald ein Mann ausfiel, benachrichtigte man die ersten auf der Liste, die sich unfehlbar einstellten, wenn sie nicht in der Zwischenzeit ebenfalls «ausgefallen» waren. So konnte der Präfekt, der lange gezögert hatte, zu Gefängnis oder zum Tode Verurteilte für diese Art Arbeit heranzuziehen, dieses letzte Mittel vermeiden. Solange es Arbeitslose gebe, könne man noch warten, meinte er. Bis Ende August konnten also unsere Mitbürger schlecht und recht zu ihrer letzten Behausung geführt werden, wenn auch nicht, wie es sich gehörte, so doch geordnet genug, um der Verwaltung das Gefühl zu geben, sie erfülle ihre Pflicht. Aber wir müssen etwas vorgreifen, um von den letzten Anordnungen zu berichten, zu denen man gezwungen wurde. Vom August an hielt sich nämlich die Pest auf einer solchen Höhe, daß die Anhäufung der Opfer bei weitem die Aufnahmemöglichkeiten unseres kleinen Friedhofs überstieg. Man konnte lange Mauerstücke einreißen, den Toten einen Ausblick auf das umliegende Gelände eröffnen, man mußte sehr schnell etwas anderes erfinden. Zuerst wurde beschlossen, nachts zu bestatten, was mit einem Schlag gewisse Rücksichten entbehrlich machte. Immer mehr Leichen konnten in die Krankenwagen gelegt werden. Und die wenigen verspäteten Spaziergänger, die sich gegen jedes Gebot nach dem Lichterlöschen noch in den Außenquartieren befanden (oder die, die ihr Beruf dorthin führte), begegneten manchmal einer langen Reihe weißer Krankenwagen, die dahinraste und die hohlen, nächtlichen Straßen mit ihrem trüben Bimmeln erfüllte. Hastig wurden die Leichen in die Gruben geworfen. Sie hatten noch nicht ausgeschlenkert, wenn der Kalk ihnen schon ins Gesicht geschaufelt wurde und die Erde sie namenlos bedeckte, in Löchern, die man immer tiefer grub. Ein wenig später jedoch mußte man nach etwas anderem suchen und noch mehr Platz schaffen. Ein Erlaß der Präfektur enteignete die Insassen der Familiengräber, und alle ausgegrabenen Überreste wurden ins Krematorium gefahren. Bald war man auch genötigt, die an der Pest Gestorbenen zur Einäscherung zu führen. Aber dazu brauchte man den alten Verbrennungsofen, der sich außerhalb der Tore im Osten der Stadt befand. Die Wachtposten wurden weiter hinausgeschoben, und ein Angestellter des Rathauses erleichterte die Aufgabe der Behörden sehr durch seinen Rat, man solle die Straßenbahn benutzen, die früher die Felsenstraße über dem Meer bedient hatte und nun nicht mehr gebraucht wurde. Das Innere der Anhänger und der Motorwagen wurde zu diesem Zweck eingerichtet, indem man die Sitze entfernte und die Gleise auf der Höhe der Verbrennungsanstalt abbog, die auf diese Weise Endstation wurde. Und während des ganzen Spätsommers und mitten im Herbst waren in tiefster Nacht auf der ganzen Uferstraße seltsame Straßenbahnen zu sehen, die ohne Reisende das Meer entlang schwankten. Die Bevölkerung hatte schließlich erfahren, welche Bewandtnis es damit hatte. Und obwohl Patrouillen den Zugang zur Felsenstraße untersagten, gelang es oft kleinen Gruppen, sich hinter die überhängenden Felsen zu schleichen und beim Vorbeifahren der Straßenbahn Blumen in die Anhängewagen zu werfen. Dann hörte man die Fahrzeuge noch in die Nacht hinein holpern, beladen mit Blumen und Toten. Jedenfalls schwebte in den ersten Tagen gegen Morgen ein dichter, ekelerregender Rauch über den östlichen Vierteln der Stadt. Alle Ärzte waren der Ansicht, diese Dünste seien zwar widerlich, aber ganz unschädlich. Die Bewohner dieser Viertel drohten jedoch sofort mit Auswanderung, da sie überzeugt waren, die Pest falle so vom Himmel auf sie herab. Man zwar gezwungen, durch ein verwickeltes System von Kanälen den Rauch abzuleiten, und die Bewohner beruhigten sich. Nur bei starkem Wind erinnerte sie ein schwacher Geruch daran, daß sie in einer neuen Ordnung lebten und daß die Flammen der Pest jeden Abend ihren Tribut verzehrten. Das waren die schlimmsten Folgen der Epidemie. Aber es ist ein Glück, daß sie sich nicht noch weiter ausdehnte, denn es ist anzunehmen, daß sie vielleicht über die Erfindungsgabe unserer Ämter, die Verfügungen der Präfektur und sogar die Aufnahmefähigkeit des Verbrennungsofens Herr geworden wäre. Rieux wußte, daß verzweifelte Lösungen vorgesehen waren, wie zum Beispiel das Versenken der Leichen ins Meer, und er konnte sich mühelos ihren entsetzlichen Schaum auf dem blauen Wasser vorstellen. Er wußte auch, daß bei weiterem Ansteigen der Statistik keine noch so ausgezeichnete Organisation standhalten konnte, daß die Menschen dann trotz der Präfektur auf Haufen zusammen sterben und auf der Straße verwesen würden und daß die Stadt es erleben würde, wie auf den öffentlichen Plätzen die Sterbenden sich an die Lebenden klammerten, in einem Gemisch aus berechtigtem Haß und sinnloser Hoffnung. Es waren jedenfalls Tatsachen oder Befürchtungen dieser Art, die bei unseren Mitbürgern das Gefühl der Trennung und der Verbannung wachhielten. Der Erzähler weiß genau, wie bedauerlich es in dieser Beziehung ist, daß er hier von nichts wirklich Großartigem erzählen kann, von irgendeinem tröstlichen Helden zum Beispiel oder einer glänzenden Tat, wie sie in den alten Berichten stehen. Denn nichts ist weniger augenfällig als eine Seuche, und die großen Schicksalsschläge sind schon ihrer Dauer wegen eintönig. In der Erinnerung erscheinen die fürchterlichen Tage der Pest denen, die sie erlebten, nicht als große, endlos grausame Flammen, sondern viel eher als eine endlose Tretmühle, die alles zermalmte. Nein, die Pest hatte nichts mit den großen, erhebenden Bildern zu tun, die Rieux zu Beginn der Seuche verfolgt hatten. Sie war zunächst eine umsichtige, tadellose Verwaltung, die reibungslos arbeitete. So hat sich übrigens auch der Erzähler der Sachlichkeit beflissen, um nichts zu verraten und vor allem, um sich selbst nicht zu verraten. Abgesehen von den grundsätzlichen Erfordernissen einer einigermaßen zusammenhängenden Berichterstattung hat er fast nichts mit künstlerischen Mitteln zurechtmachen wollen. Und es ist die Sachlichkeit selbst, die ihm befiehlt, jetzt zu sagen, daß die Trennung wohl das große Leid jener Zeit darstellte, das allgemeinste und tiefste, daß die Gewissenhaftigkeit es unerläßlich findet, sie an diesem Punkt der Pest von neuem zu beschreiben, daß jedoch sogar dieses Leid damals etwas von seiner Erhabenheit verlor. War es, weil unsere Mitbürger, oder wenigstens diejenigen, die am meisten unter der Trennung gelitten hatten, sich an ihre Lage gewöhnten? Dies zu bejahen wäre nicht ganz zutreffend, Es wäre richtiger, zu sagen, daß sie seelisch und körperlich an Abzehrung litten. Zu Beginn der Pest erinnerten sie sich noch sehr wohl an den Menschen, den sie verloren hatten und nun vermißten. Sie erinnerten sich deutlich an das geliebte Gesicht, an sein Lachen, an diesen oder jenen Tag, den sie nachträglich als glücklich erkannten; aber sie konnten sich nur schwer vorstellen, was der andere in dem Augenblick des Gedenkens und in dieser nun so weiten Ferne machte. Kurz, damals hatten sie Gedächtnis, aber zu wenig Phantasie. Im zweiten Abschnitt der Pest verloren sie auch das Gedächtnis. Nicht daß sie jenes Gesicht vergessen hätten, aber - was auf das gleiche herauskam - es war körperlos geworden, sie erblickten es nicht mehr in ihrem Innern. Und während sie sich in den ersten Wochen gern beklagten, daß sie es im Reich ihrer Liebe nur noch mit Schatten zu tun hätten, merkten sie später, daß diese Schatten noch wesenloser werden konnten und selbst die geringsten Färbungen verloren, die die Erinnerung bewahrte. Ganz am Ende dieser langen Trennungszeit stellten sie sich nicht mehr vor, welch innige Vertrautheit sie einst besessen und wie ein Mensch mit ihnen hatte leben können, der sich jederzeit in greifbarer Nähe befand. In dieser Hinsicht waren sie in die eigentliche Ordnung der Pest eingetreten, die gerade durch ihre Mittelmäßigkeit stärker wirkte. Bei uns hatte kein Mensch mehr große Gefühle. Aber jedermann empfand eintönige Gefühle. «Es ist Zeit, daß es aufhört», sagten unsere Mitbürger, weil es in Seuchezeiten natürlich ist, das Ende des allgemeinen Leidens herbeizuwünschen, und weil sie tatsächlich wünschten, es möchte aufhören. Aber das alles wurde ohne das Feuer oder die Erbitterung des Anfangs gesagt und einzig aus den paar Gründen, die uns noch klar bewußt blieben und die armselig waren. Auf das wilde Ungestüm der ersten Wochen war eine Niedergeschlagenheit gefolgt, in der man zu Unrecht Ergebung gesehen hätte, die aber doch eine Art vorläufigen Sich-drein-schickens darstellte. Unsere Mitbürger hatten den Schritt verhalten, sich angepaßt, wie man zu sagen pflegt, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Selbstverständlich verharrten sie in der Haltung des Unglücks und des Leidens, aber sie spürten den Stachel nicht mehr. Im übrigen war Dr. Rieux zum Beispiel der Ansicht, daß gerade darin das Unglück bestand und daß die Gewöhnung an die Verzweiflung schlimmer ist als die Verzweiflung selbst. Früher waren die Getrennten nicht wahrhaft unglücklich gewesen, in ihrem Leid gab es noch einen Lichtschimmer, der nun erloschen war. Jetzt sah man sie still und geistesabwesend an den Straßenecken, in den Cafés oder bei ihren Freunden, und ihr Blick war so gelangweilt, daß ihretwegen die ganze Stadt einem Wartesaal glich. Jene, die einen Beruf hatten, übten ihn ebenso aus wie die Pest den ihren: peinlicl genau und unauffällig. Alle waren bescheiden. Zum erstenmal scheuten sich die Getrennten nicht, vom Abwesenden zu sprechen, die allgemeine Sprache zu benutzen und ihre Trennung unter demselben Gesichtswinkel zu betrachten wie die Statistik der Seuche. Während sie bisher ihr Leid scheu vom gemeinsamen Elend ferngehalten hatten, fügten sie sich jetzt in die Vermischung. Ohne Gedächtnis und ohne Hoffnung richteten sie sich in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde ihnen alles zur Gegenwart. Man muß es wohl aussprechen: die Pest hatte alle der Fähigkeit zur Liebe und sogar zur Freundschaft beraubt. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nichts mehr als Augenblicke. Wohlverstanden, dies alles hatte keine ausschließliche Gültigkeit. Denn wenn es auch zutrifft, daß alle Getrennten in diesen Zustand gerieten, muß doch hinzugefügt werden, daß sie ihn nicht alle gleichzeitig erreichten. Und man muß sagen, daß selbst nachdem sie sich geduldig an ihre neue Lage gewöhnt hatten, blitzartige Erleuchtungen, Rückblicke und jähe Momente der Hellsichtigkeit sie zu einer verjüngten, schmerzlicheren Empfindsamkeit zurückführten. Dazu waren jene Augenblicke der Zerstreutheit nötig, da sie irgendeinen Plan schmiedeten, der das Ende der Pest voraussetzte. Dazu mußten sie unversehens, von irgendeiner Gnade angerührt, das Brennen einer unbegründeten Eifersucht verspüren. Andere erfuhren hier und da ein plötzliches Wiederaufleben und tauchten an einzelnen Tagen der Woche aus ihrer Betäubung auf, vor allem am Sonntag und am Samstagnachmittag, weil diese Tage zur Zeit des Abwesenden bestimmten Bräuchen gewidmet waren. Oder dann kündigte eine gewisse Traurigkeit, die sie abends befiel, ihnen das Wiederfinden des Gedächtnisses an, was sich übrigens nicht immer bestätigte. Jene Abendstunde, die für die Gläubigen eine Zeit der Selbstprüfung bedeutet, ist hart für den Gefangenen oder den Verbannten, der nichts als Leere zu prüfen hat. Sie hielt sie einen Augenblick in der Schwebe, dann fielen sie in die Erschlaffung zurück, schlössen sich ein in der Pest. Man begreift unschwer, daß dies im Verzicht auf ihre innerste Persönlichkeit bestand. Während sie sich am Anfang der Pest über die Unzahl Kleinigkeiten verwunderten, die ihnen viel bedeuteten und für die anderen gar nicht vorhanden waren, während sie so die Erfahrung des eigenen Lebens machten, interessierten sie sich jetzt im Gegenteil nur für das, was die anderen interessierte; sie hatten nur noch allgemeine Ansichten, und selbst ihre Liebe nahm für sie eine unpersönliche Gestalt an. Sie waren der Pest in so hohem Maße anheimgefallen, daß sie manchmal nur noch im Schlafe hofften und sich bei dem Gedanken ertappten: «Die Beulen, und endlich Schluß!» Aber in Wirklichkeit schliefen sie bereits, und diese ganze Zeit war nur ein langer Schlaf. Die Stadt war von wachen Schläfern bevölkert, die ihrem Schicksal nur die wenigen Male wirklich entrannen, da in der Nacht ihre scheinbar geschlossene Wunde wieder aufbrach. Und aus dem Schlaf auffahrend, betasteten sie dann mit einer gewissen Zerstreutheit die gereizten Wundränder, während sie blitzartig ihr plötzlich erneutes Leid wiederfanden und mit ihm das bestürzte Gesicht ihrer Liebe. Am Morgen kehrten sie wieder zur Seuche, das heißt zur Routine zurück. Aber, wird man sagen, wie sahen diese Getrennten eigentlich aus? Nun, das ist einfach: sie sahen nach nichts aus. Oder, wenn man lieber will, sie sahen ganz gewöhnlich aus, einfach wie alle Leute. Sie teilten die Ruhe und die kindischen Erregungen der Stadt. Sie verloren den Anschein des kritischen Sinns und gewannen dafür den Anschein der Kaltblütigkeit. Man konnte zum Beispiel sehen, wie die Klügsten unter ihnen - wie alle Leute - in den Zeitungen oder Rundfunksendungen nach Gründen zu suchen schienen, die an ein rasches Ende der Pest glauben lassen konnten; wie sie sich offenkundig trügerischen Hoffnungen hingaben oder grundlos besorgt waren, wenn sie die Betrachtungen lasen, die ein Zeitungsschreiber ein wenig auf gut Glück und vor Langeweile gähnend zusammengeschrieben hatte. Im übrigen tranken sie ihr Bier oder pflegten ihre Kranken, faulenzten oder gaben sich völlig aus, ordneten Zettel oder ließen Platten laufen, ohne sich weiter voneinander zu unterscheiden. Mit anderen Worten, sie wählten nicht mehr. Die Pest hatte die Werturteile abgeschafft. Und das zeigte sich in der Art, wie kein Mensch sich mehr um die Güte der Kleider oder Eßwaren kümmerte, die man einkaufte. Man nahm alles in Bausch und Bogen an. Schließlich ist noch zu sagen, daß die Getrennten ihr seltsames Vorrecht einbüßten, das sie im Anfang bewahrten. Sie hatten die Selbstsucht der Liebe und den Vorteil, den sie daraus zogen, verloren. Wenigstens war jetzt die Lage eindeutig klar: die Seuche betraf alle Leute. Inmitten der Schüsse, die an den Stadttoren krachten, der Stempel, die zu unserem Leben oder unserem Sterben den Takt schlugen, inmitten der Feuersbrünste und Zettel, der Schrecken und der Formalitäten, einem schmählichen, aber amtlich verzeichneten Tod geweiht, in den grauenvollen Rauchwolken und dem ruhigen Bimmeln der Krankenwagen, ernährten wir uns alle vom gleichen Brot der Verbannung und erwarteten, ohne es zu wissen, die gleiche, alles verwandelnde Wiedervereinigung, den gleichen, alles umwälzenden Frieden. Unsere Liebe war sicherlich immer noch vorhanden, bloß unbrauchbar, schwer zu tragen, reglos in uns, unfruchtbar wie das Verbrechen oder die Verdammung. Sie war nur noch eine Geduld ohne Zukunft und eine beharrliche Erwartung. Und in dieser Beziehung erinnerte die Haltung einiger unserer Mitbürger an die langen Schlangen, die an allen Enden der Stadt vor den Lebensmittelgeschäften standen. Es war dieselbe Ergebung und dieselbe Ausdauer, unbegrenzt und illusionslos. Dieses Gefühl müßte nur tausendfach vergrößert werden, um es auf die Trennung anzuwenden, denn hier handelte es sich um einen anderen Hunger, der alles verzehren konnte. Wollte man ein genaues Bild von der geistigen Verfassung haben, in der sich die Getrennten unserer Stadt befanden, müßte man wieder die endlosen, goldenen und stauberfüllten Abende beschreiben, die sich über die baumlose Stadt niedersenkten, während Männer und Frauen in alle Straßen strömten. Denn was dann zu den noch sonnigen Terrassen emporstieg, während der Lärm der Fahrzeuge und Maschinen verstummte, die gewöhnlich die ganze Sprache der Städte bilden, das war seltsamerweise nur ein gewaltiges Rauschen von Schritten und Stimmengemurmel, das schmerzliche Gleiten von tausend und aber tausend Schuhsohlen im Takt des pfeifenden Dreschflegels am schwer lastenden Himmel; ein endloses, erdrückendes Stampfen schließlich, das langsam die ganze Stadt erfüllte und Abend für Abend dem blinden Eigensinn, der in unseren Herzen damals die Liebe ersetzte, seine getreulichste und trübseligste Stimme lieh. 4 Während der Monate September und Oktober hielt die Pest die Stadt in ihrer erdrückenden Gewalt. Da es sich um ein Stampfen handelte, stampften ein paar hunderttausend Menschen noch während nicht enden wollender Wochen, ohne von der Stelle zu kommen. Am Himmel folgten sich Dunst, Hitze und Regen. Schweigende Scharen Stare und Drosseln zogen von Süden kommend hoch dahin, wichen jedoch der Stadt aus, als hielte sie Paneloux' Dreschflegel fern, jenes seltsame Stück Holz, das pfeifend über den Häusern wirbelte. Anfang Oktober fegten schwere Regengüsse die Straßen rein. Und während all dieser Zeit ereignete sich nichts Bedeutsameres als dieses ungeheure Stampfen. Da merkten Dr. Rieux und seine Freunde, wie sehr sie müde waren. Tatsächlich konnten die Sanitätsmannschaften dieser Müdigkeit nicht mehr Herr werden. Dr. Rieux wurde sich darüber klar, als er an seinen Freunden und an sich die Fortschritte einer eigenartigen Gleichgültigkeit beobachtete. Die Männer zum Beispiel, die bisher ein so lebhaftes Interesse für alle die Pest betreffenden Nachrichten gezeigt hatten, kümmerten sich jetzt gar nicht mehr darum. Rambert, der vorläufig mit der Leitung einer seit kurzem in seinem Hotel eingerichteten Quarantäne betraut worden war, kannte haargenau die Zahl der seiner Beobachtung unterstellten Menschen. Er war auf dem laufenden über die kleinsten Einzelheiten des Systems, das er ausgedacht hatte, um die Leute, die unversehens Krankheitszeichen aufwiesen, augenblicklich fortbringen zu lassen. Die Statistik über die Wirkung der vorbeugenden Impfung war in seinem Gedächtnis eingegraben. Aber er war unfähig, die wöchentliche Zahl der Pestopfer anzugeben, er wußte wahrhaftig nicht, ob die Seuche zunahm oder zurückging. Und dabei bewahrte wenigstens er trotz allem die Hoffnung auf eine baldige Flucht. Was die übrigen betrifft, die Tag und Nacht ganz von ihrer Arbeit in Anspruch genommen wurden, so lasen sie keine Zeitung, hörten kein Radio. Wurde ihnen ein Ergebnis mitgeteilt, taten sie, als interessierten sie sich dafür, nahmen es aber in Wirklichkeit mit jener zerstreuten Gleichgültigkeit auf, die man bei den Kämpfern der großen Kriege zu finden erwartet, die, abgearbeitet und erschöpft, sich nur noch bemühen, in ihren täglichen Pflichten nicht zu versagen, ohne dabei weiter auf den entscheidenden Schlag oder den Waffenstillstand zu hoffen. Grand, der fortfuhr, die durch die Pest bedingten Rechnungen anzustellen, wäre sicherlich unfähig gewesen, zusammenfassende Ergebnisse zu nennen. Er war nie sehr gesund gewesen, im Gegensatz zu Tarrou, Rambert und Rieux, die offenkundig gegen Ermüdung abgehärtet waren. Nun vereinigte er seine Tätigkeit als Hilfsangestellter des Rathauses mit seinem Sekretariat bei Rieux und seiner nächtlichen Arbeit. So befand er sich in einem Zustand dauernder Erschöpfung, aufrechterhalten von zwei oder drei fixen Ideen, zum Beispiel, daß er sich nach der Pest richtige Ferien gönnen wolle, eine Woche mindestens, während der er zielsicher, «Hut ab!», an seinem begonnenen Werk arbeiten könnte. Er war auch plötzlich weichen Stimmungen unterworfen und erzählte Rieux bei solchen Gelegenheiten gern von Jeanne, fragte sich, wo sie in diesem Augenblick sein mochte und ob sie beim Lesen der Zeitungen an ihn denke. In einem Gespräch mit ihm ertappte sich Rieux eines Tages dabei, daß er von seiner eigenen Frau erzählte, und zwar in ganz gewöhnlichem Ton, was ihm bisher noch nie vorgekommen war. Unsicher, wie weit er den immer beruhigenden Telegrammen seiner Frau Glauben schenken durfte, hatte er sich dazu entschlossen, dem Chefarzt der Heilanstalt zu kabeln, in der sie sich pflegte. Als Antwort wurde ihm mitgeteilt, daß sich der Zustand der Kranken verschlimmert habe und versichert, daß alles aufgeboten werde, um die Ausbreitung des Übels einzudämmen. Er hatte diese Nachricht für sich behalten, und es war ihm nicht oder nur durch seine Ermüdung erklärlich, wie er sie Grand hatte anvertrauen können. Der Angestellte hatte Rieux zuerst von Jeanne erzählt und ihn dann über seine Frau ausgefragt, und Rieux hatte geantwortet. «Wissen Sie», hatte Grand gesagt, «heute läßt sich das sehr gut heilen.» Und Rieux hatte zugestimmt und einfach gesagt, daß die Trennung anfange, lang zu werden, und daß er seiner Frau vielleicht hätte helfen können, ihre Krankheit zu besiegen, während sie sich jetzt völlig vereinsamt fühlen müsse. Dann hatte er geschwiegen und nur noch ausweichend geantwortet. Die anderen befanden sich in der gleichen Verfassung. Tarrou hielt besser stand, aber seine Aufzeichnungen zeigten, daß seine Neugier zwar nichts von ihrer Tiefe, dafür aber von ihrer Vielseitigkeit eingebüßt hatte. Während dieser ganzen Zeit schien er sich tatsächlich nur für Cottard zu interessieren. Bei Rieux, wo er schließlich Wohnung genommen hatte, seit das Hotel in ein Quarantänelager umgewandelt worden war, hörte er kaum hin, wenn Grand oder der Arzt abends die Ergebnisse mitteilten. Er brachte das Gespräch sofort auf die kleinen Einzelheiten des Oraner Lebens, die ihn beschäftigten. Castel schließlich war eines Tages gekommen, um dem Arzt zu melden, daß das Serum bereit sei. Nachdem sie gemeinsam beschlossen hatten, den ersten Versuch an Herrn Othons kleinem Jungen durchzuführen, der eben ins Spital eingeliefert worden war und dessen Fall hoffnungslos erschien, teilte Rieux seinem alten Freund gerade die letzten Statistiken mit, als er gewahrte, daß dieser in seinem Sessel zusammengesunken und fest eingeschlafen war. Und beim Anblick dieses Gesichts, auf das gewöhnlich ein Zug der Sanftheit und Ironie eine unverwüstliche Jugend malte, das nun plötzlich entspannt, mit einem Speichelfaden zwischen den halbgeöffneten Lippen, sein Alter und seine Abnutzung zeigte, fühlte Rieux, wie seine Kehle sich zuschnürte. An solchen Schwächen konnte Rieux seine eigene Müdigkeit ermessen. Seine Empfindsamkeit entwand sich seinem Willen. Meistens geknebelt, verhärtet und ausgetrocknet, brach sie von Zeit zu Zeit hervor und stürzte ihn in Gemütsbewegungen, deren er nicht mehr Herr wurde. Seine einzige Verteidigung war die Flucht in diese Verhärtung und ein noch engeres Zuschnüren des Knotens, der sich in ihm gebildet hatte. Er wußte wohl, daß dies die richtige Art war, weiterzumachen. Im übrigen hatte er nicht viele Illusionen, und die letzten, die ihm noch blieben, raubten ihm seine Erschöpfung. Denn er wußte, daß seine Rolle für eine Zeit, deren Ende er nicht absehen konnte, nicht mehr darin bestand zu heilen. Seine Rolle war, die Diagnose zu stellen. Abdecken, sehen, beschreiben, eintragen, dann verurteilen, das war seine Aufgabe. Frauen packten seine Handgelenke und heulten: «Herr Doktor, retten Sie ihm das Leben!» Aber er war nicht da, um das Leben zu retten, er war da, um die Absonderung vorzuschreiben. Wozu half der Haß, den er dann auf den Gesichtern las? «Sie haben kein Herz», wurde ihm eines Tages gesagt. Aber doch, er hatte eines. Es half ihm, die zwanzig Stunden am Tag zu ertragen, während derer er Menschen sterben sah, die zum Leben geschaffen waren. Es half ihm, jeden Tag wieder anzufangen. In Zukunft hatte er dafür gerade noch Herz genug. Wie hätte dieses Herz dazu ausreichen sollen, das Leben zu retten? Nein, das war nicht Hilfe, was er tagein, tagaus verteilte, sondern Auskunft. Das konnte man selbstverständlich nicht den Beruf eines Menschen nennen. Aber wer aus dieser schreckenerfüllten, dezimierten Menge hatte schließlich noch die Freiheit, seinen Menschenberuf auszuüben? Es war noch ein Glück, daß es die Ermüdung gab. Wäre Rieux frischer gewesen, so hätte dieser alles durchdringende Todesgeruch ihn womöglich noch sentimental werden lassen. Aber wenn man nur vier Stunden geschlafen hat, ist man nicht sentimental. Man sieht die Dinge, wie sie sind, das heißt mit den Augen der Gerechtigkeit, der scheußlichen, lachhaften Gerechtigkeit. Und auch die anderen, die Verurteilten, empfanden das deutlich. Vor der Pest empfing man ihn als Retter. Mit drei Pillen und einer Spritze würde er alles in Ordnung bringen, und man drückte seinen Arm, während man ihn durch den Gang begleitete. Das war schmeichelhaft, aber gefährlich. Jetzt zeigte er sich im Gegenteil mit Soldaten, und es brauchte Kolbenschläge, um die Familie zum Öffnen zu bewegen. Sie hätte ihn und die ganze Menschheit mit sich in den Tod reißen wollen. Ah! Es stimmte wohl, daß die Menschen nicht ohne Menschen auskamen, daß er so hilflos dastand wie jene Unglücklichen und daß er das gleiche zitternde Mitleid verdiente, das er in sich aufsteigen ließ, wenn er sie verlassen hatte. Dies waren wenigstens die Gedanken, die Dr. Rieux während jener endlosen Wochen in seinem Herzen bewegte, zusammen mit jenen anderen, die seinen Zustand des Getrenntseins betrafen. Und es waren auch die gleichen, die er in den Zügen seiner Freunde widergespiegelt fand. Aber die gefährlichste Folge der Erschöpfung, die sich allmählich all derer bemächtigte, die den Kampf gegen die Seuche fortsetzten, war nicht diese Gleichgültigkeit den äußeren Ereignissen und den Gemütsbewegungen der anderen gegenüber, sondern die Nachlässigkeit, in die sie sich gleiten ließen. Denn nun neigten sie dazu, alle nicht wirklich unerläßlichen Bewegungen zu vermeiden, da sie ihnen stets über ihre Kraft zu gehen schienen. So kamen diese Männer immer häufiger dazu, die von ihnen aufgestellten Vorschriften der Hygiene außer acht zu lassen; sie vergaßen die eine oder andere der zahlreichen Desinfektionen, denen sie sich unterziehen mußten; sie eilten manchmal zu Kranken, die die Lungenpest hatten, ohne gegen die Ansteckung geschützt zu sein, weil sie erst im letzten Augenblick in verseuchte Häuser gerufen wurden und es ihnen im voraus zu anstrengend schien, in irgendeine Anstalt zurückzukehren, um die notwendigen Einträufelungen zu machen. Darin lag die eigentliche Gefahr; denn es war der Kampf gegen die Pest selber, der sie nun für die Pest am verwundbarsten machte. Sie setzten gewissermaßen auf den Zufall, und der Zufall gehörte niemandem. Es gab indessen einen Menschen in der Stadt, der weder erschöpft noch entmutigt schien und ein wandelndes Bild der Zufriedenheit bot. Das war Cottard. Er blieb weiterhin abseits, hielt jedoch seine Beziehungen zu den anderen aufrecht. Aber er hatte die Gewohnheit angenommen, Tarrou so oft zu besuchen, als dessen Arbeit es zuließ; einerseits, weil Tarrou über seinen Fall gut unterrichtet war, und andererseits, weil er es verstand, den kleinen Rentner mit unwandelbarer Herzlichkeit zu empfangen. Es war ein beständiges Wunder, aber Tarrou blieb trotz der mühevollen Arbeit, die er leistete, stets wohlwollend und aufmerksam. Sogar wenn die Müdigkeit ihn an gewissen Abenden erdrückte, fand er am nächsten Morgen seine Spannkraft wieder. «Mit dem kann man reden», hatte Cottard zu Rambert gesagt, «weil er ein Mann ist. Er versteht einen immer.» Aus diesem Grund befaßten sich Tarrous Aufzeichnungen in dieser Zeit immer ausschließlicher mit der Gestalt Cottards. Tarrou hatte versucht, ein Bild der Reaktionen und Überlegungen Cottards zu geben, so wie dieser sie ihm anvertraute oder so, wie er selber sie auslegte. Unter der Überschrift «Cottards Beziehungen zur Pest» umfaßt dieses Bild mehrere Seiten des Tagebuchs, und der Erzähler hält es für angebracht, hier eine Zusammenfassung wiederzugeben. Tarrous allgemeine Ansicht über den kleinen Rentner läßt sich in folgendem Urteil zusammenfassen: «Er ist eine Persönlichkeit, die wächst.» Er schien übrigens hauptsächlich in der guten Laune zu wachsen. Er war mit der Entwicklung der Ereignisse nicht unzufrieden. Manchmal äußerte sich sein wahres Denken in Bemerkungen, die er vor Tarrou fallenließ, wie etwa der folgenden: «Gewiß, es geht nicht besser. Aber es sitzen wenigstens alle im gleichen Boot.» «Natürlich», fügte Tarrou hinzu, «ist er bedroht wie die anderen, aber eben mit den anderen zusammen. Und zudem bin ich überzeugt, daß er nicht ernstlich glaubt, er könne von der Pest befallen werden. Er scheint in dem übrigens gar nicht so dummen Glauben zu leben, daß ein Mensch, der in einer schweren Krankheit oder einer tiefen Angst befangen ist, dadurch gleichzeitig von allen anderen Krankheiten und Ängsten befreit ist. , hat er mir gesagt, Diese Idee mag richtig oder falsch sein, jedenfalls versetzt sie Cottard in gute Laune. Das einzige, was er nicht will, ist, von den anderen getrennt werden. Er will lieber mit allen belagert als allein gefangen sein. Inmitten der Pest kommen keine geheimen Untersuchungen mehr in Frage, keine Akten, Zettel, seltsamen Verhöre und drohenden Verhaftungen. » Das berechtigte Cottard dazu - immer nach Tarrous Auslegung -, die Zeichen der Angst und Verwirrung unserer Mitbürger mit jener nachsichtigen und verstehenden Befriedigung zu betrachten, die sich etwa in einem: «Redet nur, ich habe sie vor euch gehabt» ausdrücken konnte. «Da konnte ich ihm lange vorhalten, daß die einzige Art, nicht von den anderen getrennt zu werden, schließlich in einem guten Gewissen bestehe. Er hat mich böse angeschaut und gesagt: Und dann: Und ich verstehe tatsächlich gut, was er sagen will, und wie angenehm ihm das jetzige Leben vorkommen muß. Wie sollte er nicht im Vorübergehen die Reaktionen wiedererkennen, die er selbst hatte? Den Versuch, den jeder unternimmt, um alle auf seiner Seite zu haben; die Zuvorkommenheit, die man manchmal entfaltet, um einem verirrten Fußgänger den Weg zu weisen, und die schlechte Laune, die man andere Male zeigt; die Hast, mit der die Leute in die Luxusrestaurants strömen, die Befriedigung, mit der sie sich dort aufhalten und verweilen; die regellose Masse, die sich jeden Tag in Schlangen vor den Kinos staut, die alle Theater und selbst die Tanzlokale füllt, die sich wie eine entfesselte Flut in alle öffentlichen Vergnügungsstätten ergießt; das Zurückweichen vor jeder Berührung, den Hunger nach menschlicher Wärme, der die Menschen doch wieder zueinander treibt, Ellbogen an Ellbogen und Geschlecht zu Geschlecht. Cottard hat das alles vor ihnen erlebt, das ist klar. Außer den Frauen, denn mit seinem Gesicht . . . Und ich vermute, daß er sich im letzten Augenblick versagte, ein Freudenhaus aufzusuchen, um keinen schlechten Ruf zu bekommen, der ihm später hätte schaden können. Alles in allem bekommt die Pest ihm gut. Aus einem Menschen, der wider Willen einsam war, macht sie einen Spießgesellen. Denn er ist offensichtlich ein Spießgeselle, und zwar ein Spießgeselle, der sich ergötzt. Er ist der Spießgeselle alles dessen, was er sieht: des Aberglaubens, der unbegründeten Ängste, der Empfindlichkeit dieser Seelen in Aufruhr; ihres Wahns, möglichst wenig von der Pest sprechen zu wollen und dabei doch nicht aufzuhören, von ihr zu sprechen; ihrer kopflosen Bestürzung und ihres plötzlichen Erbleichens bei den geringsten Kopfschmerzen, seit sie wissen, daß die Krankheit mit Kopfschmerzen anfängt; und ihrer gereizten, übelnehmerischen, kurz: unbeständigen Empfindsamkeit, die eine Beleidigung sieht, wo es sich um Vergeßlichkeit handelt, und über den Verlust eines Hosenknopfes untröstlich ist.» Es kam öfters vor, daß Tarrou abends mit Cottard ausging. Er erzählte dann jeweils in seinem Tagebuch, wie sie Schulter an Schulter in der dunklen Menge der Abende oder Nächte untertauchten, sich ganz von einer weißen und schwarzen Masse treiben ließen, auf die in weiten Abständen vereinzelte Laternen einen Lichtschimmer warfen und so die menschliche Herde zu den heißen Vergnügen begleiteten, die sie gegen die Kälte der Pest verteidigten. Der Luxus und das großzügige Leben, die Cottard ein paar Monate früher in den öffentlichen Vergnügungsstätten gesucht hatte, das zügellose Genießen, von dem er träumte, ohne es befriedigen zu können, das alles wurde nun zur Sucht eines ganzen Volkes. Obwohl die Preise unaufhaltsam in die Höhe gingen, wurde noch nie so viel Geld verschleudert, und während es den meisten am Nötigsten fehlte, war das Überflüssige noch nie besser vergeudet worden. Immer zahlreicher wurden die Zerstreuungen eines Müßiggangs, der doch nichts anderes als Arbeitslosigkeit war. Tarrou und Cottard folgten manchmal während langer Minuten einem jener Pärchen, die früher ängstlich darauf bedacht gewesen waren, ihre Bindung zu verbergen und sich jetzt darauf versteiften, aneinandergepreßt, mit der ein wenig starren Zerstreutheit der großen Leidenschaften, durch die Stadt zu gehen, ungeachtet der sie umgebenden Menge. Cottard sagte gerührt: «Ah! Die lose Jugend!» Und er sprach laut, er blühte auf inmitten des allgemeinen Fiebers, der fürstlichen Trinkgelder, die rings um sie fielen, und der Intrigen, die vor ihren Augen gesponnen wurden. Dennoch war Tarrou der Ansicht, daß Cottards Haltung nicht viel Bosheit in sich barg. Sein «Ich habe das vor euch erlebt» drückte mehr Unglück als Triumph aus. «Ich glaube», sagte Tarrou, «daß er diese zwischen dem Himmel und den Mauern ihrer Stadt gefangenen Menschen zu lieben beginnt. Wenn er es vermöchte, erklärte er ihnen zum Beispiel gern, daß es gar nicht so entsetzlich schlimm ist. , hat er mir versichert, Er weiß tatsächlich, was er sagt», fügt Tarrou hinzu. «Er schätzt die Widersprüchlichkeiten der Oraner richtig ein: einerseits das gebieterische Verlangen nach Wärme, das sie einander nahebringt, andererseits die Unfähigkeit, sich ihm ganz hinzugeben, weil sie das Mißtrauen auseinandertreibt. Sie wissen zu gut, daß sie ihrem Nachbarn nicht vertrauen können, daß er fähig ist, einem unvermutet die Pest anzuhängen und die Hingabe benutzt, um einen anzustecken. Wenn man, wie Cottard, seine Zeit damit verbracht hat, einen Angeber in all denen zu wittern, deren Gesellschaft man doch sucht, kann man dieses Gefühl verstehen. Man hat aufrichtiges Mitleid mit Leuten, die ständig daran denken, daß die Pest ihnen von einem Tag auf den andern die Hand auf die Schulter legen kann und sich vielleicht schon dazu anschickt, während sie sich noch ihrer ungebrochenen Gesundheit erfreuen. Er fühlt sich wohl im Schrecken, soweit das möglich ist. Aber weil er das alles vor ihnen durchgemacht hat, kann er ihnen, glaube ich, nicht ganz nachempfinden, wie grausam diese Ungewißheit ist. Kurz, es ist ihm, wie uns allen, die wir noch nicht an der Pest gestorben sind, wohl bewußt, daß seine Freiheit und sein Leben täglich drauf und dran sind, zerstört zu werden. Aber da er selbst im Schrecken gelebt hat, findet er es natürlich, daß die anderen ihn auch erfahren. Genauer gesagt empfindet er den Schrecken weniger drückend, wenn er ihn nicht allein ertragen muß. In dieser Beziehung hat er unrecht, und darin ist er schwerer zu verstehen als andere Menschen. Aber schließlich verdient er deshalb auch mehr als andere, daß man ihn zu verstehen sucht.» Endlich schließen Tarrous Aufzeichnungen mit einem Bericht, der die eigenartige Einsicht beleuchtet, die Cottard und die verpesteten Menschen in gleicher Weise gewannen. Dieser Bericht gibt einigermaßen die schwierige Stimmung jener Zeit wieder, und deshalb mißt der Erzähler ihm Bedeutung bei. Sie waren in die städtische Oper gegangen, wo Glucks Orpheus gespielt wurde. Cottard hatte Tarrou eingeladen. Es handelte sich um eine Truppe, die im Frühling vor der Pest gekommen war, um in unserer Stadt einige Vorstellungen zu geben. Diese Truppe war von der Krankheit festgehalten worden und hatte sich gezwungen gesehen, mit der Oper einen Vertrag abzuschließen, der sie verpflichtete, ihr Stück jede Woche einmal zu spielen. So widerhallte unser Stadttheater seit Monaten jeden Freitag von den melodischen Klagen des Orpheus und den ohnmächtigen Rufen der Eurydike. Die Vorführung erfreute sich indessen weiterhin der Gunst des Publikums und brachte immer noch große Einnahmen. Cottard und Tarrou hatten die teuersten Plätze und überschauten ein Parkett, das die elegantesten Mitbürger zum Bersten füllten. Die Ankommenden waren sichtlich darauf bedacht, bei ihrem Eintritt Aufsehen zu erregen. Während das Orchester gedämpft seine Instrumente stimmte, zeichneten sich die Schatten deutlich gegen das blendende Rampenlicht ab, glitten von einer Seite zur andern und verneigten sich artig. In dem halblauten Stimmengewirr einer Unterhaltung guten Tones gewannen die Männer ihre Selbstsicherheit zurück, die ihnen in den schwarzen Straßen der Stadt gefehlt hatte. Der Frack verscheuchte die Pest. Während des ganzen ersten Aktes klagte Orpheus mühelos, ein paar Frauen in wallenden Gewändern besprachen sein Unglück mit Anmut, und die Liebe wurde mit Arietten besungen. Der Saal reagierte mit gedämpfter Begeisterung. Es wurde kaum beachtet, daß Orpheus in seine Arie des zweiten Aktes ein Zittern legte, das nicht vorgesehen war, und mit etwas übertriebenem Pathos den Beherrscher der Unterwelt anflehte, er möge sich von seinen Tränen rühren lassen. Einzelne abgerissene Bewegungen, die ihm entfuhren, erschienen den Eingeweihten als eine Folge der Stilisierung, die das Spiel des Sängers noch unterstrich. Erst im dritten Akt, bei dem großen Duett von Orpheus und Eurydike (an der Stelle, da Eurydike ihrem Geliebten entgleitet), ging eine gewisse Überraschung durch den Saal. Und als habe der Sänger nur auf diese Bewegung der Zuschauer gewartet, oder noch eher, als habe das Gemurmel des Parketts ihn in seinen eigenen Empfindungen bestätigt, wählte er diesen Augenblick, um in seinem altertümlichen Kostüm mit grotesken Bewegungen, mit gespreizten Armen und Beinen, an die Rampe zu treten und inmitten der idyllischen Kulissen, deren Anachronismus dem Publikum heute zum erstenmal - und zwar auf grauenvolle Weise - auffiel, zusammenzubrechen. Denn zur gleichen Zeit verstummte das Orchester, und die Zuschauer des Parketts erhoben sich und begannen den Saal langsam und anfänglich schweigend zu räumen, wie man nach der Messe die Kirche oder nach einem Besuch ein Sterbezimmer verläßt. Die Frauen rafften ihre Röcke zusammen und gingen gesenkten Hauptes aus dem Raum; die Männer führten ihre Begleiterinnen am Ellbogen und suchten sie davor zu bewahren, an den Klappsitzen anzustoßen. Aber allmählich überstürzte sich die Bewegung, das Flüstern wurde zu lautem Rufen, und die Menge strömte zu den Ausgängen, staute sich und suchte sich schließlich schreiend und mit rücksichtslosen Pfiffen einen Weg zu bahnen. Cottard und Tarrou hatten sich nun erhoben und blieben allein, angesichts eines der Bilder ihres damaligen Lebens: auf der Bühne die Pest in der Gestalt eines verrenkten Mimen, und im Saal eine überflüssig gewordene Verschwendung in der Gestalt vergessener Fächer und auf roten Sesseln liegender Spitzen. Während der letzten Septembertage hatte Rambert an Rieux' Seite tüchtig gearbeitet. Bloß am Tag, da er Gonzales und die beiden jungen Leute am Knabengymnasium treffen mußte, hatte er Urlaub verlangt. An jenem Tag sahen Gonzales und der Journalist die beiden Kleinen lachend herbeikommen. Sie sagten, das letzte Mal habe man Pech gehabt, aber das sei zu erwarten gewesen. Jedenfalls hatten sie diese Woche keinen Wachdienst mehr. Man mußte sich bis nächste Woche gedulden und dann von vorn anfangen. Rambert fand diesen Ausdruck treffend. Gonzales schlug also eine Verabredung für den folgenden Montag vor. Aber diesmal würde man Rambert bei Marcel und Louis einquartieren. «Wir zwei verabreden uns. Wenn ich nicht komme, gehst du geradewegs zu ihnen. Wir werden dir erklären, wo sie wohnen.» Aber Marcel, oder Louis, sagte in diesem Augenblick, es sei am einfachsten, den Kameraden gleich zu ihnen zu führen. Wenn er nicht anspruchsvoll sei, gebe es genug zu essen für vier. Und auf diese Art könne er sich umsehen. Gonzales fand diesen Einfall sehr gut, und sie stiegen zum Hafen hinab. Marcel und Louis wohnten am Rand des Marineviertels, in der Nähe der Tore, die auf die Felsenstraße gingen. Es war ein kleines spanisches Haus mit dicken Mauern, gestrichenen Fensterladen und nüchternen, schattigen Zimmern. Es gab Reis, aufgetragen von der Mutter der beiden Burschen, einer alten, lächelnden, runzligen Spanierin. Gonzales wunderte sich, denn in der Stadt fehlte der Reis schon. «An den Toren behilft man sich eben», sagte Marcel. Rambert aß und trank, und Gonzales sagte, er sei ein richtiger Kamerad, während der Journalist nur an die Woche dachte, die er hinter sich bringen mußte. In Wirklichkeit mußte er zwei Wochen warten, denn die Wachablösungen wurden auf vierzehn Tage ausgedehnt, damit die Zahl der Mannschaften verringert werden konnte. Und während dieser vierzehn Tage arbeitete Rambert ununterbrochen, ohne sich zu schonen, gewissermaßen mit geschlossenen Augen vom Morgengrauen bis in die Nacht. Spät abends ging er zu Bett und fiel in schweren Schlaf. Der unvermittelte Übergang vom Nichtstun zu dieser erschöpfenden Arbeit raubte ihm beinahe alle Träume und alle Kraft. Von seiner baldigen Flucht sprach er wenig. Ein einziges bemerkenswertes Ereignis: nach einer Woche gestand er dem Arzt, daß er sich in der vorhergehenden Nacht zum erstenmal betrunken habe. Als er aus der Bar trat, hatte er plötzlich das Gefühl, seine Leisten schwöllen an, und er habe Mühe, seine Arme in den Schultern zu bewegen. Er dachte, es sei die Pest. Die einzige Reaktion, deren er in diesem Augenblick fähig war und die er genauso unvernünftig fand wie Rieux, bestand darin, daß er in die obere Stadt rannte. Dort, auf einem kleinen Platz, von dem aus man noch immer nicht das Meer, aber doch ein größeres Stück Himmel sah, rief er über die Mauern der Stadt hinweg mit einem lauten Schrei nach seiner Frau. Als er nach seiner Rückkehr kein einziges Krankheitszeichen auf seinem Körper entdeckte, war er nicht sehr stolz auf diese plötzliche Schwäche. Rieux sagte, er verstehe sehr gut, daß man so handeln könne: «Auf alle Fälle kann es vorkommen, daß man Lust hat dazu. Herr Othon hat mir heute morgen von Ihnen erzählt», fügte Rieux unvermittelt dazu, als Rambert eben gehen wollte. «Er hat mich gefragt, ob ich Sie kenne. , hat er mir gesagt, » «Was bedeutet das ? » «Das bedeutet, daß Sie sich beeilen müssen.» «Danke», sagte Rambert und drückte dem Arzt die Hand. Auf der Schwelle drehte er sich plötzlich um. Rieux bemerkte, daß er zum erstenmal seit Beginn der Pest lächelte. «Warum hindern Sie mich denn nicht am Weggehen? Sie haben die Möglichkeit.» Rieux schüttelte mit der ihm eigenen Bewegung den Kopf und sagte, das sei Ramberts Angelegenheit, er habe sich für das Glück entschieden, und er, Rieux, habe ihm keine Gründe entgegenzusetzen. Er fühlte sich in dieser Sache außerstande, zu beurteilen, was gut oder was schlecht sei. «Warum raten Sie mir dann unter diesen Umständen, mich zu beeilen? » Rieux lächelte nun seinerseits: «Vielleicht habe auch ich Lust, etwas für das Glück zu tun.» Am nächsten Tag sprachen sie nicht mehr davon, sondern arbeiteten zusammen. In der folgenden Woche konnte Rambert endlich in das kleine spanische Haus übersiedeln. Im gemeinsamen Aufenthaltsraum war ihm ein Bett aufgeschlagen worden. Da die jungen Leute zu den Mahlzeiten nicht heimkamen, und da er gebeten worden war, so wenig wie möglich auszugehen, lebte er die meiste Zeit allein oder unterhielt sich mit der alten spanischen Mutter. Sie war dürr und rührig, schwarz gekleidet; ihr Gesicht unter den weißen, sehr sauberen Haaren war gebräunt und voll Runzeln. Wenn sie Rambert anschaute, lächelte sie nur wortlos mit den Augen. Andere Male fragte sie ihn, ob er nicht fürchte, seiner Frau die Pest zu bringen. Er fand, das sei ein Risiko, das man auf sich nehmen müsse und das im Grunde winzig klein sei, während sie bei seinem Verbleiben in der Stadt Gefahr liefen, auf immer getrennt zu werden. «Ist sie lieb?» fragte die Alte lächelnd. «Sehr lieb.» «Hübsch?» «Ich glaube.» «Aha», sagte sie, «darum.» Rambert dachte lange über ihre Antwort nach. Es war sicher darum, aber es konnte unmöglich bloß darum sein. «Sie glauben nicht an den lieben Gott?» fragte die Alte, die jeden Morgen zur Messe ging. Rambert gab es zu, und die Alte sagte wieder «Darum». «Sie müssen zu ihr gehen, Sie haben recht. Was bliebe Ihnen sonst?» Die übrige Zeit strich Rambert an den nackten, getünchten Mauern entlang, streichelte die an die Wand genagelten Fächer oder zählte die kleinen Wollknäuel, die an den Fransen der Tischdecke hingen. Abends kehrten die jungen Leute heim. Sie redeten nicht viel, außer um mitzuteilen, der Augenblick sei noch nicht gekommen. Nach dem Nachtessen spielte Marcel auf der Gitarre, und sie tranken einen Anisschnaps. Rambert schien nachzudenken. Am Mittwoch sagte Marcel beim Heimkommen: «Morgen abend, um Mitternacht. Halt dich bereit.» Von den zwei Männern, die mit ihnen den Posten besetzten, war der eine pestkrank geworden, und der andere, der gewöhnlich das Zimmer mit ihm teilte, stand unter Beobachtung. So blieben Marcel und Louis während zwei oder drei Tagen allein. Im Verlauf der Nacht würden sie die letzten Vorbereitungen treffen. Arn nächsten Tag werde es möglich sein. Rambert dankte. «Sind Sie froh?» fragte die Alte. Er bejahte, aber er dachte an etwas anderes. Am folgenden Tag war der Himmel schwer, die Hitze feucht und erstickend. Die Nachrichten von der Pest waren schlecht. Die alte Spanierin bewahrte indessen ihre Heiterkeit. «Es gibt so viel Sünde auf der Welt», sagte sie. «Da ist es nicht verwunderlich!» Wie Marcel und Louis ging auch Rambert mit nacktem Oberkörper. Aber er konnte tun, was er wollte, der Schweiß rann ihm über Brust und Rücken. Im Halbdunkel des Hauses erschienen ihre Körper braun und wie lackiert. Rambert bewegte sich wortlos im Kreise. Um vier Uhr nachmittags zog er sich plötzlich an und verkündete, er gehe aus. «Paß auf», sagte Marcel, «um Mitternacht. Es ist alles bereit.» Rambert begab sich zum Arzt nach Hause. Rieux' Mutter sagte ihm, er werde ihn im Spital der oberen Stadt finden. Vor dem Wachtposten drehte sich die gleiche Menge immer um sich selber. «Weitergehen!» sagte ein Wachtmeister mit Glotzaugen. Die anderen gingen weiter, aber im Kreis herum. «Es gibt nichts zu warten», sagte der Wachtmeister, durch dessen Jacke der Schweiß drang. Die anderen waren derselben Meinung, aber sie blieben dennoch, trotz der mörderischen Hitze. Rambert zeigte seinen Passierschein, und der Wachtmeister wies ihn zu Tarrous Arbeitszimmer. Die Tür ging auf den Hof. Er begegnete Pater Paneloux, der eben den Raum verließ. In einem schmutzigen weißen Zimmerchen, das nach Apotheke und feuchtem Tuch roch, saß Tarrou hemdsärmelig hinter einem Schreibtisch aus schwarzem Holz und tupfte mit einem Taschentuch den Schweiß ab, der sich in seinem Armgelenk sammelte. «Noch da?» fragte er. «Ja. Ich möchte mit Rieux reden.» «Er ist im Krankensaal. Aber wenn Sie es ohne ihn machen können, wäre es besser.» «Warum?» «Er ist überlastet. Ich nehme ihm ab, was ich kann.» Rambert schaute Tarrou an. Er war magerer geworden. Die Müdigkeit hatte seine Augen und seine Züge getrübt. Seine starken Schultern waren vornüber gebeugt. Es klopfte an die Tür, und ein Krankenwärter mit einer weißen Maske trat ein. Er legte ein Bündel Zettel auf Tarrous Schreibtisch und sagte bloß mit einer vom Tuch erstickten Stimme: «Sechs», dann ging er wieder. Tarrou blickte den Journalisten an und zeigte ihm die Zettel, die er fächerförmig ausbreitete. «Schöne Zettel, nicht wahr? Im Gegenteil, das sind Tote. Die Toten der letzten Nacht.» In seine Stirn hatten sich Furchen gegraben. Er bündelte die Zettel wieder. «Das einzige, was uns noch bleibt, ist die Buchführung.» Tarrou erhob sich, und er stützte sich dabei auf den Tisch. «Gehen Sie bald?» «Heute um Mitternacht.» Tarrou sagte, das freue ihn, und Rambert solle auf sich achtgeben. «Meinen Sie das aufrichtig?» Tarrou zuckte die Achseln. «In meinem Alter ist man ganz von selbst aufrichtig. Lügen macht zu müde.» «Tarrou», sagte der Journalist, «ich möchte den Doktor sehen. Entschuldigen Sie mich.» «Ich weiß. Er ist menschlicher als ich. Kommen Sie.» «Es ist nicht das», sagte Rambert mühsam. Und er hielt inne. Tarrou schaute ihn an und lächelte ihm plötzlich zu. Sie gingen durch einen kleinen, hellgrün gestrichenen Gang, in dem eine Aquariumsbeleuchtung herrschte. Gerade bevor sie an eine doppelte Glastür kamen, hinter der sich seltsame Schatten bewegten, mußte Rambert in ein winziges, ringsum mit Wandschränken versehenes Zimmer eintreten. Tarrou öffnete einen der Schränke, entnahm einem Sterilisierkessel zwei Gazemasken, reichte Rambert die eine und forderte ihn auf, sie vorzubinden. Der Journalist fragte, ob das etwas nütze; Tarrou verneinte, es flöße aber den anderen Vertrauen ein. Sie durchschritten die Glastür. Der Saal war riesengroß, und trotz der Jahreszeit blieben die Fenster dicht geschlossen. Oben an den Wänden surrten Ventilatoren, die die Luft erneuerten, und ihre krummen Flügel schlugen die dicke, überhitzte Luft über den zwei Reihen grauer Betten. Überall erhob sich dumpfes oder schrilles Jammern, das zu einer einzigen, eintönigen Klage wurde. Weißgekleidete Männer bewegten sich langsam in dem grausamen Licht, das durch die hohen, vergitterten Fenster hereinflutete. Rambert fühlte sich in der entsetzlichen Hitze dieses Saals unbehaglich und erkannte nur mit Mühe Rieux, der sich über eine ächzende Masse beugte. Der Arzt schnitt einem Kranken die Leisten auf, während zwei Schwestern auf beiden Seiten des Bettes den Patienten festhielten. Als Rieux sich wieder aufrichtete, ließ er seine Instrumente in das Becken fallen, das ein Assistent ihm hinstreckte, und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen, um den Mann zu betrachten, der nun verbunden wurde. «Was gibt es Neues?» fragte er Tarrou, der näher trat. «Paneloux ist damit einverstanden, Rambert im Quarantänehaus zu ersetzen. Er hat schon viel geleistet. Nun müssen wir noch die dritte Fahndungsgruppe ohne Rambert neu zusammenstellen.» Rieux nickte. «Castel ist mit seinem ersten Impfstoff fertig. Er schlägt einen Versuch vor.» «Oh!» sagte Rieux. «Das ist fein.» «Und schließlich ist Rambert hier.» Rieux drehte sich um. Er kniff die Augen über der Maske zusammen, als er den Journalisten gewahrte. «Was tun Sie hier?» fragte er. «Sie sollten jetzt anderswo sein.» Tarrou erzählte, um Mitternacht sei es soweit, und Rambert fügte hinzu: «Grundsätzlich.» Jedesmal, wenn einer von ihnen sprach, bauschte sich die Gazemaske und wurde um den Mund herum feucht. Das verlieh der Unterhaltung die Unwirklichkeit eines Gesprächs zwischen Statuen. «Ich möchte mit Ihnen reden», sagte Rambert. «Wenn es Ihnen gleich ist, werden wir zusammen weggehen. Warten Sie in Tarrous Büro auf mich.» Einen Augenblick später machten Rambert und Rieux es sich im Wagen des Arztes bequem. Tarrou steuerte. «Kein Benzin mehr», sagte er beim Losfahren. «Morgen werden wir zu Fuß gehen.» «Herr Doktor», sagte Rambert, «ich gehe nicht weg, ich will bei Ihnen bleiben.» Tarrou rührte sich nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Wagen. Rieux schien unfähig, sich aus seiner Müdigkeit aufzurütteln. «Und Ihre Frau?» fragte er tonlos. Rambert erklärte, er habe weiter nachgedacht, er glaube auch fernerhin, was er geglaubt habe, aber wenn er fortginge, müßte er sich schämen. Und das würde ihn in seiner Liebe zu der Wartenden stören. Aber Rieux richtete sich auf und sagte mit fester Stimme, das sei Blödsinn, man brauche sich nicht zu schämen, wenn man das Glück vorziehe. «Ja», sagte Rambert, «aber man kann sich schämen, allein glücklich zusein.» Tarrou, der bis dahin geschwiegen hatte, bemerkte nun ohne den Kopf zu drehen, daß Rambert nie mehr Zeit für das Glück haben werde, wenn er das Unglück der Menschen teilen wolle. Er müsse wählen. «Darum geht es nicht», sagte Rambert. «Ich habe immer gedacht, ich sei fremd in dieser Stadt und habe nichts zu tun mit euch. Aber jetzt, nachdem ich das alles gesehen habe, weiß ich, daß ich hierher gehöre, ob ich es will oder nicht. Diese Geschichte geht uns alle an.» Niemand antwortete, und Rambert schien die Geduld zu verlieren. «Übrigens wissen Sie das ganz genau! Was hätten Sie sonst in diesem Spital zu tun? Haben Sie denn gewählt und aufs Glück verzichtet?» Tarrou und Rieux antworteten noch immer nichts. Das Schweigen dauerte, bis sie sich dem Haus des Arztes näherten. Und Rambert stellte seine letzte Frage noch einmal, noch eindrücklicher. Und einzig Rieux wandte sich ihm zu. Er richtete sich mühsam auf: «Verzeihen Sie mir, Rambert», sagte er, «aber ich weiß es nicht. Bleiben Sie bei uns, da Sie es nun einmal so haben wollen.» Ein plötzliches Ausweichen des Autos brachte ihn zum Verstummen. Dann fuhr er fort und schaute vor sich hin: «Nichts auf der Welt ist es wert, daß man sich von dem abwendet, was man liebt. Und doch wende auch ich mich davon ab, ohne zu wissen, warum.» Er ließ sich in das Polster zurückfallen. «Es ist eben so, das ist alles», sagte er müde. «Verzeichnen wir es und ziehen wir die Konsequenzen.» «Was für Konsequenzen?» fragte Rambert. «Ach», sagte Rieux, «man kann nicht gleichzeitig heilen und wissen. Also wollen wir so schnell wie möglich heilen. Das ist das Dringendste.» Um Mitternacht, während Tarrou und Rieux Rambert einen Plan des Viertels bereit machten, das er zu betreuen hatte, schaute Tarrou auf die Uhr. Als er den Kopf hob, begegnete er Ramberts Blick. «Haben Sie Nachricht gegeben?» Der Journalist wandte die Augen ab. «Ich hatte ihnen eine Zeile geschrieben, bevor ich zu Ihnen kam», sagte er mühsam. In den letzten Oktobertagen wurde Castels Serum ausprobiert. Es war eigentlich Rieux' letzte Hoffnung. Der Arzt war überzeugt, daß im Falle eines Mißerfolgs die Stadt den Launen der Krankheit ausgeliefert würde; sei es, daß die Seuche noch während langer Monate fortwütete, sei es, daß sie grundlos aufhörte. Am Vorabend des Tages, da Castel Rieux aufsuchte, war Herrn Othons Sohn krank geworden, und die ganze Familie hatte sich in Quarantäne begeben müssen. Die Mutter, die eben erst entlassen worden war, wurde also zum zweitenmal abgesondert. Sobald der Richter auf dem Körper des Kindes die Krankheitsmale entdeckte, hatte er vorschriftsgemäß Dr. Rieux holen lassen. Als Rieux hinkam, standen Vater und Mutter zu Füßen des Bettes. Das kleine Mädchen war fortgeschickt worden. Der Junge befand sich in der Periode der Erschlaffung und ließ sich klaglos untersuchen. Als der Doktor den Kopf hob, begegnete er dem Blick des Richters und hinter ihm dem bleichen Gesicht der Mutter, die ein Taschentuch vor den Mund gedrückt hielt und den Bewegungen des Arztes mit weit geöffneten Augen folgte. «Nicht wahr, es ist die Pest?» fragte der Richter kalt. «Ja», antwortete Rieux und betrachtete wieder das Kind. Die Augen der Mutter wurden noch größer, aber sie sagte noch immer nichts. Auch der Richter schwieg; dann sagte er leise: «Also, Herr Doktor, wir müssen tun, was vorgeschrieben ist.» Rieux vermied es, die Mutter anzusehen, die noch immer das Taschentuch auf den Mund preßte. «Das ist schnell erledigt, wenn ich telefonieren darf», sagte er zögernd. Herr Othon sagte, er werde ihm den Weg zeigen. Aber der Arzt wandte sich der Frau zu: «Es tut mir entsetzlich leid. Sie sollten ein paar Sachen bereitlegen. Sie kennen das ja.» Frau Othon schien die Sprache verloren zu haben. Sie schaute zu Boden. «Ja», sagte sie kopfnickend, «das werde ich tun.» Bevor Rieux ging, konnte er sich nicht enthalten zu fragen, ob sie etwas brauchten. Die Frau blickte ihn nur schweigend an. Aber diesmal wandte der Richter die Augen ab. «Nein», sagte er und schluckte, «aber retten Sie mein Kind.» Die Quarantäne war anfänglich nur eine Formsache gewesen; Rieux und Rambert hatten sie jedoch sehr streng organisiert. So hatten sie zum Beispiel ausdrücklich verlangt, daß die Mitglieder einer Familie immer voneinander getrennt würden. Wenn ein Familienangehöriger ohne sein Wissen angesteckt worden war, durfte man die Aussichten der Krankheit nicht vergrößern. Rieux setzte dem Richter diese Gründe auseinander, und er billigte sie. Indessen schauten seine Frau und er sich auf eine Art an, die den Arzt fühlen ließ, wie sehr diese Trennung sie aus der Fassung brachte. Frau Othon konnte mit ihrem Töchterchen in dem Quaratänehotel wohnen, dem Rambert vorstand. Aber für den Untersuchungsrichter war kein Platz mehr, außer im Absonderungslager, das die Präfektur eben auf dem städtischen Sportplatz eingerichtet hatte; die nötigen Zelte wurden vom Straßenbauamt geliehen. Rieux entschuldigte sich, aber Herr Othon sagte, es gebe für alle nur eine Regel, und es sei nur recht und billig, ihr zu gehorchen. Das Kind wurde ins Hilfsspital gebracht; in einem ehemaligen Klassenzimmer standen nun sechs Betten. Nach etwa zwanzig Stunden betrachtete Rieux den Fall als hoffnungslos. Der kleine Körper ließ sich wehrlos vom Gift verzehren. Ganz kleine, schmerzhafte, aber kaum ausgebildete Beulen versperrten die Gelenke seiner zarten Glieder. Er war im voraus besiegt. Darum kam Rieux auf den Gedanken, Castels Serum an ihm auszuprobieren. An demselben Abend noch nahmen sie nach dem Nachtessen die lange Einimpfung vor, ohne daß das Kind ein einziges Mal reagierte. Am anderen Morgen begaben sich alle schon in der Morgendämmerung ans Bett des kleinen Jungen, um sich vom Ausgang dieses entscheidenden Versuchs zu überzeugen. Das Kind war aus seiner Erschlaffung erwacht und wälzte sich zuk-kend in den Bettüchern. Dr. Castel und Tarrou wachten seit vier Uhr morgens bei ihm und verfolgten Schritt für Schritt das Umsichgreifen oder Innehalten der Krankheit. Am Kopfende des Bettes befand sich Tarrous massige, etwas gebeugte Gestalt. Am Fußende saß Castel neben dem stehenden Rieux und las mit allen Anzeichen der Ruhe in einem alten Werk. Während allmählich der Tag sich im ehemaligen Schulzimmer verbreitete, kamen nach und nach auch die anderen. Zuerst Paneloux, der sich Tarrou gegenüber auf der anderen Seite des Bettes an die Wand lehnte. Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und seine hochrote Stirn war gezeichnet von der Müdigkeit all der Tage, da er sich schonungslos eingesetzt hatte. Dann erschien Joseph Grand. Es war sieben Uhr, und der Angestellte entschuldigte sich, daß er außer Atem sei. Er könne nur einen Augenblick bleiben, ob man vielleicht schon etwas Bestimmtes wisse. Wortlos zeigte Rieux ihm das Kind, das mit geschlossenen Augen, einem entstellten Gesicht, mit aufs äußerste zusammengebissenen Zähnen unbeweglich dalag und nur auf dem Kissen, von dem das Bettuch herabgeglitten war, unaufhörlich den Kopf von rechts nach links und von links nach rechts drehte. Als es endlich so hell war, daß im Hintergrund des Zimmers auf der dort verbliebenen Wandtafel Spuren alter Gleichungsformeln zu erkennen waren, traf Rambert ein. Er lehnte sich an das Fußende des nächsten Bettes und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Aber nach einem Blick auf das Kind steckte er es wieder in seine Tasche. Der immer noch sitzende Castel schaute Rieux über seine Brille hinweg an. «Haben Sie Nachricht vom Vater?» «Nein», sagte Rieux. «Er ist im Absonderungslager.» Der Arzt umklammerte mit aller Kraft die Querstange des Bettes, in dem das Kind stöhnte. Er wandte keinen Blick von dem kleinen Kranken; der wurde plötzlich steif, biß wieder die Zähne aufeinander und bog sich leicht in der Hüfte, während er langsam Arme und Beine ausbreitete. Von dem kleinen Körper, der nackt unter der Militärdecke lag, stieg ein Geruch nach Wolle und saurem Schweiß auf. Das Kind entspannte sich ein wenig, zog Arme und Beine wieder zurück und schien schneller zu atmen, blieb aber immer noch blind und stumm. Rieux begegnete Tarrous Blick, der die Augen abwandte. Da die Seuche seit Monaten wütete und ihre Opfer nicht auswählte, hatten sie schon viele Kinder sterben sehen, aber noch nie Minute auf Minute ihr Leiden verfolgt, wie sie es jetzt seit dem Morgen taten. Und nie war ihnen der Schmerz, den diese Unschuldigen erdulden mußten, als etwas anderes erschienen, als was er in Wahrheit war, nämlich eine empörende Schmach. Aber bisher hatten sie sich gewissermaßen nur abstrakt empört, weil sie noch nie so lange dem Todeskampf eines Unschuldigen unmittelbar zugeschaut hatten. Eben zog sich das Kind mit einem Stöhnen wieder zusammen, als wäre es in den Magen gebissen worden. Während langer Sekunden blieb es so gekrümmt, von Schauern und krampfartigem Zittern geschüttelt, als würde sein zarter Leib von dem wütenden Pestwind geknickt und unter dem feurigen Atem des Fiebers zerbrochen. Wenn der Sturm vorüber war, entspannte es sich ein wenig, das Fieber schien sich zurückzuziehen und es schwer atmend auf einem feuchten und vergifteten Ufer liegen zu lassen, wo die Ruhe schon dem Tode glich. Als die glühende Flut das Kind zum drittenmal erreichte und es ein wenig emporhob, kauerte es sich zusammen, kroch voll Entsetzen vor der sengenden Flamme tiefer ins Bett, bewegte den Kopf wie irrsinnig und warf die Decke von sich. Dicke Tränen drangen unter den entzündeten Lidern hervor und rollten über das bleifarbene Gesicht; als der Anfall vorüber war, nahm das erschöpfte Kind mit seinen verkrampften, knochigen Armen und Beinen, die in 48 Stunden völlig abgemagert waren, im zerwühlten Bett die groteske Stellung eines Gekreuzigten ein. Tarrou beugte sich vor und trocknete mit seiner schweren Hand das von Tränen und Schweiß nasse Gesichtchen. Seit einer Weile hatte Castel zu lesen aufgehört und betrachtete den Kranken. Er begann einen Satz, mußte jedoch husten, um ihn beenden zu können, denn seine Stimme brach sich rauh: «Die morgendliche Besserung ist nicht eingetreten, nicht wahr, Rieux?» Rieux verneinte, jedoch halte es das Kind schon länger aus als die anderen. Da sagte Paneloux, der ein wenig zusammengesunken an der Wand lehnte, tonlos: «Wenn er sterben muß, wird er länger gelitten haben.» Rieux drehte sich jäh zu ihm um und öffnete den Mund zum Sprechen, aber er schwieg, rang sichtlich nach Selbstbeherrschung und schaute wieder das Kind an. Das Licht im Saal wurde heller. In den übrigen fünf Betten ächzten und bewegten sich Gestalten, aber mit einer Zurückhaltung, die verabredet schien. Nur am anderen Ende des Zimmers jammerte einer und stieß in regelmäßigen Abständen kleine Schreie aus, die mehr Erstaunen als Schmerz auszudrücken schienen. Es war, als empfänden die Kranken nicht mehr das Entsetzen des Anfangs. In ihrer Art, die Krankheit auf sich zu nehmen, verriet sich sogar eine gewisse Zustimmung. Einzig das Kind kämpfte mit aller Kraft. Rieux fühlte ihm von Zeit zu Zeit den Puls, ohne Notwendigkeit übrigens und mehr um seine ohnmächtige Unbeweglichkeit abzuschütteln. Wenn er dann die Augen schloß, fühlte er, wie diese Erregung mit dem Aufruhr seines eigenen Blutes verschmolz. Dann vereinigte er sich mit dem gemarterten Kind und versuchte, es mit seiner ganzen noch unangetasteten Kraft zu unterstützen. Aber nach einer Minute des Einsseins entzweiten sich die Pulsschläge ihrer beiden Herzen, das Kind entglitt ihm, und seine Anstrengung versank im Leeren. Dann ließ er das schmale Handgelenk los und kehrte an seinen Platz zurück. An den weißgetünchten Wänden wurde das rosa Licht langsam gelb. Hinter den Scheiben begann ein heißer Morgen zu knistern. Kaum hörte man Grand fortgehen und sagen, er werde wiederkommen. Alle warteten. Das Kind hielt die Augen noch immer geschlossen und schien sich ein wenig zu beruhigen. Die Hände, die wie Krallen geworden waren, wühlten leise in den Bettseiten. Sie stiegen höher, kratzten in der Kniegegend auf der Decke, und plötzlich bog das Kind die Beine, zog die Schenkel an den Bauch und verharrte unbeweglich. Dann öffnete es zum erstenmal die Augen und schaute Rieux an, der vor ihm stand. In seinem nun aus dem grauen Lehm geformten Gesicht öffnete sich der Mund, und fast gleichzeitig entrang sich ihm ein einziger, von der Atmung kaum veränderter, ununterbrochener Schrei, der mit einem Schlag den Saal mit einem eintönigen, schrillen Protest erfüllte, der so wenig menschlich war, daß er von allen Menschen zugleich zu kommen schien. Rieux biß die Zähne zusammen, und Tarrou wandte sich ab. Castel klappte das Buch zu, das noch aufgeschlagen auf seinen Knien lag. Rambert trat neben ihn ans Bett. Paneloux schaute diesen von der Krankheit beschmutzten, vom Schrei aller Zeiten erfüllten Kindermund an. Und er ließ sich auf die Knie gleiten, und alle fanden es natürlich, als sie ihn mit etwas erstickter, aber trotz der namenlosen unaufhörlichen Klage deutlicher Stimme sagen hörten: «Mein Gott, rette dieses Kind!» Aber das Kind schrie weiter, und ringsum wurden die Kranken unruhig. Der Patient am anderen Ende, dessen Rufe nicht aufgehört hatten, beschleunigte den Rhythmus seines Klagens, bis auch dies ein richtiger Schrei war, während die anderen immer lauter jammerten. Eine Flut von Schluchzen überschwemmte den Saal und übertönte Paneloux' Gebet, und Rieux, der sich an der Bettstange festhielt, schloß die Augen: ihm war übel vor Müdigkeit und Ekel. Als er sie wieder öffnete, stand Tarrou neben ihm. «Ich muß fort», sagte Rieux. «Ich kann es nicht mehr ertragen.» Aber plötzlich verstummten die übrigen Kranken. Da merkte der Arzt, daß der Schrei des Kindes schwächer geworden war, daß er immer weiter abnahm und nun aufhörte. Ringsum fing das Klagen wieder an, aber gedämpft und wie ein fernes Echo auf den Kampf, der vollendet war. Denn er war vollendet. Castel war auf die andere Seite des Bettes getreten und sagte, es sei zu Ende. Mit offenem, aber stummem Mund ruhte das Kind inmitten der durcheinandergeworfenen Decken; es war plötzlich klein geworden, und auf seinem Gesicht waren noch die Spuren der Tränen zu sehen. Paneloux näherte sich dem Bett und machte die Gebärde des Segnens. Dann raffte er seine Soutane zusammen und verließ den Saal durch den Mittelgang. «Muß man ganz von vorne anfangen?» fragte Tarrou Castel. Der alte Arzt schüttelte den Kopf. «Vielleicht», sagte er mit einem verzerrten Lächeln. «Schließlich hat er sich lange gewehrt.» Aber Rieux stürmte schon hinaus. Sein Schritt war so überstürzt, sein Ausdruck so grimmig, daß Paneloux den Arm ausstreckte, um ihn zurückzuhalten, als er an ihm vorübereilte. «Aber Herr Doktor», sagte er zu ihm. Mit derselben ungestümen Bewegung drehte Rieux sich um und warf heftig hin: «Ah! Der wenigstens war unschuldig, das wissen Sie wohl!» Dann wandte er sich ab, trat vor Paneloux durch die Tür und ging bis ans Ende des Schulhofs. Dort setzte er sich zwischen den kleinen, staubbedeckten Bäumen auf eine Bank und wischte sich den Schweiß ab, der ihm in die Augen lief. Er hätte weiterschreien mögen, um endlich den unerbittlichen Knoten zu lösen, der ihm das Herz zusammenschnürte. Die Hitze fiel langsam zwischen den Zweigen der Feigenbäume herab. Der blasse Morgenhimmel bedeckte sich rasch mit einem weißlichen Schimmer, der die Luft drückend machte. Rieux saß auf seiner Bank und überließ sich seiner Ermattung. Er betrachtete die Zweige, den Himmel, kam langsam zu Atem und schluckte allmählich seine Müdigkeit wieder herunter. «Warum haben Sie so zornig mit mir gesprochen?» fragte eine Stimme hinter ihm. «Auch ich fand diesen Anblick unerträglich.» Rieux wandte sich Paneloux zu. «Sie haben recht», sagte er. «Verzeihen Sie mir. Aber die Übermüdung ist eine Art Wahnsinn. Und es gibt Zeiten in dieser Stadt, da ich nur mehr meine Empörung spüre.» «Ich verstehe», murmelte Paneloux. «Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können.» Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war, schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf. «Nein, Pater», sagte er. «Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.» Ein bestürzter Schatten huschte über Paneloux' Gesicht. «Ach, Herr Doktor», sagte er traurig, «eben habe ich erkannt, was Gnade heißt.» Aber Rieux war von neuem auf seiner Bank zusammengesunken. Seine Müdigkeit war zurückgekehrt und ließ ihn sanfter antworten. «Die habe ich nicht, ich weiß. Aber ich will nicht mit Ihnen darüber streiten. Wir arbeiten miteinander für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet vereint. Das allein ist wichtig.» Paneloux setzte sich neben Rieux. Er schien bewegt. «Ja», sagte er, «ja, auch Sie arbeiten für das Heil der Menschen.» Rieux versuchte zu lächeln. «Das Heil der Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich geht ihre Gesundheit an, zuallererst ihre Gesundheit.» Paneloux zögerte. «Herr Doktor», sagte er. Aber er hielt inne. Auch auf seiner Stirn fing der Schweiß an zu perlen. Er murmelte: «Auf Wiedersehen», und seine Augen glänzten, als er sich erhob. Er war im Weggehen, als Rieux, der aus seinem Nachsinnen erwachte, ebenfalls aufstand und einen Schritt auf ihn zuging. «Noch einmal, verzeihen Sie mir», sagte er. «Ein solcher Ausbruch wird sich nicht wiederholen.» Paneloux streckte die Hand aus und sagte traurig: «Und doch habe ich Sie nicht überzeugt!» «Was tut das schon?» fragte Rieux. «Was ich hasse sind der Tod und das Böse, das wissen Sie ja. Und ob Sie es wollen oder nicht, wir stehen zusammen, um beides zu erleiden und zu bekämpfen.» Rieux hielt Paneloux' Hand fest. «Sehen Sie», sagte er und vermied es, ihn anzuschauen, «jetzt kann Gott selber uns nicht scheiden.» Seit Paneloux in die Sanitätsgruppen eingetreten war, hatte er die Spitäler und die anderen Orte, wo die Pest herrschte, nicht mehr verlassen. Er hatte unter den Rettern die Stelle eingenommen, die er für die seine hielt, nämlich die erste. An Bildern des Todes hatte es ihm nicht gefehlt. Und obgleich ihn das Serum grundsätzlich schützte, war ihm auch die Sorge um sein eigenes Leben nicht fremd geblieben. Nach außen hatte er seine Ruhe immer bewahrt. Aber seit dem Tag, da er lange dem Sterben eines Kindes zugeschaut hatte, schien er verändert. In seinen Zügen drückte sich eine wachsende Spannung aus. Und als er Rieux eines Tages lächelnd erklärte, er bereite gegenwärtig eine kurze Abhandlung vor über das Thema: «Kann ein Priester einen Arzt zu Rate ziehen?» hatte der Doktor den Eindruck, es handle sich um etwas viel Ernsteres, als Paneloux zugeben wollte. Da der Arzt den Wunsch äußerte, in diese Arbeit Einsicht nehmen zu dürfen, teilte Paneloux ihm mit, daß er in der Männermesse predigen werde und bei dieser Gelegenheit einige seiner Ansichten darlegen wolle. «Ich möchte, daß Sie auch kommen, Herr Doktor. Das Thema wird Sie interessieren.» Der Pater hielt seine zweite Predigt an einem stürmischen Tag. Um die Wahrheit zu sagen, waren die Reihen der Zuhörer lichter als bei der ersten Predigt. Denn diese Art Schauspiel hatte für unsere Mitbürger den Reiz der Neuheit verloren. Unter den schwierigen Verhältnissen, in denen die Stadt lebte, hatte selbst das Wort «Neuheit» seinen Sinn verloren. Im übrigen hatten die meisten Leute, wenn sie ihre religiösen Pflichten nicht völlig vernachlässigten oder mit einem äußerst unmoralischen Lebenswandel verbanden, die gewöhnlichen Glaubensübungen durch ziemlich vernunftwidrigen Aberglauben ersetzt. Sie trugen lieber einen Talisman oder Amulette des heiligen Rochus, als daß sie zur Messe gingen. Als Beispiel kann auch der übermäßige Gebrauch angeführt werden, den unsere Mitbürger von Prophezeiungen machten. Im Frühling hatten sie noch von einem Augenblick zum andern das Ende der Krankheit erwartet, und es war niemandem eingefallen, andere Leute um genaue Voraussagen über die Dauer der Epidemie zu bitten, weil jedermann sich einredete, daß sie keine haben werde. Aber als Tag um Tag verging, begann man zu fürchten, das Unheil werde überhaupt kein Ende nehmen, und mit einem Schlag wurde das Aufhören der Seuche zum Gegenstand aller Hoffnungen. So machten unter der Hand verschiedene Prophezeiungen die Runde, die Magiern zugeschrieben wurden oder Heiligen der katholischen Kirche. Drucker der Stadt erfaßten sehr schnell den Vorteil, den sie aus dieser blinden Voreingenommenheit schlagen konnten, und verbreiteten die umlaufenden Texte in großer Zahl. Bald merkten sie, daß die Neugier der Leute unersättlich war und ließen in den städtischen Bibliotheken alle im Kleinkram der Geschichte überlieferten Zeugnisse dieser Art ausgraben, um sie dann in der Stadt zu verkaufen. Als sogar die Geschichte keine Prophezeiungen mehr zu bieten vermochte, bestellte man sie bei den Journalisten, die sich wenigstens in diesem Punkt ihren Vorbildern vergangener Jahrhunderte als ebenbürtig erwiesen. Einzelne dieser Prophezeiungen erschienen sogar als Feuilleton in den Zeitungen und wurden ebenso gierig verschlungen wie die Liebesgeschichten, die zur Zeit der Gesundheit an dieser Stelle zu lesen waren. Einige dieser Voraussagen stützten sich auf absonderliche Rechnungen, in denen die Jahreszahl, die Anzahl der Toten und der bereits vergangenen Pestmonate eine Rolle spielten. Wieder andere stellten Vergleiche mit den großen Pestseuchen der Geschichte auf, schälten die Ähnlichkeiten heraus (die die Prophezeiungen als Konstanten bezeichneten) und behaupteten an Hand nicht weniger absonderlicher Berechnungen, daraus Lehren für die gegenwärtige Prüfung ziehen zu können. Am meisten liebte das Publikum jedoch jene Voraussagen, die in apokalyptischer Sprache eine Reihe von Ereignissen ankündigten, deren jedes einzelne auf die gegenwärtige Lage der Stadt angewendet werden konnte und deren Vieldeutigkeit alle Auslegungen zuließ. So wurden No-stradamus und die heilige Ottilie täglich zu Rate gezogen, und immer mit Erfolg. Alle Prophezeiungen hatten übrigens das eine gemeinsam, daß sie letzten Endes beruhigend waren. Nur die Pest war es nicht. So diente dieser Aberglaube unseren Mitbürgern als Religion, und das war der Grund, weshalb Paneloux vor einer nur zu drei Vierteln gefüllten Kirche predigte. Als Rieux am Abend der Predigt eintraf, drang der Wind in kleinen Stößen durch die angelehnten Türflügel und wehte ungehindert durch die Reihen der Zuhörer. Und der Arzt nahm in einer eiskalten, schweigenden Kirche, inmitten einer Zuhörerschaft Platz, die ausschließlich aus Männern zusammengesetzt war. Dann sah er den Pater die Kanzel besteigen. Er sprach in sanfterem, überlegterem Ton als das erste Mal, und die Zuhörer bemerkten mehrmals ein gewisses Zögern in seinen Worten. Seltsam war auch, daß er nicht mehr «ihr» sagte, sondern «wir». Seine Stimme wurde indessen allmählich fester. Zunächst erinnerte er daran, daß die Pest seit langen Monaten unter uns war und daß wir jetzt vielleicht besser aufnehmen könnten, was sie uns ohne Unterlaß sagte und was wir in der ersten Überraschung vielleicht nicht richtig angehört hatten. Denn jetzt kannten wir sie besser, nachdem wir so manches Mal gesehen hatten, wie sie sich an unserem Tisch oder am Lager derer, die wir liebten, niederließ; wie sie neben uns einherging und an unserer Arbeitsstätte auf unser Kommen wartete. Was Pater Paneloux schon an der gleichen Stelle gepredigt hatte, blieb wahr - dies war zumindest seine Überzeugung. Aber vielleicht hatte er es ohne Nächstenliebe gedacht und gesagt, wie das uns allen widerfuhr, und damit meinte er auch sich. Wahr blieb jedoch, daß es in allen Dingen immer etwas zu lernen gab. Auch die grausamste Prüfung war für den Christen noch Gewinn. Und das war es gerade, was der Christ suchen mußte, seinen Gewinn, und worin der Gewinn bestand und wie er zu finden war. In diesem Augenblick schienen die Leute um Rieux sich zwischen den Armlehnen ihrer Sitze zurechtzurücken, um eine möglichst behagliche Stellung einzunehmen. Eine der gepolsterten Eingangstüren schlug leise. Jemand erhob sich, um sie zu befestigen. Und von dieser Bewegung abgelenkt, hörte Rieux kaum die Fortsetzung der Predigt. Paneloux sagte ungefähr, es dürfe nicht versucht werden, das Schauspiel der Pest zu erklären, sondern man müsse sich bemühen, zu lernen, was aus ihr zu lernen sei. Rieux erfaßte verworren, daß es nach des Paters Ansicht gar nichts zu erklären gab. Sein Interesse wurde wieder wach, als er hörte, wie Paneloux mit Entschiedenheit sagte, es gebe Dinge, die man im Angesicht Gottes erklären könne, und andere, die unerklärlich blieben. Gewiß gab es Gut und Böse, und im allgemeinen konnte man auch leicht verstehen, was sie trennte. Aber die Schwierigkeit begann innerhalb des Bösen. So gab es zum Beispiel das scheinbar notwendige und das scheinbar unnütze Übel. Es gab den in die Hölle gestürzten Don Juan und den Tod eines Kindes. Denn während es gerecht ist, daß der Wüstling niedergeschmettert wird, versteht man das Leiden des Kindes nicht. Und es gab in Wahrheit nichts Wichtigeres auf Erden als das Leiden eines Kindes und das Grauen, das dies Leiden mit sich bringt, und die Gründe, die man dafür finden muß. Im übrigen Leben erleichterte Gott uns alles, und bis dahin war die Religion ohne Verdienst. Hier drückte er uns im Gegenteil an die Wand. So standen wir am Fuß des Gemäuers der Pest, in deren todbringendem Schatten wir unseren Gewinn finden mußten. Pater Paneloux weigerte sich sogar, sich selbst Erleichterungen und Vorteile zu gewähren, die ihm das Erklettern der Mauer gestattet hätten. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, zu sagen, daß die Ewigkeit himmlischer Freuden, die das Kind erwartete, sein Leiden aufwiegen konnte; aber in Wahrheit wußte er nichts darüber. Denn wer konnte schon behaupten, daß eine ewig dauernde Freude einen Augenblick menschlichen Schmerzes aufwog? Jedenfalls kein Christ, dessen Schmerz der Meister in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden hat. Nein, der Pater würde am Fuße der Mauer bleiben, jener Zerrissenheit getreu, deren Sinnbild das Kreuz ist, Auge in Auge mit dem Leiden eines Kindes. Und er würde denen, die ihn an diesem Tag anhörten, furchtlos sagen: «Meine Brüder, der Augenblick ist gekommen. Es gilt, alles zu glauben oder alles zu leugnen. Und wer unter euch wagte, alles zu leugnen?» Rieux hatte kaum Zeit zu denken, daß die Worte des Paters an Ketzerei grenzten, als dieser schon mit Kraft fortfuhr, um zu erklären, dieser ausdrückliche Befehl, diese reine Forderung sei der Gewinn des Christen. Und auch seine Tugend. Der Pater wußte, daß das Übermäßige der Tugend, von der er jetzt sprechen wollte, viele Geister verletzen werde, die eine nachsichtigere und klassischere Moral gewöhnt waren. Aber die Religion der Pestzeit konnte nicht die Religion aller Tage sein, und wenn Gott zulassen und sogar wünschen konnte, daß die Seele sich in den Zeiten des Glücks ausruhe und erfreue, so wollte er sie übermäßig im Übermaß des Unglücks. Gott erwies seinen Geschöpfen heute die Gnade, sie in ein solches Unglück zu stürzen, daß sie die höchste Tugend wiederfinden und auf sich nehmen mußten, die die Forderung des Alles oder Nichts war. Ein paar Jahrhunderte früher hatte ein profaner Schriftsteller behauptet, das Geheimnis der Kirche zu lüften, indem er versicherte, daß es kein Fegefeuer gebe. Er meinte damit, daß es keine halben Maßnahmen gebe, sondern nur das Paradies und die Hölle, und daß man nur gerettet oder verdammt sein konnte, je nachdem, was man gewählt hatte. Wenn man Paneloux glauben wollte, war das eine Ketzerei, wie sie nur in der Seele eines Freigeistes entstehen konnte. Denn es gab ein Fegefeuer. Aber es gab ohne Zweifel Zeiten, in denen man dies Fegefeuer nicht allzu sehr erhoffen durfte; es gab Zeiten, in denen man nicht von verzeihlichen Sünden sprechen konnte. Jede Sünde war eine Todsünde und jede Gleichgültigkeit verbrecherisch. Es war alles oder es war nichts. Paneloux hielt inne, und Rieux hörte jetzt den Wind, dessen Wucht sich zu verdoppeln schien, deutlicher durch die Ritzen der Türen pfeifen. Der Pater sagte in diesem Augenblick, daß die Tugend der völligen Annahme, von der er sprach, nicht in dem beschränkten Sinne verstanden werden durfte, den man ihr für gewöhnlich gab, daß es sich nicht um die einfache Ergebung handelte und nicht einmal um die schwierige Demut. Es handelte sich um Erniedrigung, aber um eine Erniedrigung, in die der Erniedrigte einwilligte. Gewiß, das Leiden eines Kindes war erniedrigend für den Geist wie für das Herz. Aber deshalb mußte man darin eindringen. Aber - und Paneloux versicherte seinen Zuhörern, daß das, was er zu sagen habe, nicht leicht zu sagen sei - deshalb mußte man es wollen, weil Gott es wollte. Nur so werde der Christ sich nichts ersparen und, nachdem jeder Ausweg versperrt sei, bis auf den Grund der entscheidenden Wahl gehen. Er werde wählen, alles zu glauben, um nicht gezwungen zu sein, alles zu leugnen. Der Christ werde es verstehen, sich Gottes Willen ganz zu überlassen, selbst wenn er unverständlich war, so wie die guten Frauen jetzt in den Kirchen beteten: «Lieber Gott, gib ihm die Beulen», weil sie erfahren hatten, daß sich die bildenden Beulen der natürliche Weg waren, auf dem der Körper das Gift ausstieß. Keiner durfte sagen: «Dieses verstehe ich, aber jenes ist unannehmbar»; man mußte sich mitten in das Unannehmbare hineinstürzen, das uns dargeboten wurde, eben damit wir unsere Wahl träfen. Das Leiden der Kinder war unser bitteres Brot, aber ohne dies Brot würde unsere Seele an ihrem geistigen Hunger zugrunde gehen. Hier begann die gedämpfte Bewegung, die im allgemeinen die Pausen von Pater Paneloux begleitete, deutlich hörbar zu werden, als der Prediger unerwartet und nachdrücklich fortfuhr und gewissermaßen an Stelle seiner Zuhörer die Frage aufwarf, wie man sich nun eigentlich zu verhalten habe. Er ahnte wohl, daß man das beängstigende Wort Fatalismus aussprechen werde. Nun denn, er wich auch vor diesem Ausdruck nicht zurück, wenn man ihm bloß gestattete, das Adjektiv «tätig» hinzuzufügen. Er wiederholte nochmals, daß man das Beispiel der abessinischen Christen gewiß nicht nachahmen dürfe. Man durfte nicht einmal daran denken, es jenen verpesteten Persern gleichzutun, die ihre Lumpen auf die christlichen Sanitätsposten warfen und mit lauter Stimme den Himmel anriefen und beteten, er möge die Pest gegen jene Ketzer senden, die das von Gott geschickte Übel bekämpfen wollten. Aber andererseits sollte man sich auch nicht verhalten wie jene Mönche in Kairo, die während der Epidemien des letzten Jahrhunderts bei der Kommunion die Hostie mit einer Pinzette faßten, um die Berührung der feuchten, warmen Münder zu vermeiden, in denen die Ansteckung schlummern konnte. Die persischen Pestkranken und die Mönche sündigten in gleichem Maße. Denn für die ersten zählte das Leiden eines Kindes nichts, während bei den zweiten im Gegenteil die allzu menschliche Furcht vor dem Schmerz allmächtig geworden war. In beiden Fällen wurde die eigentliche Frage einfach umgangen. Sie alle blieben Gottes Stimme gegenüber taub. Aber es gab andere Beispiele, die Paneloux anführen wollte. Nach den Aussagen des Chronisten der großen Pest von Marseille hatten von den 81 Mönchen des Klosters De la Mercy nur vier das Fieber überlebt. Und von diesen vier flohen drei. So sprachen die Chronisten, und ihre Aufgabe war es nicht, mehr zu berichten. Aber als Pater Paneloux das gelesen hatte, richtete sich sein ganzes Denken auf den einen, der allein geblieben war, trotz 77 Leichen und vor allem trotz des Beispiels seiner drei Brüder. Und der Pater schlug mit der Faust auf die Kanzelbrüstung und rief aus: «Meine Brüder, man muß der sein, der bleibt!» Es ging nicht darum, die Vorsichtsmaßnahmen und die umsichtige, weise Ordnung, die die Gesellschaft in die Unordnung einer Seuche brachte, abzulehnen. Man sollte auch nicht auf jene Moralisten hören, die predigten, man müsse sich auf die Knie werfen und alles im Stich lassen. Man mußte nur beginnen, in der Finsternis vorwärts zu gehen, ein wenig tastend, und versuchen, Gutes zu tun. Im übrigen sollte man bleiben und sich willig ganz Gott anbefehlen, sogar für den Tod der Kinder, ohne eine persönliche Hilfe zu suchen. Hier berichtete Pater Paneloux von der hohen Gestalt des Bischofs Belzunce zur Zeit der Pest von Marseiile. Er erinnerte daran, daß sich der Bischof gegen Ende der Epidemie mit Lebensmitteln in seinem Haus einmauern ließ, nachdem er alles unternommen hatte, was er tun mußte, und glaubte, daß es keine Rettung mehr gebe; daß aber die Einwohner, deren Abgott er war, in einer Umkehrung der Gefühle, wie man sie im Übermaß des Leidens findet, sich gegen ihn erzürnten, sein Haus mit Toten umgaben, um ihn anzustecken, und sogar noch Leichen über die Mauern warfen, um ihn desto sicherer zu verderben. So hatte der Bischof in einer letzten Schwäche geglaubt, er könne sich in der Welt des Todes absondern, und die Toten fielen ihm vom Himmel auf den Kopf. So war es auch mit uns, die wir uns überzeugen mußten, daß es in der Pest keine Insel gibt. Nein, es gab keinen Mittelweg. Man mußte die empörende Schmach zulassen, weil uns nur die Wahl blieb, Gott zu hassen oder zu lieben. Und wer wagte es, sich für den Haß Gottes zu entscheiden? Endlich erklärte Paneloux, er komme nun zum Schluß und sagte: «Meine Brüder, die Liebe zu Gott ist eine schwierige Liebe. Sie setzt völlige Selbstaufgabe und Selbstverleugnung voraus. Aber er allein vermag das Leiden und Sterben der Kinder auszulöschen; er allein jedenfalls kann es notwendig machen, weil es unmöglich zu verstehen ist und wir es nur wollen können. Das ist die schwierigste Lehre, die ich mit euch teilen wollte. Das ist der in den Augen der Menschen grausame, vor Gott jedoch entscheidende Glaube, dem wir uns nähern müssen. Diesem furchtbaren Bild müssen wir uns angleichen. Auf diesem Höhepunkt wird alles verwischt und gleichgemacht, und die Wahrheit wird aus der scheinbaren Ungerechtigkeit hervorbrechen. So ruhen seit Jahrhunderten an der Pest Gestorbene unter den Fliesen im Chor vieler Kirchen Südfrankreichs, und Priester sprechen über ihren Gräbern, und der Geist, den sie verbreiten, bricht aus der Asche hervor, zu der doch Kinder auch ihr Teil beigetragen haben.» Als Rieux hinausging, blies ein heftiger Wind durch die halboffene Tür den Gläubigen gerade ins Gesicht. Er trug einen Geruch nach Regen und nassen Straßen in die Kirche, an dem sie das Aussehen der Stadt erraten konnten, noch ehe sie ins Freie traten. Ein alter Priester und ein junger Diakon, die gerade vor Rieux hinausgingen, hatten Mühe, ihre Kopfbedeckung festzuhalten. Der Ältere ließ sich aber dadurch nicht in seiner Besprechung der Predigt stören. Er zollte Paneloux' Beredsamkeit Anerkennung, aber er hielt sich über die Kühnheit auf, die der Pater in seinen Gedanken gezeigt hatte. Er fand, diese Predigt verrate mehr Beunruhigung als Stärke, und in Paneloux' Alter habe ein Priester nicht das Recht, unruhig zu sein. Der junge Diakon hielt den Kopf gesenkt, um sich gegen den Wind zu schützen, und versicherte, er verkehre viel mit dem Pater; er sei über dessen Entwicklung auf dem laufenden, und seine Abhandlung werde noch viel gewagter sein und das Imprimatur zweifellos nicht erhalten. «Welchen Gedanken verfolgt er denn?» erkundigte sich der alte Priester. Sie waren auf dem Platz angekommen; der Wind umheulte sie und verschlug dem Jüngeren das Wort. Als er sprechen konnte, sagte er nur: «Wenn ein Priester einen Arzt zu Rate zieht, ist das ein Widerspruch.» Als Rieux Tarrou die Worte Paneloux' berichtete, sagte dieser, er kenne einen Priester, der während des Krieges den Glauben verloren habe, als er das Gesicht eines jungen Mannes mit ausgestochenen Augen erblickte. «Paneloux hat recht», sagte Tarrou. «Wenn der Unschuld die Augen ausgestochen werden, muß ein Christ den Glauben verlieren oder darin einwilligen, daß auch ihm die Augen ausgestochen werden. Paneloux will den Glauben nicht verlieren, er wird bis ans Ende gehen. Das ist es, was er sagen wollte.» Ob diese Bemerkung Tarrous etwas Licht in die unglücklichen Ereignisse zu bringen vermag, die nun folgten und in denen Paneloux' Verhalten seiner Umgebung unverständlich erschien? Man möge selber darüber urteilen. Wenige Tage nach der Predigt war Paneloux damit beschäftigt, umzuziehen. Die Entwicklung der Krankheit verursachte damals einen ständigen Wohnungswechsel in der Stadt. Und wie Tarrou sein Hotel hatte verlassen müssen und bei Rieux untergekommen war, mußte auch der Pater seine Wohnung aufgeben, die ihm von seinem Orden zugewiesen worden war, und sich bei einer alten Frau, einer eifrigen, von der Pest noch unversehrten Kirchgängerin, einmieten. Während des Umzugs hatte der Priester gespürt, wie seine Müdigkeit und seine Beklemmung wuchsen. Und so verlor er die Achtung seiner Vermieterin. Denn als sie ihm mit großer Wärme die Vorzüge der Prophezeiungen der heiligen Ottilie lobte, hatte er eine leichte Ungeduld gezeigt, die sicher seiner Erschöpfung zuzuschreiben war. Später konnte er sich anstrengen, wie er wollte, er brachte es nicht fertig, die alte Dame wenigstens zu einer wohlwollenden Neutralität zu bewegen. Er hatte einen schlechten Eindruck gemacht. Und jeden Abend, wenn er sein von gehäkelten Spitzen überschwemmtes Zimmer aufsuchte, mußte er den Rücken der Hausherrin betrachten, die in der guten Stube saß, während der Tonfall des trockenen «Gute Nacht, Pater», das sie ihm, ohne sich umzuwenden, hinwarf, in seinen Ohren nachklang. An einem dieser Abende, als er mit heftigen Kopfschmerzen zu Bett ging, fühlte er an seinen Handgelenken und Schläfen die Wallung des entfesselten Fiebers, das er seit Tagen in sich trug. Was folgte wurde nur nachträglich durch die Aussagen seiner Gastgeberin bekannt. Am Morgen war sie wie gewohnt früh aufgestanden. Verwundert, daß der Pater sein Zimmer nicht verließ, hatte sie sich nach einiger Zeit und nur sehr zögernd dazu entschlossen, an seine Tür zu klopfen. Sie hatte ihn nach einer schlaflosen Nacht noch im Bett gefunden. Er litt an Atemnot, und sein Gesicht schien stärker gerötet als sonst. Nach ihren eigenen Worten hatte sie ihm mit Zuvorkommenheit angeboten, einen Arzt zu holen, aber ihr Vorschlag war mit einer Heftigkeit abgelehnt worden, die sie bedauerlich fand. Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich zurückzuziehen. Etwas später hatte der Pater geläutet und sie zu sprechen gewünscht. Er hatte sich wegen seiner schlechten Laune entschuldigt und ihr erklärt, daß es sich gewiß nicht um die Pest, sondern nur um eine vorübergehende Erschöpfung handeln könne, da er keines der Symptome aufweise. Die alte Dame hatte ihm mit Würde geantwortet, daß ihr Vorschlag keiner derartigen Befürchtung entstamme, daß sie nicht ihre eigene Sicherheit im Auge habe, die in Gottes Hand liege, sondern nur an die Gesundheit des Paters denke, für die sie sich zum Teil verantwortlich fühle. Aber da er nichts hinzufügte, hatte seine Gastgeberin, wie sie sagte, im Wunsch, ihre Pflicht ganz zu erfüllen, ihm nochmals vorgeschlagen, ihren Arzt holen zu lassen. Der Pater hatte von neuem abgelehnt, aber Erklärungen dazu gegeben, die die alte Dame sehr verworren fand. Sie glaubte nur verstanden zu haben, und gerade dies schien ihr unbegreiflich, daß der Pater sich gegen diese Untersuchung wehrte, weil sie mit seinen Grundsätzen nicht im Einklang stehe. Sie hatte daraus geschlossen, daß das Fieber die Gedanken ihres Mieters verwirrte, und sich darauf beschränkt, ihm Tee zu bringen. Weiterhin entschlossen, den Verpflichtungen, die die Lage ihr auferlegte, ganz genau nachzukommen, hatte sie regelmäßig alle zwei Stunden nach dem Kranken geschaut. Am meisten war ihr die ständige Erregung aufgefallen, in der der Pater den Tag verbracht hatte. Er warf die Bettücher zurück und zog sie wieder an sich, strich unablässig mit den Händen über seine feuchte Stirn, richtete sich häufig auf und versuchte, sich einen rauhen und feuchtbelegten Husten abzuringen. Es war dann, als suche er vergeblich aus der Tiefe seiner Kehle Wattebäusche herauszureißen, die ihn erstickten. Wenn die Anfälle vorüber waren, ließ er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung zurückfallen. Schließlich richtete er sich für einen kurzen Augenblick wieder auf und blickte mit einer Starrheit vor sich hin, die noch heftiger war als die ganze vorangegangene Erregung. Aber die alte Dame zögerte noch immer, einen Arzt herbeizurufen und so die Wünsche ihres Kranken zu mißachten. Es konnte ein gewöhnlicher Fieberanfall sein, so außergewöhnlich er auch erscheinen mochte. Im Laufe des Nachmittags versuchte sie indessen, mit dem Priester zu sprechen, und erhielt nur ein unverständliches Gemurmel zur Antwort. Sie erneuerte ihren Vorschlag. Aber da richtete der Pater sich auf und, obwohl er fast erstickte, antwortete deutlich, er wolle keinen Arzt. So entschloß sich die Hausherrin, bis zum nächsten Morgen zu warten und dann, falls der Zustand des Paters nicht besser sei, die Nummer anzurufen, die die Agentur Ransdoc täglich wohl ein dutzendmal im Rundfunk wiederholte. Sie blieb sich weiterhin ihrer Pflichten bewußt und gedachte, ihren Gast während der Nacht zu besuchen und bei ihm zu wachen. Aber am Abend, nachdem sie ihm frischen Tee bereitet hatte, wollte sie sich ein wenig niederlegen und erwachte erst am nächsten Morgen bei Tagesanbruch. Sie eilte in sein Zimmer. Der Pater lag reglos ausgestreckt da. Die brennende Röte vom Vorabend war einer Fahlheit gewichen, die um so auffälliger erschien, als die Formen des Gesichts noch voll waren. Der Pater starrte auf den kleinen Leuchter aus bunten Perlen, der über dem Bett hing. Beim Eintritt der alten Dame wandte er ihr den Kopf zu. Nach den Worten seiner Fürsorgerin sah er aus, als wäre er die ganze Nacht verprügelt worden und sei nun zu kraftlos, um zu reagieren. Sie fragte ihn, wie es ihm gehe. Und mit einer Stimme, deren seltsam gleichgültiger Ton sie beeindruckte, sagte er, es gehe ihm schlecht, er brauche keinen Arzt, und es genüge, ihn ins Spital zu bringen, damit alles in Ordnung sei. Von Schrecken ergriffen, stürzte die alte Dame ans Telefon. Rieux traf um Mittag ein. Auf den Bericht der Gastgeberin antwortete er nur, Paneloux habe recht, und vermutlich sei es zu spät. Der Pater empfing ihn mit der gleichen Teilnahmslosigkeit. Rieux untersuchte ihn und war überrascht, außer der Verschleimung und der Beklemmung der Lungen keines der hauptsächlichen Anzeichen der Beulenoder Lungenpest zu finden. Jedenfalls war der Puls so schwach und der Allgemeinzustand so besorgniserregend, daß wenig Hoffnung blieb. «Sie haben keines der Hauptmerkmale der Krankheit», sagte er zu Paneloux. «Aber es besteht dennoch ein Verdacht, und ich muß Sie absondern.» Der Pater lächelte eigenartig, fast höflich, antwortete jedoch nicht. Rieux ging hinaus, um zu telefonieren, und kehrte zurück. Er betrachtete den Pater. «Ich werde bei Ihnen bleiben», sagte er sanft. Der andere schien sich zu beleben und blickte den Arzt an; es war, als kehre eine Art Wärme in seine Augen zurück. Dann sprach er mühsam und abgehackt, so daß man nicht wissen konnte, ob er traurig war oder nicht: «Danke. Aber die Ordensbrüder haben keine Freunde. Sie haben alles auf Gott gestellt.» Er verlangte das Kruzifix, das sich über dem Kopfende des Bettes befand, und als er es hatte, wandte er sich ab, um es zu betrachten. Im Spital öffnete Paneloux den Mund nicht mehr. Wie ein Gegenstand ließ er alle Behandlungen, die ihm auferlegt wurden, über sich ergehen, aber das Kruzifix gab er nicht mehr aus den Händen. Indessen blieb der Fall des Priesters weiterhin zweideutig. Rieux wurde den Zweifel nicht los. Es war die Pest, und es war sie auch wieder nicht. Seit einiger Zeit schien sie überhaupt ein Vergnügen daran zu finden, die Diagnosen irrezuführen. Aber in Paneloux' Fall sollte die Folge zeigen, daß diese Ungewißheit ohne Bedeutung war. Das Fieber stieg an. Der Husten wurde immer rauher und marterte den Kranken den ganzen Tag. Am Abend spuckte der Pater die ihn erstickende Watte endlich aus. Sie war rot. Inmitten des rasenden Fiebers bewahrte Paneloux seinen teilnahmslosen Blick, und als er am nächsten Morgen halb aus dem Bett geworfen und tot gefunden wurde, drückte sein Blick gar nichts aus. Man schrieb auf seinen Zettel: «Zweifelhafter Fall». Allerheiligen war dieses Jahr nicht wie andere Jahre. Das Wetter allerdings paßte dazu. Es hatte jäh umgeschlagen, und die späte Hitze war unvermittelt der ersten Kälte gewichen. Wie immer, so blies auch dieses Jahr ununterbrochen ein kalter Wind. Dicke Wolken eilten von Horizont zu Horizont und warfen Schatten auf die Häuser, die nach ihrem Vorüberziehen wieder das kalte goldene Licht des Novemberhimmels empfingen. Die ersten Regenmäntel waren aufgetaucht. Auffallend war die überraschend große Zahl glänzender Gummistoffe. Die Zeitungen hatten nämlich berichtet, daß vor zweihundert Jahren die Ärzte während der großen Pestzeit in Südfrankreich Öltuch getragen hatten, um sich zu schützen. Die Geschäfte hatten aus dieser Erzählung Vorteil geschlagen und ihre Lager aus der Mode gekommener Kleidungsstücke, dank denen jedermann Bewahrung vor der Krankheit erhoffte, abgestoßen. Aber all diese Merkmale der Jahreszeit täuschten nicht darüber hinweg, daß die Friedhöfe verlassen lagen. Bisher waren jedes Jahr die Straßenbahnen vom herben Duft der Chrysanthemen erfüllt gewesen; lange Reihen von Frauen begaben sich an den Ort, wo ihre Lieben ruhten, um ihre Gräber zu schmücken. An diesem Tag wurde versucht, die Verstorbenen für die Einsamkeit und das Vergessen zu entschädigen, in das sie während langer Monate gesunken waren. Aber in diesem Jahr wollte niemand an die Toten denken. Man dachte eben schon zuviel an sie. Und es ging nicht mehr darum, ihnen mit ein wenig Reue und viel Schwermut einen Besuch abzustatten. Sie waren nicht mehr die Im-Stich-Gelassenen, zu denen man einmal im Jahr kommt, um sich zu rechtfertigen. Sie waren die Eindringlinge, die man vergessen wollte. Darum wurde dieses Jahr der Totensonntag gewissermaßen unterschlagen. Cottard, dessen Sprache von Tarrou als immer ironischer bezeichnet wurde, fand, es sei ja alle Tage Totensonntag. Und wirklich brannten im Krematorium die Freudenfeuer der Pest immer munterer. Zwar nahm von einem Tag zum andern die Zahl der Toten nicht zu. Aber es war, als habe sich die Pest behaglich auf ihrem Höhepunkt eingenistet und nehme nun ihre täglichen Morde mit der Genauigkeit und Regelmäßigkeit eines guten Beamten vor. Im Grunde und nach der Ansicht der Sachverständigen war das ein gutes Zeichen. Die Pestkurve, mit ihrem ununterbrochenen Anstieg und der darauf folgenden langen Waagrechten, erschien zum Beispiel Dr. Richard durchaus beruhigend. «Es ist eine gute, eine ausgezeichnete Kurve», pflegte er zu sagen. Er war der Meinung, die Krankheit habe einen Absatz erreicht, wie er es nannte. Von nun an könne sie nur noch zurückgehen. Dieses Verdienst schrieb er Castels neuem Impfstoff zu, der tatsächlich einige unvorhergesehene Erfolge gezeitigt hatte. Der alte Castel widersprach nicht, sondern meinte, daß nichts vorauszusagen sei, da die Geschichte der Seuchen unberechenbare Sprünge verzeichne. Die Präfektur, die schon lange die öffentliche Meinung zu beruhigen wünschte und der die Pest keine Möglichkeit dazu bot, hatte im Sinn, die Ärzte zu versammeln und sie um einen diesbezüglichen Bericht zu bitten, als auch Dr. Richard von der Pest dahingerafft wurde, und zwar ausgerechnet auf dem Absatz der Krankheit. Vor diesem zweifellos eindrucksvollen, aber schließlich nichts beweisenden Beispiel kehrte die Verwaltung mit ebenso wenig Folgerichtigkeit zum Pessimismus zurück, wie sie vorher auf Optimismus eingestellt gewesen war. Castel beschränkte sich darauf, sein Serum so sorgfältig wie möglich herzustellen. Auf jeden Fall gab es kein einziges öffentliches Gebäude mehr, das nicht in ein Spital oder ein Lazarett umgewandelt worden wäre, und wenn vor der Präfektur haltgemacht wurde, so deshalb, weil eben ein Ort nötig war, an dem Versammlungen stattfinden konnten. Aber im allgemeinen wurde damals dank der verhältnismäßigen Beständigkeit der Pest die von Rieux vorgesehene Organisation nirgends überrumpelt. Die Ärzte und Hilfskräfte, die sich bis zur Erschöpfung ausgaben, mußten nicht noch größere Anstrengungen ins Auge fassen. Sie mußten nur mit Regelmäßigkeit, wenn man so sagen darf, ihre übermenschliche Arbeit weiter versehen. Die schon aufgetretenen Fälle von Lungenpest vermehrten sich nun an allen Ecken und Enden der Stadt, als hätte der Wind Brandherde in den Lungen angefacht und geschürt. Die Kranken spuckten Blut und wurden viel schneller dahingerafft. Die Ansteckungsgefahr drohte sich bei dieser neuen Krankheitsform zu vergrößern. Allerdings hatten sich die Spezialisten in diesem Punkt stets widersprochen. Dennoch fuhr das Personal vorsichtshalber fort, keimfreie Gazemasken über Nase und Mund zu tragen. Auf den ersten Blick hätte die Krankheit sich jedenfalls ausdehnen sollen. Aber da die Fälle von Beulenpest abnahmen, blieb die Waage im Gleichgewicht. Indessen gaben noch andere Ursachen zur Besorgnis Anlaß, weil die Ernährungslage mit der Zeit immer schwieriger wurde. Die Spekulation hatte sich eingemischt, und lebenswichtige Nahrungsmittel, die auf dem gewöhnlichen Markt fehlten, wurden zu wahnwitzigen Preisen angeboten. Die armen Leute befanden sich deshalb in einer sehr beschwerlichen Lage, während es den Reichen ungefähr an nichts mangelte. Durch das natürliche Spiel der Selbstsucht verschärfte die Pest in den Herzen der Menschen das Gefühl der Ungerechtigkeit, anstatt durch ihre tatsächlich unparteiische Herrschaft die Gleichheit unserer Mitbürger zu verstärken. Selbstverständlich verblieb die untadelige Gleichheit vor dem Tod, aber davon wollte niemand etwas wissen. Die Armen, die Hunger litten, dachten deshalb mit noch mehr Sehnsucht an die umliegenden Städte und Dörfer, wo das Leben frei und das Brot nicht teuer war. Da man sie nicht genügend ernähren konnte, hatten sie das recht unvernünftige Gefühl, man müsse ihnen das Fortgehen gestatten. So daß schließlich ein Losungswort umging, das auf Mauern zu lesen war oder das dem vorbeifahrenden Präfekten zugeschrien wurde: «Brot oder Luft». Diese ironische Formel gab das Zeichen zu gewissen Kundgebungen, die zwar schnell unterdrückt wurden, deren schwerwiegender Charakter jedoch niemandem entging. Die Zeitungen gehorchten natürlich der ihnen erteilten Vorschrift eines Optimismus um jeden Preis. Wer sie las, sah die Lage gekennzeichnet durch das «erhebende Beispiel von Ruhe und Kaltblütigkeit», das die Bevölkerung bot. Aber in einer auf sich selbst angewiesenen Stadt, wo nichts verborgen bleiben konnte, täuschte sich niemand über das «Beispiel», das die Gemeinschaft bot. Und um einen rechten Begriff von der Ruhe und Kaltblütigkeit zu erhalten, genügte es, eine Quarantäne oder ein von den Behörden eingerichtetes Absonderungslager zu besuchen. Es fügt sich, daß der Erzähler sie nicht aus eigener Erfahrung kennt, da er anderswohin gerufen worden war. Deshalb kann er hier nur Tarrous Zeugnis anführen. Tarrou erzählt nämlich in seinem Tagebuch von einem Besuch, den er und Rambert dem auf dem städtischen Sportplatz eingerichteten Lager abstatteten. Das Stadion befindet sich beinahe an den Toren und grenzt auf der einen Seite an die Straße, auf der die Straßenbahnen fahren, auf der anderen an freies Gelände, das sich bis an den Rand der Hochebene erstreckt, auf der die Stadt liegt. Es ist wie üblich von hohen Zementmauern umgeben, und es brauchten nur Wachen an die vier Eingänge gestellt zu werden, um eine Flucht schwierig zu machen. Gleichzeitig hinderten die Mauern auch die Leute, von außen her die unter Quarantäne gestellten Unglücklichen mit ihrer Neugier zu belästigen. Andererseits hörten die Eingesperrten den ganzen Tag die vorüberfahrenden Straßenbahnen, ohne sie zu sehen, und errieten am größeren Lärm den Beginn und das Ende der Arbeitszeit. Daran erkannten sie, daß das Leben, von dem sie ausgeschlossen waren, in ein paar Metern Entfernung weiterging und daß die Zementmauern zwei Welten schieden, die sich so fremd waren, als hätten sie sich auf verschiedenen Planeten befunden. Tarrou und Rambert wählten einen Sonntagnachmittag, um sich auf den Sportplatz zu begeben. Gonzales, der Fußballspieler, begleitete sie; Rambert hatte ihn wieder getroffen, und er hatte schließlich eingewilligt, die Überwachung des Sportplatzes ablösungsweise zu leiten. Rambert sollte ihn dem Lagerverwalter vorstellen. Gonzales hatte den beiden Männern beim Wiedersehen erzählt, um diese Zeit habe er sich vor der Pest immer für das Spiel umgezogen. Jetzt, da die Sportplätze requiriert waren, konnte er das nicht mehr, fühlte sich ganz als Müßiggänger und sah auch danach aus. Das war einer der Gründe, warum er diese Überwachung angenommen hatte, unter der Bedingung, daß er sie nur am Wochenende auszuüben brauche. Der Himmel war halb bedeckt, und Gonzales bemerkte mit schnuppernder Nase wehmütig, dieses nicht regnerische und nicht zu warme Wetter sei am günstigsten für eine gute Partie. Er beschrieb, so gut er konnte, den feuchtwarmen Dunst in den Ankleideräumen, die zum Bersten gefüllten Tribünen, die grellfarbigen Leibchen auf dem braungelben Grund, die Halbzeit mit ihren Zitronenwassern oder der Limonade, die die ausgetrocknete Gurgel mit tausend erfrischenden Nädelchen kitzelt. Tarrou verzeichnet übrigens, daß auf dem ganzen Weg durch die ausgefahrenen Straßen der Vorstadt der Spieler nicht müde wurde, die Steine, die ihm unter die Füße kamen, wegzustoßen. Er versuchte, sie geradewegs in die Kanalabflüsse zu befördern, und wenn es ihm gelang, sagte er: «Eins zu null.» Als er seine Zigarette fertig geraucht hatte, spuckte er den Stummel aus und probierte, ihn im Flug mit dem Fuß aufzufangen. In der Nähe des Sportplatzes warfen spielende Kinder einen Ball in die vorübergehende Gruppe, und Gonzales machte sich den Spaß, ihn zielsicher und genau zurückzuschicken. Schließlich betraten sie das Stadion. Die Tribünen waren voll von Menschen. Aber das Spielfeld war von mehreren hundert roten Zelten bedeckt, in deren Innerem man von ferne Bettzeug und Bündel gewahrte. Die Tribünen waren stehengeblieben, damit die Insassen sich vor der Hitze und dem Regen schützen konnten. Sie mußten bloß bei Sonnenuntergang in ihre Zelte zurückkehren. Unter den Tribünen befanden sich die neu eingerichteten Duschen und die ehemaligen Ankleideräume der Spieler, die in Büros und Krankenzimmer umgewandelt worden waren. Die meisten Insassen des Lagers bevölkerten die Tribünen, andere irrten am Rand des Spielfeldes umher. Einige wenige hockten am Eingang ihres Zeltes und ließen einen abwesenden Blick über alle Dinge gleiten. Auf den Tribünen saßen viele kraftlos da und schienen zu warten. «Was machen sie nur tagsüber?» fragte Tarrou Rambert. «Nichts.» Sie saßen wirklich fast alle mit hängenden Armen und leeren Händen da. Diese riesige Ansammlung von Männern war merkwürdig schweigsam. «In den ersten Tagen verstand man hier sein eigenes Wort nicht», erzählte Rambert, «aber je mehr Tage verstrichen, desto weniger haben sie geredet.» Tarrou verzeichnet in seinem Tagebuch, daß er sie verstehe; und er sah sie am Anfang, wie sie sich in ihren Zelten drängten und damit beschäftigt waren, den Fliegen zuzuhören oder sich zu kratzen, wie sie ihre Wut oder ihre Angst hinausschrien, wenn sie ein teilnehmendes Ohr fanden. Aber vom Augenblick an, da das Lager übervölkert war, hatte man je länger desto weniger teilnehmende Ohren gefunden. Es blieb einem also nichts anderes übrig, als zu schweigen und sich in acht zu nehmen. Eine Art Mißtrauen fiel vom grauen und doch leuchtenden Himmel auf das rote Lager. Ja, sie sahen alle nach Mißtrauen aus. Daß sie von den anderen abgesondert wurden, geschah nicht ohne Grund, und ihre Gesichter zeigten den Ausdruck von Leuten, die ihre Gründe suchen und sich fürchten. Jeder, den Tarrou betrachtete, blickte ins Leere, und alle schienen unter einer ganz allgemeinen Trennung von dem, was ihr Leben ausmachte, zu leiden. Und da sie nicht immer an den Tod denken konnten, dachten sie an nichts. Sie waren in den Ferien. «Aber das Schlimmste ist», schrieb Tarrou, «daß sie vergessen sind und es wissen. Ihre Bekannten haben sie vergessen, weil sie an anderes zu denken haben, was sehr begreiflich ist. Diejenigen, die sie lieben, haben sie auch vergessen, weil sie sich in Gängen und Plänen erschöpfen, um sie frei zu bekommen. Sie denken so ausschließlich an die geplante Befreiung, daß sie nicht mehr an die denken, die sie befreien wollen. Auch das ist natürlich. Und schließlich merkt man, daß niemand fähig ist, wirklich an jemanden zu denken, auch im schlimmsten Unglück nicht. Denn wirklich an jemanden denken, heißt, Minute auf Minute an ihn denken, ohne sich ablenken zu lassen, weder von Haushaltssorgen noch von der vorbeisurrenden Fliege, noch vom Essen, noch vom Jucken. Aber es gibt immer Fliegen und Juckreize. Darum ist das Leben schwer zu leben. Und die hier wissen es wohl.» Der Verwalter kam auf sie zu und sagte, ein Herr Othon möchte sie sprechen. Er führte Gonzales in sein Büro und begleitete sie dann zu einer Tribünenecke. Dort erhob sich Herr Othon, der sich abseits hingesetzt hatte, und begrüßte sie. Er war immer noch gleich gekleidet und trug seinen steifen Kragen. Tarrou bemerkte nur, daß die Haarbüschel über den Schläfen viel krauser waren und daß ein Schuhriemen sich gelöst hatte. Der Richter sah müde aus und schaute seinen Besuchern nicht ein einziges Mal in die Augen. Er sagte, er sei sehr froh, sie zu sehen, und er bitte sie, Dr. Rieux für das, was er getan habe, zu danken. Die anderen schwiegen. Nach einer Weile sagte der Richter: «Ich hoffe, daß Philipp nicht zu sehr gelitten hat.» Es war das erste Mal, daß Tarrou ihn den Namen seines Sohnes aussprechen hörte, und er erkannte, daß sich etwas gewandelt hatte. Die Sonne stand tief am Horizont, und zwischen zwei Wolken hindurch schienen ihrer Strahlen waagrecht auf die Tribünen und vergoldeten die drei Gesichter. «Nein», sagte Tarrou, «nein, er hat wirklich nicht gelitten.» Als sie sich zum Gehen wandten, schaute der Richter immer noch in die Sonne. Sie verabschiedeten sich von Gonzales, der eine Tabelle mit den Wachablösungen studierte. Der Spieler lachte und drückte ihnen die Hand. «Ich habe wenigstens die Ankleideräume wieder», sagte er, «das ist immerhin etwas.» Als der Verwalter kurz darauf Tarrou und Rambert hinausbegleitete, erschallte ein ungeheures Gekrächze auf den Tribünen. Dann verkündeten die näselnden Lautsprecher, die in besseren Zeiten die Spielresultate bekanntgegeben oder die Mannschaften vorgestellt hatten, die Internierten müßten in ihre Zelte zurückkehren, damit das Nachtessen ausgeteilt werden könne. Langsam verließen die Männer die Tribünen und begaben sich schleppend in die Zelte. Als sie alle an ihrem Platz waren, fuhren zwei kleine elektrische Wagen, wie man sie in den Bahnhöfen sieht, mit großen Kochkesseln zwischen den Zelten hindurch. Die Männer streckten den Arm aus, zwei Schöpflöffel senkten sich in zwei Töpfe und landeten in zwei Blechnäpfen. Der Wagen fuhr weiter. Beim folgenden Zelt wiederholte sich der Vorgang. «Ganz wissenschaftlich», sagte Tarrou zu dem Verwalter. «Ja», pflichtete der voll Befriedigung bei und drückte ihnen die Hand, «ganz wissenschaftlich.» Die Dämmerung war hereingebrochen, und der Himmel hatte sich aufgeklart. Das Lager war in ein mildes, kühles Licht getaucht. Im Abendfrieden ertönte auf allen Seiten das Klappern von Löffeln und Tellern. Fledermäuse huschten über die Zelte und verschwanden plötzlich. Auf der anderen Seite der Mauern kreischte eine Straßenbahn auf einer Weiche. «Armer Richter», murmelte Tarrou, als er das Tor durchschritt. «Man sollte etwas für ihn tun. Aber wie ist einem Richter zu helfen?» Es gab über die Stadt verteilt noch mehrere andere Lager, von denen der Erzähler aus Gewissenhaftigkeit und aus Mangel an genauer Kenntnis nichts weiter sagen kann. Was er aber sagen kann ist, daß das Bestehen dieser Lager, der ihnen entströmende Menschengeruch, das Brüllen der Lautsprecher in der Dämmerung, das Geheimnisvolle der Mauern und die Furcht vor dieser Stätte der Geächteten schwer auf dem Gemüt unserer Mitbürger lasteten und zur Verwirrung und dem Unbehagen der Allgemeinheit noch beitrugen. Die Zwischenfälle und Streitigkeiten mit der Verwaltung häuften sich. Gegen Ende November wurden die Morgen jedoch sehr kalt. Sintflutartige Regengüsse wuschen das Pflaster, fegten den Himmel rein und ließen ihn von keinem Wölkchen getrübt über den glänzenden Straßen leuchten. Eine kraftlose Sonne erhellte jeden Morgen die Stadt mit einem glitzernden, eisigen Licht. Doch gegen Abend wurde die Luft wieder lau. Diese Zeit wählte Tarrou, um sich Dr. Rieux gegenüber ein wenig auszusprechen. Eines Abends gegen zehn Uhr, nach einem langen und äußerst anstrengenden Tag, besuchte Rieux, von Tarrou begleitet, wie gewohnt seinen alten Asthmatiker. Über den Häusern der Altstadt leuchtete milde ein zarter Himmel. Ein leichter Wind wehte lautlos über die dunklen Plätze. Die beiden Männer, die aus den stillen Straßen kamen, sahen sich unvermittelt dem Geschwätz des Alten gegenüber. Der berichtete ihnen, daß es Unzufriedene gebe, daß das Brot immer auf der gleichen Seite gebuttert sei, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, und daß es wahrscheinlich, und dabei rieb er sich die Hände, zu Unruhen kommen werde. Der Arzt behandelte ihn, ohne daß er aufhörte, sich über die Ereignisse zu äußern. Über sich hörten sie Schritte. Die alte Frau bemerkte Tarrous aufhorchende Miene und erklärte ihnen, daß sich Nachbarinnen auf dem Dach befänden. Sie erfuhren gleichzeitig, daß man dort oben eine prächtige Aussicht genoß und daß die Frauen dieses Viertels sich besuchen konnten, ohne das Haus zu verlassen, weil die Terrassen auf einer Seite aneinander grenzten. «Ja», sagte der Alte, «gehen Sie doch hinauf. Die Luft ist gut dort oben.» Sie fanden die Terrasse leer, nur drei Stühle standen herum. Auf einer Seite sahen sie, so weit der Blick reichte, nichts als Dachterrassen, die sich schließlich an eine schwarze, steinige Masse anlehnten, in der sie den ersten Hügel erkannten. Auf der anderen Seite verlor sich der Blick über ein paar Straßen und den unsichtbaren Hafen hinweg in einem Horizont, wo Himmel und Meer in einer unmerklichen Bewegung verschwammen. Hinter den Klippen, die sie nur erahnen konnten, erschien in regelmäßigen Abständen ein Licht, dessen Ursprung sie nicht sahen: der Leuchtturm in der Hafeneinfahrt ließ seinen Scheinwerfer seit dem Frühling weiter für Schiffe kreisen, die nach anderen Häfen abdrehten. An dem vom Wind blankgefegten Himmel funkelten reine Sterne, und der ferne Leuchtturm ließ alle paar Sekunden einen silbergrauen Schein darüber huschen. Die Brise trug einen Geruch von Gewürzen und Stein mit sich. Die Stille war vollkommen. «Hier ist es schön», sagte Rieux und setzte sich. «Es ist, als wäre die Pest nie so hoch hinaufgestiegen.» Tarrou kehrte ihm den Rücken zu und betrachtete das Meer. «Ja», sagte er nach einer Weile, «hier ist es schön.» Er setzte sich neben den Arzt und schaute ihn aufmerksam an. Dreimal leuchtete der Scheinwerfer am Himmel auf. Geschirrklappern drang aus der Tiefe der Straße bis zu ihnen. Eine Tür im Haus wurde zugeschlagen. «Rieux», sagte Tarrou in ganz natürlichem Ton, «haben Sie nie versucht, herauszufinden, wer ich bin? Empfinden Sie Freundschaft für mich?» «Ja», sagte der Arzt, «ich fühle Freundschaft für Sie. Aber bisher hat uns die Zeit dazu gefehlt.» «Gut, das beruhigt mich. Wollen Sie, daß dies die Stunde der Freundschaft sei?» Anstatt zu antworten, lächelte Rieux ihm zu. «Nun denn ...» Ein paar Straßen weiter schien ein Auto lange auf dem nassen Pflaster dahinzugleiten. Es entfernte sich; danach ertönten in der Ferne verworrene Rufe, die nochmals das Schweigen brachen. Dann senkte sich die Stille mit ihrem ganzen Gewicht von Himmel und Sternen wieder über die beiden Männer. Tarrou hatte sich erhoben und saß nun auf der Brüstung, Rieux gegenüber, der immer noch zusammengesunken in seinem Stuhl ruhte. Man sah nur Tarrous dunkle, massige Gestalt, die sich gegen den Himmel abhob. Er sprach lange, und dies ist die ungefähre Wiedergabe seiner Worte: «Sagen wir der Einfachheit halber, Rieux, daß ich an der Pest litt, lange bevor ich diese Stadt und diese Epidemie kennenlernte. Das sagt deutlich genug, daß ich wie alle Leute bin. Aber es gibt Leute, die es nicht wissen oder die sich in diesem Zustand wohl befinden, und andere, die es wissen und davon loskommen möchten. Ich habe immer davon loskommen wollen. Als ich jung war, lebte ich im Glauben an meine Unschuld, also mit gar keinem Glauben. Ich bin nicht grüblerisch veranlagt, ich habe angefangen, wie es sich gehörte. Alles gelang mir gut. Ich besaß viel Verständnis für die Welt des Geistes, in der ich mich mit Leichtigkeit bewegte; zudem stand ich mit den Frauen aufs beste, und die wenigen Sorgen, die ich hatte, gingen vorüber, wie sie gekommen waren. Eines Tages fing ich an, nachzudenken. Jetzt . . . Ich muß Ihnen auch sagen, daß ich nicht arm war wie Sie. Mein Vater war Staatsanwalt, also in einer hohen Stellung. Und doch sah er gar nicht so aus, da er von Natur gutmütig war. Meine Mutter war eine einfache, unauffällige Frau. Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben, aber ich möchte nicht gerne von ihr sprechen. Er beschäftigte sich liebevoll mit mir, und ich glaube sogar, daß er mich zu verstehen suchte. Er hatte Abenteuer außer Haus, das weiß ich jetzt bestimmt, und ebenso sicher bin ich weit davon entfernt, mich darüber zu empören. Er verhielt sich bei all dem, wie man es von ihm erwarten mußte: ohne jemand vor den Kopf zu stoßen. Um es kurz zu machen: er war kein besonderer Mensch, und nun er tot ist, sehe ich ein, daß er zwar kein heiliges, aber auch kein schlechtes Leben geführt hat. Er hielt einfach die Mitte, und das ist der Menschenschlag, für den man eine vernünftige Zuneigung empfindet, der einen dazu bringt, weiterzumachen. Er hatte jedoch eine Eigenheit: der große Fahrplan Chaix war seine Lieblingslektüre. Das heißt nicht, daß er Reisen unternahm, außer in den Ferien, wenn er in die Bretagne fuhr, wo er ein kleines Gut besaß. Aber er war imstande, einem die genauen Abfahrts- und Ankunftszeiten des Expreßzuges Paris-Berlin anzugeben, die Zugverbindungen von Lyon nach Warschau, die ganz genaue Kilometerzahl zwischen beliebigen Hauptstädten. Können Sie sagen, wie man von Briangon nach Chamonix gelangt? Selbst ein Bahnhofsvorstand hätte große Mühe. Nicht so mein Vater. Er pflegte fast jeden Abend seine Kenntnisse in dieser Beziehung zu erweitern, und er war recht stolz darauf. Das belustigte mich sehr, und ich befragte ihn oft; mit großer Begeisterung überprüfte ich seine Antworten im Chaix und stellte fest, daß er sich nicht geirrt hatte. Diese kleinen Übungen brachten uns einander näher, weil ich ihm eine Zuhörerschaft stellte, deren guten Willen er zu schätzen wußte. Ich selbst fand, diese Überlegenheit auf dem Gebiet der Eisenbahnen sei ebensoviel wert wie eine andere. Aber ich schweife ab und laufe Gefahr, diesem braven Mann zu große Bedeutung beizulegen. Denn im Grunde hat er nur einen mittelbaren Einfluß auf meinen Entschluß gehabt. Im besten Fall hat er mir einen Anlaß geboten. Als ich siebzehn Jahre alt war, forderte mein Vater mich nämlich auf, ihn einmal anzuhören. Es ging um einen wichtigen Fall vor dem Schwurgericht, und er hatte sicher gedacht, daß er im besten Licht erscheinen werde. Ich glaube auch, daß er auf diese feierliche Verhandlung zählte, die geeignet war, ein junges Gemüt zu beeindrucken, um mich dazu zu bewegen, die Laufbahn einzuschlagen, die er selber gewählt hatte. Ich hatte angenommen, weil das meinem Vater Freude machte und weil ich zudem neugierig war, ihn einmal in einer anderen Rolle zu hören und zu sehen als in der, die er daheim spielte. An mehr dachte ich nicht. Was in einem Gerichtssaal vor sich geht war mir immer so natürlich und unvermeidlich vorgekommen wie ein Umzug am 14. Juli oder eine Preisverteilung. Ich hatte einen sehr verschwommenen Begriff davon, der mich in keiner Weise störte. Und doch habe ich von jenem ganzen Tag nur ein einziges Bild bewahrt: das des Schuldigen. Ich glaube, daß er wirklich schuldig war. Welcher Tat hat wenig Bedeutung. Aber dieser kleine, rothaarige arme Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, schien so entschlossen, alles zuzugeben, so ehrlich entsetzt über das, was er getan hatte und was ihm nun angetan würde, daß ich nach wenigen Minuten nur noch für ihn Augen hatte. Er sah aus wie eine von allzu grellem Licht aufgescheuchte Eule. Der Knoten seiner Krawatte saß nicht in der Mitte. Er kaute die Nägel der einen Hand, der rechten . . . Kurz, ich brauche es nicht weiter auszuführen, Sie haben begriffen, daß er lebte. Aber ich entdeckte das ganz unvermittelt, während ich bis jetzt nur durch die bequeme Bezeichnung Angeklagten an ihn gedacht hatte. Ich kann nicht behaupten, daß ich deshalb meinen Vater vergaß, aber auf meinem Magen begann ein Druck zu lasten, der mich der Fähigkeit beraubte, irgend etwas außer dem Angeklagten zu beachten. Ich hörte kaum zu, ich spürte, daß man diesen lebenden Menschen töten wollte, und ein innerer Trieb trug mich wie eine gewaltige Woge in einer Art sturer Blindheit an seine Seite. Ich erwachte erst richtig, als mein Vater seine Anklagerede hielt. Der rote Talar hatte ihn verwandelt. Er war nicht mehr gutmütig und nicht mehr herzlich. In seinem Mund wimmelte es von ungeheuerlichen Sätzen, die unaufhörlich wie Schlangen hervorkrochen. Und ich begriff, daß er im Namen der Gesellschaft den Tod jenes Mannes verlangte, daß er sogar verlangte, man müsse ihm den Hals abschneiden. Es stimmt, daß er nur sagte: Aber der Unterschied war schließlich gering. Und es kam tatsächlich auf das gleiche heraus, da er diesen Kopf erhielt. Nur war nicht er es, der dann die Arbeit ausführte. Und ich, der ich bis zum Ende nur noch diesen Fall verfolgte, ich erlebte mit dem Unglücklichen eine viel aufwühlendere Gemeinschaft, als mein Vater sie je hatte. Dabei war er verpflichtet, wie es Brauch war, dem beizuwohnen, was man höflich die letzten Augenblicke nennt und was man einfach als ganz gemeinen Mord bezeichnen muß. Von diesem Augenblick an konnte ich den Fahrplan Chaix nur noch mit scheußlichem Ekel betrachten. Von diesem Augenblick an befaßte ich mich schaudernd mit der Gerechtigkeit, mit den Todesurteilen, mit den Hinrichtungen, und mir schwindelte bei der Entdeckung, daß mein Vater mehrmals einem solchen Mord hatte beiwohnen müssen, und zwar immer an den Tagen, da er sehr früh aufstand. Ja, in diesen Fällen stellte er seinen Wecker. Ich wagte nicht, mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Aber nun beobachtete ich sie aufmerksam und verstand, daß es zwischen ihm und ihr nichts Gemeinsames mehr gab und daß sie ein Leben der Entsagung führte. Das half mir, ihr zu verzeihen, wie ich damals sagte. Später erkannte ich, daß es nichts zu verzeihen gab, weil sie bis zu ihrer Heirat in Armut gelebt und die Armut sie die Entsagung gelehrt hatte. Sie erwarten gewiß, daß ich jetzt sage, ich sei augenblicklich fortgegangen. Nein, ich bin noch mehrere Monate geblieben, fast ein Jahr. Aber mein Herz war krank. Eines Abends verlangte mein Vater seinen Wecker, weil er früh aufstehen müsse. Ich fand die ganze Nacht keinen Schlaf. Als er am nächsten Morgen zurückkam, war ich fort. Fügen wir gleich hinzu, daß mein Vater mich suchen ließ, daß ich zu ihm ging und ihm ganz ruhig und ohne irgendwelche Erklärungen sagte, daß ich mich töten würde, wenn er mich zwinge, zurückzukommen. Er gab schließlich sein Einverständnis, denn er war von Natur eher weich. Er hielt mir einen Vortrag darüber, wie dumm es sei, sein eigenes Leben leben zu wollen (so erklärte er sich mein Handeln, und ich ließ ihn in diesem Glauben). Er gab mir tausend gute Ratschläge und unterdrückte echte Tränen. Später, aber ziemlich lange nachher, besuchte ich regelmäßig meine Mutter und begegnete ihm bei diesen Gelegenheiten. Ich glaube, daß diese Beziehungen ihm genügten. Ich hegte meinerseits keinen Groll gegen ihn, sondern hatte nur ein wenig Traurigkeit im Herzen. Als er starb, nahm ich meine Mutter zu mir und hätte sie noch hier, wenn sie nicht ebenfalls gestorben wäre. Ich habe diesen Anfang sehr ausführlich erzählt, weil es tatsächlich der Anfang von allem war. Ich werde jetzt rascher fortfahren. Mit achtzehn Jahren habe ich, der ich aus dem Wohlstand kam, die Armut kennengelernt. Ich habe tausend Berufe ausgeübt, um mein Leben zu verdienen. Es ist mir nicht schlecht gelungen. Aber was mich fesselte war das Todesurteil. Ich wollte eine Rechnung mit der roten Eule begleichen. Deshalb ging ich zur Politik, wie man zu sagen pflegt. Ich wollte kein Pestkranker sein, das ist alles. Ich habe geglaubt, daß die Gesellschaft, in der ich lebte, auf das Todesurteil gegründet sei und daß ich in ihr den Mord bekämpfte. Ich habe es geglaubt, andere haben es mir gesagt, und schließlich traf es auch weitgehend zu. Ich habe mich deshalb zu den anderen gesellt, die ich liebte und die ich noch immer liebe. Ich bin lange bei ihnen geblieben, und es gibt kein Land in Europa, an dessen Kämpfen ich nicht teilgenommen hätte. Schwamm darüber. Natürlich wußte ich, daß auch wir in gewissen Fällen verurteilten. Aber mir wurde gesagt, diese wenigen Toten seien notwendig, um eine Welt herbeizuführen, in der niemand getötet werde. In gewissem Sinne stimmte das, und vielleicht bin ich ganz einfach nicht fähig, mich auf der Höhe derartiger Wahrheiten zu halten. Sicher ist, daß ich zögerte. Aber ich dachte an die Eule, und so konnte es weitergehen. Bis zu dem Tag, da ich eine Hinrichtung sah (es war in Ungarn). Und der gleiche Schwindel, der mich als Kind ergriffen hatte, trübte mir die Augen als Mann. Haben Sie nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird? Nein, natürlich nicht. Das geschieht gewöhnlich auf Einladung hin, und das Publikum wird vorher ausgewählt. Das Ergebnis ist, daß Sie nicht über Bilder und Bücher hinausgelangt sind. Eine Augenbinde, ein Pfosten und im Hintergrund ein paar Soldaten. Eben nicht! Wissen Sie, daß die Hinrichtungsmannschaft sich im Gegenteil eineinhalb Meter vor dem Verurteilten aufstellt? Wissen Sie, daß der Verurteilte nur zwei Schritte nach vorne zu tun brauchte, um mit der Brust an die Gewehrläufe zu stoßen? Wissen Sie, daß die Schützen auf diese kurze Entfernung ihr Feuer alle auf die Herzgegend richten und dort mit ihren großen Kugeln ein Loch reißen, in das man die Faust legen könnte? Nein, das wissen Sie nicht, denn das sind Einzelheiten, von denen niemand spricht. Für die Verpesteten ist der menschliche Schlaf wichtiger als das Leben. Man darf die guten Leute nicht am Schlafen hindern. Das wäre geschmacklos. Und der gute Ton verlangt eben, daß man nicht weiter danach fragt, das ist bekannt. Ich aber habe seit jener Zeit nicht mehr gut geschlafen. Der schlechte Geschmack haftet in meinem Mund, und ich habe nicht aufgehört, weiter danach zu fragen, das heißt daran zu denken. Da habe ich erkannt, daß ich all diese langen Jahre nicht aufgehört hatte, verpestet zu sein, während ich doch mit aller Kraft gerade gegen die Pest zu kämpfen glaubte. Ich habe gelernt, daß ich mittelbar das Todesurteil von Tausenden von Menschen unterschrieben hatte, daß ich diesen Tod sogar verursachte, indem ich Taten und Grundsätze guthieß, die ihn unwiderruflich nach sich zogen. Die anderen schienen sich dadurch nicht stören zu lassen, oder zumindest sprachen sie nie freiwillig davon. Ich hatte eine zugeschnürte Kehle. Ich war mit ihnen und doch allein. Wenn es vorkam, daß ich meine Bedenken äußerte, sagten sie mir, man müsse sich überlegen, was auf dem Spiel stehe; und sie gaben mir oft sehr gewichtige Gründe an, um mich das schlucken zu lassen, was ich doch nicht herunterwürgen konnte. Aber ich antwortete, daß die großen Pestträger, jene, die rote Talare anziehen, in solchen Fällen auch ausgezeichnete Gründe hätten, und wenn ich die Gründe von höherer Gewalt und Notwendigkeit billigen wollte, die die kleinen Pestträger anführten, könnte ich die Gründe der großen nicht widerlegen. Sie wiesen darauf hin, die roten Talare erhielten gerade dadurch recht, daß die Verurteilung ausschließlich ihnen überlassen sei. Aber dann sagte ich mir, daß es keinen Grund gab, wieder aufzuhören, wenn man einmal nachgab. Mir scheint, daß die Geschichte mir recht gegeben hat. Heute geht es darum, wer am meisten töten wird. So sind alle im Wahnsinn des Mordes befangen, und sie können nicht anders. Jedenfalls war das Streiten mit Worten nicht meine Sache. Sondern die rote Eule, dieses schmutzige Erlebnis, wo schmutzige, verpestete Zungen einem Mann in Ketten verkündeten, daß er sterben werde, und alles ordneten, auf daß er wirklich sterbe, nach Nächten und Nächten der Todesangst, während derer er mit offenen Augen darauf wartete, ermordet zu werden. Meine Sache war das Loch in der Brust. Und ich sagte mir, daß ich mich vorläufig, und wenigstens für mein Teil, weigern wolle, dieser ekelhaften Metzgerei jemals eine, hören Sie, auch nur eine einzige Rechtfertigung zu geben. Ja, ich habe diese verbohrte Blindheit gewählt, bis ich klarer sehen würde. Seither habe ich mich nicht geändert. Seit sehr langer Zeit schäme ich mich, schäme mich in den Tod, daß auch ich zum Mörder geworden bin, wenn auch nur aus der Ferne, wenn auch im Willen zum Guten. Mit der Zeit habe ich einfach erkannt, daß selbst diejenigen, die besser sind als andere, es heute nicht mehr vermeiden können, zu töten oder töten zu lassen, weil das in der Logik liegt, in der sie leben, und daß wir in dieser Welt keine Bewegung machen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Tod zu bringen. Ja, ich habe mich weiter geschämt, ich habe gelernt, daß wir alle in der Pest sind, und ich habe den Frieden verloren. Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und keines Menschen Todfeind zu sein. Ich weiß nur, daß man alles Nötige machen muß, um nicht mehr an der Pest zu kranken, und daß nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch möglichst wenig Böses zufügt und manchmal sogar ein bißchen wohltut. Und darum habe ich beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, daß getötet wird. Deshalb kann diese Epidemie mich auch nichts lehren, außer daß ich sie an Ihrer Seite bekämpfen muß. Ich habe die unumstößliche Gewißheit (ja, Rieux, ich weiß alles vom Leben, Sie sehen es wohl), daß jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist. Und daß man sich ohne Unterlaß überwachen muß, um nicht in einem Augenblick der Zerstreutheit dazuzukommen, einem anderen ins Gesicht zu atmen und ihm die Krankheit anzuhängen. Was naturgegeben ist, das sind die Mikroben. Alles übrige, die Gesundheit, die Rechtlichkeit, die Reinheit, wenn Sie wollen, ist eine Folge des Willens, und zwar eines Willens, der nie erlahmen darf. Der ehrliche Mensch, der fast niemand ansteckt, ist jener, der sich am wenigsten ablenken läßt. Und wieviel Willen und Anspannung sind nötig, um nie zerstreut zu sein! Ja, Rieux, es ist sehr anstrengend, pestkrank zu sein. Aber es ist noch anstrengender, es nicht sein zu wollen. Deshalb sind alle Leute so müde, weil heute alle Leute ein wenig pestkrank sind. Aber deshalb erleben einige wenige, die nicht mehr krank sein wollen, eine so übergroße Erschöpfung, von der sie nichts mehr befreien wird als der Tod. Ich weiß, daß ich bis dahin für die Welt selbst nichts mehr wert bin und daß ich mich von dem Augenblick an, da ich mich weigerte zu töten, zu einer endgültigen Verbannung verurteilt habe. Die Geschichte werden die anderen machen. Ich weiß auch, daß ich selbstverständlich diese anderen nicht richten darf. Zum vernünftigen Mörder fehlt mir eine Eigenschaft. Es ist also keine Überlegenheit. Aber jetzt bin ich bereit, das zu sein, was ich wirklich bin, ich habe die Bescheidenheit gelernt. Ich sage nur, daß es auf dieser Erde Geißeln und Opfer gibt und daß man versuchen muß, möglichst nicht auf der Seite der Geißeln zu stehen. Das erscheint Ihnen vielleicht etwas einfältig, und ich weiß nicht, ob es einfältig ist, ich weiß nur, daß es wahr ist. Ich habe so viele Reden gehört, die mir fast den Kopf verdreht hätten und die genügend andere Köpfe verdrehten, bis sie dem Mord zustimmten, daß ich begriffen habe, daß der Menschen ganzes Elend von ihrer unklaren Sprache herrührt. Da habe ich beschlossen, in meinen Worten und Taten klar zu sein, um auf den rechten Weg zu kommen. Folglich sage ich, daß es Geißeln und Opfer gibt, und weiter nichts. Wenn ich durch diese Aussage selber zur Geißel werde, geschieht das wenigstens ohne mein Einverständnis. Ich versuche, ein unschuldiger Mörder zu sein. Sie sehen, daß ich nicht sehr anspruchsvoll bin. Es sollte natürlich eine dritte Gruppe geben, jene der wahren Ärzte. Aber tatsächlich begegnet man nur wenigen, und es muß schwer sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, mich jederzeit auf die Seite der Opfer zu stellen, um den Schaden zu verringern. Inmitten der Opfer kann ich wenigstens suchen, wie man zur dritten Gruppe gelangt, das heißt zum Frieden.» Als Tarrou zu Ende war, baumelte er mit den Beinen und klopfte mit einem Fuß leicht auf die Terrasse. Nach einem Augenblick des Schweigens richtete der Arzt sich ein wenig auf und fragte, ob Tarrou eine Vorstellung von dem Weg habe, den man einschlagen müsse, um zum Frieden zu kommen. «Ja. Das Mitgefühl.» Zwei Krankenwagen bimmelten in der Ferne. Die vorhin undeutlichen Rufe kamen nun hörbar vom Stadtrand, aus der Nähe des steinigen Hügels. Gleichzeitig wurde ein Knall vernommen, der einem Schuß glich. Dann kehrte die Stille zurück. Rieux sah den Leuchtturm zweimal blinken. Die Brise schien stärker zu werden, und zugleich brachte ein Luftzug, der vom Meer kam, einen salzigen Geschmack. Man hörte jetzt ganz deutlich das gedämpfte, stete Rauschen der Brandung in den Klippen. «Eigentlich», sagte Tarrou schlicht, «möchte ich gerne wissen, wie man ein Heiliger wird.» «Aber Sie glauben ja nicht an Gott.» «Eben. Kann man ohne Gott ein Heiliger sein, das ist das einzig wirkliche Problem, das ich heute kenne.» Plötzlich flammte eine große Helligkeit in der Richtung auf, aus der zuvor die Schreie gekommen waren, und ein dumpfes Stimmengewirr drang gegen den Wind bis zu den beiden Männern. Der Schein verdunkelte sich augenblicklich wieder, und in der Ferne, am Ende der Terrassen, blieb nur ein rötlicher Schimmer. In einem Moment der Windstille waren deutlich Schreie von Menschen zu hören, dann das Krachen einer Entladung und das Geheul einer Menge. Tarrou hatte sich erhoben und horchte. Aber alles war wieder still. «Es hat an den Toren wieder einen Zusammenstoß gegeben.» «Jetzt ist es vorbei», sagte Rieux. Tarrou murmelte, es sei nie vorbei und es werde noch mehr Opfer geben, weil das so in der Ordnung der Dinge liege. «Vielleicht», erwiderte der Arzt. «Aber wissen Sie, ich fühle mich mit den Besiegten enger verbunden als mit den Heiligen. Ich glaube, daß ich am Heldentum und an der Heiligkeit keinen Geschmack finde. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.» «Ja, wir suchen das gleiche, nur bin ich weniger anspruchsvoll.» Rieux glaubte, Tarrou scherze, und er schaute ihn an. Aber in dem schwachen Leuchten des Himmels sah er ein trauriges, ernstes Gesicht. Der Wind erhob sich wieder, und Rieux empfand ihn lau auf der Haut. Tarrou schüttelte sich und sagte: «Wissen Sie, was wir für die Freundschaft tun sollten?» «Was Sie wollen», sagte Rieux. «Im Meer baden. Das ist sogar für einen zukünftigen Heiligen ein würdiges Vergnügen.» Rieux lächelte. «Mit unseren Passierscheinen können wir auf die Mole hinausgehen. Es ist schließlich zu dumm, nur gerade der Pest zu leben. Natürlich muß ein Mann sich für die Opfer schlagen. Aber was nützt sein Kämpfen, wenn er dabei aufhört, irgend etwas anderes zu lieben?» «Ja», sagte Rieux, «wir wollen gehen.» Kurz darauf hielt der Wagen vor dem Gitter der Hafeneinfahrt. Der Mond war aufgegangen. Das milchige Licht des Himmels warf überall blasse Schatten. Hinter ihnen türmte sich die Stadt empor. Ihr entströmte eine warme, kranke Luft, die sie gegen das Meer trieb. Sie zeigten einem Wachtposten ihre Papiere, und er prüfte sie eingehend. Sie wurden durchgelassen und gingen über die von Fässern bedeckten Hafendämme, durch Wein- und Fischgeruch auf die Mole zu. Noch ehe sie sie erreichten, verkündete ihnen der Geruch nach Jod und Algen das Meer. Dann hörten sie es. Es plätscherte leise gegen die untersten großen Blöcke der Mole. Und als sie sie bestiegen, erschien es ihnen mollig wie Samt, weich und glatt wie ein Tier. Sie setzten sich auf die Felsen, die auf die hohe See hinausblickten. Die Wogen hoben und senkten sich langsam. Dieses ruhige Atmen des Meeres ließ ölige Schimmer an der Oberfläche des Wassers auftauchen und verschwinden. Vor ihnen lag die Nacht in endloser Weite. Rieux spürte unter seinen Fingern das körnige Gesicht der Felsen und war von einem eigenartigen Glücksgefühl erfüllt. Wenn er Tarrou anblickte, erriet er auf dem ruhigen, ernsten Gesicht seines Freundes das gleiche Glück, das nichts vergaß, auch nicht den Mord. Sie entkleideten sich. Rieux sprang zuerst. Das Wasser, das ihm anfänglich kalt vorkam, schien ihm lau, als er wieder auftauchte. Nach ein paar Zügen wußte er, daß die See an diesem Abend lau war, von jener Lauheit der herbstlichen Meere, die von der Erde die während langer Monate gespeicherte Wärme zurücknehmen. Er schwamm regelmäßig. Seine Füße schlugen das Wasser zu brodelndem Schaum, die Wellen strichen seine Arme entlang und schmiegten sich an seine Beine. Ein schweres Klatschen sagte ihm, daß Tarrou ins Wasser gesprungen war. Rieux drehte sich auf den Rücken und verhielt sich unbeweglich. Er blickte in den Himmel, der von Mond und Sternen erfüllt war. Er atmete tief. Dann vernahm er immer deutlicher das Plätschern des Wassers, das im Schweigen der Einsamkeit der Nacht seltsam hell ertönte. Tarrou näherte sich, bald hörte er ihn atmen. Rieux kehrte sich um, brachte sich auf die Höhe des Freundes und schwamm im gleichen Takt wie er weiter. Tarrou griff kräftiger aus als er, und er mußte seine Geschwindigkeit steigern. Ein paar Minuten lang glitten sie so vorwärts, im gleichen Zug und mit der gleichen Kraft, allein, fern der Welt, endlich frei von der Stadt und der Pest. Rieux hielt zuerst inne, und nun kehrten sie langsamer zurück, außer einmal, als sie in eine eiskalte Strömung gerieten. Da beschleunigten sie wortlos ihre Bewegungen, von dieser Überraschung des Meeres gepeitscht. Sie kleideten sich wieder an und gingen fort, ohne ein Wort zu sprechen. Aber sie hatten das gleiche Herz, und die Erinnerung an diese Nacht war für beide tröstlich. Als sie von ferne die Wache der Pest erblickten, wußte Rieux, daß auch Tarrou sich sagte, daß die Krankheit sie einen Augenblick vergessen hatte, daß es so gut war und daß es jetzt galt, wieder anzufangen. Ja, es mußte wieder angefangen werden, und die Pest vergaß.niemanden zu lange. Während des Monats Dezember loderte sie in den Lungen unserer Mitbürger, unterhielt das Feuer im Einäscherungsofen, verbannte zahllose Schatten mit leeren Händen in die Lager, kurz, sie hörte nicht auf, geduldig und ruckweise vorwärtszuschreiten. Die Behörden hatten damit gerechnet, daß die Kälte diesem Fortschritt Einhalt gebieten werde. Aber die Seuche ließ die ersten Tage der rauhen Jahreszeit über sich ergehen, ohne von der Stelle zu weichen. Man mußte weiter warten. Aber wer zu lange warten muß, wartet nicht mehr, und unsere ganze Stadt lebte ohne Zukunft. Für den Arzt war der flüchtige Augenblick des Friedens und der Freundschaft ein einmaliges Geschenk geblieben. Es war noch ein Spital eröffnet worden, und Rieux führte nur noch mit den Kranken Zwiegespräche. Er bemerkte indessen, daß in diesem Stadium der Seuche, da die Pest mehr und mehr in den Lungen auftrat, die Kranken dem Arzt irgendwie zu helfen schienen. Anstatt sich, wie am Anfang, der stumpfen Niedergeschlagenheit oder der Raserei zu überlassen, schienen sie sich ein richtigeres Bild von ihren Interessen zu machen und verlangten von selber nach dem, was ihnen am zuträglichsten war. Sie wollten unaufhörlich trinken und Wärme haben. Obwohl die Ermüdung für den Arzt gleich blieb, fühlte er sich doch bei diesen Gelegenheiten weniger einsam. Gegen Ende Dezember erhielt Rieux von Herrn Othon, dem Untersuchungsrichter, der sich noch in seinem Lager befand, einen Brief. Er schrieb, seine Quarantänezeit sei um, die Verwaltung finde aber sein Eintrittsdatum nicht und er werde ganz sicher irrtümlich im Internie-rungslager festgehalten. Seine Frau, die vor einiger Zeit aus der Quarantäne gekommen sei, habe bei der Präfektur Einspruch erhoben, sei dort aber schlecht angekommen; man habe ihr erklärt, bei ihnen gebe es keine Irrtümer. Rieux bat Rambert, nach dem Rechten zu sehen, und ein paar Tage darauf erschien Herr Othon bei ihm. Es war tatsächlich ein Irrtum gewesen, und Rieux empörte sich ein wenig darüber. Aber Herr Othon, der mager geworden war, erhob seine weiße Hand und sagte, sorgsam seine Worte wägend, es könne sich jeder einmal irren. Der Arzt dachte nur, der Richter habe sich irgendwie verändert. «Was werden Sie nun tun, Herr Richter? Ihre Akten warten auf Sie», sagte Rieux. «Eben nicht», sagte der Richter. «Ich möchte einen Urlaub nehmen.» «Ganz recht, Sie müssen sich erholen.» «Nein, ich meine nicht das, ich möchte ins Lager zurück.» Rieux verwunderte sich: «Aber Sie kommen ja gerade von dort!» «Ich habe mich falsch ausgedrückt. Mir wurde gesagt, es gebe Freiwillige in der Lagerverwaltung.» Der Richter rollte ein bißchen seine Kugelaugen und versuchte, eines seiner Haarbüschel glattzustreichen. «Sie verstehen, ich hätte eine Beschäftigung. Und dann - es klingt dumm -, ich würde mich weniger von meinem kleinen Jungen getrennt fühlen.» Rieux schaute ihn an. Es war nicht möglich, daß diese harten und abweisenden Augen plötzlich mild schimmerten. Aber sie waren weicher geworden, sie hatten von ihrer metallenen Reinheit verloren. «Gewiß», sagte Rieux, «wenn Sie es wünschen, werde ich dafür sorgen.» Der Arzt sorgte wirklich dafür, und das Leben in der verpesteten Stadt nahm seinen Fortgang bis Weihnachten. Tarrou trug weiterhin seine zielbewußte Ruhe mit sich herum. Rambert gestand dem Arzt, daß er dank der beiden kleinen Wachen einen geheimen Briefwechsel mit seiner Frau habe zustande bringen können. Hie und da bekam er einen Brief. Er bot Rieux an, ihm seine Verbindung zur Verfügung zu stellen, und dieser nahm an. Zum erstenmal seit langen Monaten schrieb er wieder, aber mit der größten Mühe. Es gab eine Sprache, die er verlernt hatte. Der Brief ging ab. Die Antwort ließ lange auf sich warten. Cottard ging es gut, und seine kleinen Spekulationen machten ihn reich. Grand hingegen sollte die Festzeit nicht gut bekommen. Weihnachten war dieses Jahr eher das Fest der Hölle als das des Evangeliums. Leere, lichtlose Geschäfte, Schokoladeattrappen oder hohle Konservenbüchsen in den Schaufenstern, von düsteren Gesichtern gefüllte Straßenbahnen; nichts erinnerte an frühere Weihnachten. Das Fest, an dem sich früher alle, arm und reich, freuten, ließ nur noch Raum für die wenigen einsamen Festgelage, die sich ein paar Bevorzugte schuldbewußt in einem schmutzigen Hinterstübchen mit Goldes wert erkauften. Die Kirchen waren eher von Klagen als von Dankgebeten erfüllt. In der trüben, verfrorenen Stadt liefen ein paar Kinder umher, die noch nichts von dem wußten, was sie bedrohte. Aber niemand wagte es, ihnen den mit Gaben beladenen Gott von ehemals zu verkünden, der alt ist wie die Mühsal der Menschen und jung wie die neue Hoffnung. In allen Herzen war nur noch Raum für eine sehr alte und sehr trübe Hoffnung, nur jene, die den Menschen hindert, sich dem Tod zu überlassen, und die nichts anderes ist als ein verbissener Lebenswille. Am Abend vorher war Grand nicht zur Verabredung gekommen. Beunruhigt ging Rieux am frühen Morgen zu ihm und traf ihn nicht an. Er benachrichtigte alle anderen. Gegen elf Uhr kam Rambert ins Spital, um dem Arzt zu melden, er habe Grand von weitem mit zerfallenem Gesicht in den Straßen umherirren sehen. Dann habe er ihn aus den Augen verloren. Der Doktor und Tarrou machten sich im Wagen auf die Suche. Gegen Mittag - es war bitterkalt - sah Rieux, der ausgestiegen war, Grand von weitem ganz dicht an einem Schaufenster stehen, in dem grobgeschnitzte Spielsachen ausgestellt waren. Über das Gesicht des alten Beamten rannen unablässig Tränen. Und diese Tränen erschütterten Rieux, denn er verstand sie und fühlte sie auch in seinem Hals würgen. Auch er sah im Geist, wie der arme Kerl sich einst vor einer Weihnachtsauslage verlobt und wie Jeanne sich an ihn gelehnt hatte, um ihm zu sagen, sie sei glücklich. Aus fernen Jahren, aus der Tiefe dieser Torheit heraus erklang sicher Jeannes frische Stimme in Grands Ohren. Rieux wußte, was der alte, weinende Mann in dieser Minute dachte, und er dachte wie er, daß diese Welt ohne Liebe eine tote Welt war und daß immer eine Stunde kommt, da man der Gefängnisse, der Arbeit und des Mutes müde ist und nach dem Antlitz eines Menschen und dem von Zärtlichkeit verzauberten Herzen verlangt. Aber der andere erblickte ihn im Schaufenster. Ohne mit Weinen aufzuhören, drehte er sich um und lehnte sich an die Scheibe, um ihm entgegenzusehen. «Ach, Herr Doktor, ach, Herr Doktor», schluchte er verzweifelt. Rieux nickte ihm verstehend zu, sprechen konnte er nicht. Diese Verzweiflung war auch die seine, und was ihm in diesem Augenblick das Herz abdrückte, war ein ungeheurer Zorn, wie er den Menschen angesichts des Leides, das alle Menschen gemeinsam tragen, übermannt. «Ja, Grand», sagte er. «Ich möchte Zeit haben, um ihr einen Brief zu schreiben, damit sie weiß . . . und damit sie ohne Reue glücklich sein kann ...» Rieux stieß Grand beinahe heftig vorwärts. Der ließ sich fast ziehen und stammelte weiterhin abgerissene Sätze vor sich hin. «Es dauert schon so lange. Da hat man natürlich Lust, sich gehen zu lassen. Ach, Herr Doktor! Ich sehe für gewöhnlich so ruhig aus. Aber ich habe mich immer riesig anstrengen müssen, um nur normal zu sein. Und jetzt ist es eben zuviel.» Er zitterte an allen Gliedern und hatte irre Augen. Er hielt inne. Rieux faßte seine Hand. Sie glühte. «Wir müssen nach Hause.» Aber Grand entwischte ihm, lief ein paar Schritte, blieb dann stehen, breitete die Arme aus und begann vorwärts und rückwärts zu schwanken. Er drehte sich um sich selber und fiel auf das vereiste Trottoir. Sein Gesicht war verschmiert von den Tränen, die immer noch flössen. Die Leute auf der Straße schauten von weitem zu, hielten jäh inne und getrauten sich nicht mehr weiterzugehen. Rieux mußte den alten Mann auf die Arme nehmen. Nun lag Grand im Bett und erstickte: die Lungen waren angegriffen. Rieux überlegte. Der Angestellte hatte keine Verwandten. Wozu ihn also ins Spital bringen? Er und Tarrou würden ihn allein pflegen. Grand lag tief in den Kissen, seine Haut war grünlich und sein Blick erloschen. Er starrte auf ein mageres Feuer, das Tarrou mit Kistenresten im Kamin anzündete. «Es geht schlecht», sagte er hie und da. Und aus der Tiefe seiner vom Feuer verzehrten Lungen drang ein merkwürdiges Röcheln, das jedes seiner Worte begleitete. Rieux empfahl ihm zu schweigen und sagte, er werde wiederkommen. Ein seltsames Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Kranken, und auch eine Art Zärtlichkeit. Er blinzelte mühsam. «Wenn ich davonkomme, Herr Doktor, Hut ab!» Aber gleich darauf verfiel er in völlige Teilnahmslosigkeit. Ein paar Stunden später fanden Rieux und Tarrou den Kranken halb aufgerichtet in seinem Bett, und Rieux las mit Schrecken auf seinem Gesicht die Fortschritte des Übels, das ihn verbrannte. Aber sein Geist schien klarer, und er bat sogleich mit eigentümlich hohler Stimme, ihm das Manuskript zu bringen, das in einer Schublade lag. Tarrou reichte ihm die Blätter; er drückte sie an sich, ohne sie anzusehen, dann streckte er sie dem Arzt hin und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sie zu lesen. Es war ein kurzes Manuskript von etwa fünfzig Seiten. Der Arzt blätterte darin und merkte, daß auf allen diesen Blättern nur der eine, unzählige Male abgeschriebene, veränderte, bereicherte oder vereinfachte Satz stand. Unaufhörlich traten sich der Monat Mai, die Amazone und die Alleen des Bois gegenüber und ordneten sich auf verschiedene Weise. Das Werk enthielt auch manchmal überlange Erklärungen und Varianten. Aber unten auf die letzte Seite hatte eine Hand mit noch frischer Tinte nur sorgfältig geschrieben: «Meine liebste Jeanne, heute ist Weihnacht...» Darüber stand in bester Schönschrift die letzte Fassung des Satzes. «Lesen Sie!» sagte Grand. Und Rieux las: «An einem schönen Maimorgen durchritt eine schlanke Amazone auf einer prächtigen Fuchsstute inmitten der Blumen die Alleendes Bois.» «Hab ich's diesmal ?» fragte der Alte mit fiebriger Stimme. Rieux schaute ihn nicht an. «Ach!» sagte der andere und bewegte sich unruhig. «Schön, ich weiß schon, schön ist nicht das rechte Wort.» Rieux ergriff seine Hand, die auf der Decke lag. «Lassen Sie, Herr Doktor, ich werde nicht Zeit haben ...» Seine Brust hob sich mühsam und plötzlich schrie er: «Verbrennen Sie es!» Der Arzt zögerte. Aber Grand wiederholte seinen Befehl mit einem so schrecklichen Ausdruck und so großem Schmerz in der Stimme, daß Rieux die Blätter ins fast erloschene Feuer warf. Das Zimmer wurde auf einmal hell und für einen kurzen Augenblick erwärmt. Als der Arzt wieder ans Bett trat, hatte der Kranke sich umgedreht, und sein Gesicht berührte beinahe die Wand. Tarrou schaute aus dem Fenster, als ginge ihn alles nichts an. Nachdem Rieux das Serum eingespritzt hatte, sagte er zu seinem Freund, Grand werde die Nacht nicht überleben, und Tarrou bot an, er wolle bei ihm bleiben. Der Arzt willigte ein. Die ganze Nacht verfolgte ihn der Gedanke, daß Grand sterben werde. Aber am nächsten Morgen fand Rieux Grand aufrecht im Bett sitzend. Er unterhielt sich mit Tarrou. Das Fieber war verschwunden. Es blieben nur die Zeichen einer allgemeinen Erschöpfung. «Ach, Herr Doktor», sagte der Angestellte, «ich habe unrecht gehabt. Aber ich werde neu anfangen. Ich weiß noch alles. Sie werden sehen.» «Warten wir ab», sagte Rieux zu Tarrou. Aber am Mittag hatte sich nichts verändert. Am Abend konnte Grand als gerettet betrachtet werden. Rieux begriff die Auferstehung nicht. Ungefähr zur selben Zeit wurde eine Kranke zu Rieux gebracht, deren Zustand er als zweifelhaft ansah und die er gleich bei ihrem Eintritt ins Spital absondern ließ. Das junge Mädchen lag im tiefsten Delirium und hatte alle Anzeichen der Lungenpest. Aber am nächsten Morgen war das Fieber gefallen. Der Arzt glaubte, wie bei Grand, es handle sich um die morgendliche Besserung, die er aus Erfahrung als schlechtes Zeichen betrachtete. Am Mittag nahm das Fieber nur um ein paar Striche zu, und am nächsten Morgen war es ganz verschwunden. Das junge Mädchen lag zwar schwach in seinem Bett, atmete aber frei. Rieux sagte zu Tarrou, es sei gegen alle Regel gerettet. Doch kamen in dieser Woche vier gleiche Fälle in Rieux' Abteilung vor. Am Ende derselben Woche empfing der alte Asthmatiker den Arzt und Tarrou mit allen Zeichen einer großen Aufregung. «Da haben wir's», sagte er, «jetzt kommen sie wieder hervor.» «Wer?» «Nun, die Ratten!» Seit dem Monat April war keine tote Ratte mehr gefunden worden. «Fängt's wieder von vorne an?» sagte Tarrou zu Rieux. Der Alte rieb sich die Hände. «Man muß ihnen zuschauen, wie sie laufen! Eine Freude!» Er hatte zwei lebende Ratten zur Haustür hereinspazieren sehen. Nachbarn hatten ihm berichtet, daß die Tiere auch bei ihnen wieder erschienen waren. In gewissen Balken war wieder das seit Monaten vergessene Rascheln zu hören. Rieux wartete die Veröffentlichungen der allgemeinen Statistik ab, die zu Beginn jeder Woche erschien. Sie offenbarte einen Rückgang der Krankheit. Obwohl dieser plötzliche Rückgang der Krankheit unverhofft kam, überließen sich unsere Mitbürger keiner übereilten Freude. Die vergangenen Monate hatten zwar ihre Sehnsucht nach Freiheit gesteigert, sie aber gleichzeitig die Vorsicht gelehrt und sie daran gewöhnt, immer weniger mit einem baldigen Ende der Seuche zu rechnen. Indessen war dies neue Ergebnis in aller Mund, und im innersten Herzen regte sich eine große, uneingestandene Hoffnung. Alles übrige wurde nebensächlich. Die neuen Opfer der Pest wogen recht leicht, verglichen mit dieser unerhörten Tatsache: die Statistik war gefallen. Daß unsere Mitbürger von nun an, wenn auch mit scheinbarer Gleichgültigkeit, davon sprachen, wie das Leben nach der Pest wieder ins Gleis kommen werde, war eines der Anzeichen dafür, daß sie insgeheim die Zeit der Gesundheit erwarteten, ohne sie frei zu erhoffen. Alle waren sich darin einig, daß die Annehmlichkeiten des früheren Lebens kaum mit einem Schlag zurückkehren würden und daß es leichter sei zu zerstören, als wieder aufzubauen. Jeder dachte nur, daß die Ernährungslage etwas verbessert werden könnte und man auf diese Weise von der dringendsten Sorge befreit würde. Aber in Wirklichkeit entstand hinter diesen harmlosen Bemerkungen urplötzlich eine zügellose, wahnwitzige Hoffnung, die so übermächtig war, daß unsere Mitbürger sich ihrer manchmal bewußt wurden und dann eilig versicherten, die Befreiung sei natürlich nicht von heute auf morgen zu erwarten. Und tatsächlich hielt die Pest auch nicht von heute auf morgen inne, aber sie schien schneller zu erlahmen, als vernünftigerweise zu erhoffen war. In den ersten Januartagen brach eine ungewöhnlich lang dauernde Kältewelle herein und schien über der Stadt zum Kristall zu werden. Und dennoch war der Himmel nie so blau gewesen: Ganze Tage lang verströmte er in unwandelbarer, eisiger Pracht ein ungetrübtes Licht über unsere Stadt. In dieser gereinigten Luft schien die Pest sich zu erschöpfen: im Verlauf von drei Wochen fiel sie Stufe um Stufe zurück, und die Zahl der Leichen, die sie aneinanderreihte, wurde immer kleiner. Innerhalb kurzer Zeit verlor sie beinahe die gesamten Kräfte, die zu sammeln sie Monate gebraucht hatte. Wenn man sah, wie sie eine so leichte Beute wie Grand oder Rieux' junges Mädchen fahren ließ; sich in gewissen Vierteln zwei, drei Tage lang austobte und aus anderen ganz verschwand, wie sie am Montag zahlreiche Opfer forderte und am Mittwoch fast alle entkommen ließ, wenn man sah, wie ihr einmal der Atem ausging, während sie sich ein anderes Mal wieder überstürzte, hätte man sagen können, daß sie vor Kraftlosigkeit und Erschöpfung zerfiel, daß sie mit der Herrschaft über sich selbst auch die mathematische und unumschränkte Wirksamkeit einbüßte, die ihre Stärke ausgemacht hatte. Castels Serum erzielte plötzlich eine ganze Reihe von Erfolgen, die ihm bisher versagt geblieben waren. Jede der ärztlichen Maßnahmen, die früher überhaupt kein Ergebnis zeitigten, schien jetzt unfehlbar zu wirken. Es sah aus, als sei die Pest nun ihrerseits gehetzt und als verstärke ihre plötzliche Schwäche die Kraft der stumpfen Waffen, die bisher gegen sie angewendet wurden. Die Krankheit versteifte sich nur noch zeitweilig und raffte dann in einer Art blinder Auflehnung drei oder vier Kranke hinweg, deren Heilung man erhoffte. Das waren die Pechvögel der Pest, jene, die sie in der Blüte der Hoffnung tötete. Zu ihnen gehörte Othon, der aus dem Quarantänelager fortgetragen werden mußte. Und von ihm sagte Tarrou auch, daß er kein Glück gehabt habe. Indessen war nicht klar, ob er dabei den Tod oder das Leben des Richters meinte. Aber im allgemeinen wich die Seuche auf der ganzen Linie zurück, und die amtlichen Mitteilungen, die anfänglich eine geheime, schüchterne Hoffnung entstehen ließen, bestärkten die Bevölkerung schließlich in ihrer Überzeugung, daß der Sieg errungen sei und die Krankheit ihre Stellungen aufgebe. In Wirklichkeit war es schwer, zu behaupten, daß es sich um einen Sieg handelte. Es war nur festzustellen, daß die Krankheit zu gehen schien, wie sie gekommen war. Die Art der Kriegsführung gegen sie hatte sich nicht geändert. Gestern noch unwirksam, war sie heute offenbar erfolgreich. Nur hatte man den Eindruck, daß die Krankheit sich von selbst erschöpft habe, oder vielleicht, daß sie sich zurückzog, nachdem sie alle ihre Ziele erreicht hatte. Ihre Rolle war irgendwie zu Ende. Dennoch hätte man sagen können, daß in der Stadt alles unverändert geblieben sei. Die Straßen waren tagsüber noch immer stumm und am Abend von der gleichen Menschenmenge erfüllt, nur daß sie jetzt vorwiegend Mäntel und Halstücher trug. Kinos und Cafés machten noch immer ganz gute Geschäfte. Aber wer näher zusah, konnte bemerken, daß die Gesichter weniger verkrampft waren und manchmal lächelten. Und bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, daß bisher auf der Straße kein Mensch gelächelt hatte. In dem undurchdringlichen Schleier, der die Stadt seit Monaten umhüllte, war wirklich ein Riß entstanden, und jeden Montag konnte jedermann an den Rundfunknachrichten feststellen, daß der Riß sich vergrößerte und daß man endlich werde aufatmen dürfen. Auch dies war eine negative Erleichterung, die sich nicht frei äußerte. Aber während man bisher nur ungläubig die Nachricht gehört hätte, daß ein Zug abgefahren oder ein Schiff angekommen sei oder daß der Automobilverkehr wieder gestattet werde, wäre die Meldung dieser Ereignisse um Mitte Januar ohne Überraschung aufgenommen worden. Gewiß war das wenig. Aber diese unmerkliche Veränderung verdeutlichte tatsächlich die ungeheuren Fortschritte, die unsere Mitbürger auf dem Wege der Hoffnung gemacht hatten. Es kann übrigens gesagt werden, daß die eigentliche Herrschaft der Pest in dem Augenblick zu Ende war, da für die Bevölkerung ein Fünklein Hoffnung wieder möglich wurde. Das ändert nichts daran, daß die Reaktionen unserer Mitbürger während des ganzen Monats Januar widerspruchsvoll waren. Genau gesagt waren sie abwechselnd erregt und niedergeschlagen. So waren gerade dann neue Ausbruchsversuche zu verzeichnen, als die Statistik am günstigsten lautete. Das überraschte die Behörden sehr, und da die meisten dieser Fluchtversuche gelangen, offenbar auch die Wachtposten selber. Aber die Leute, die in diesen Augenblicken entwichen, gehorchten in Wirklichkeit natürlichen Gefühlen. Bei den einen war durch die Pest eine tiefwurzelnde Skepsis entstanden, die sie nicht mehr loswerden konnten. Die Hoffnung hatte keine Macht mehr über sie. Und während die Pestzeit bereits vorüber war, fuhren sie fort, nach ihren Regeln zu leben. Sie hinkten hinter den Ereignissen drein. Bei den anderen dagegen, vor allem bei jenen, die bisher von den geliebten Menschen getrennt gelebt hatten, entzündete der beginnende Hoffnungshauch nach dieser langen Zeit der Abgeschlossenheit und der Entmutigung ein Fieber und eine Ungeduld, die ihnen jede Selbstbeherrschung raubten. Sie wurden von einer Art panischer Angst ergriffen beim Gedanken, daß sie, so nahe am Ziel, vielleicht noch sterben mußten, daß sie das geliebte Wesen nicht mehr wiedersehen könnten und daß die langen Leiden ihnen nicht gelohnt würden. Nachdem sie monatelang mit blinder Zähigkeit, trotz Gefangenschaft und Verbannung, in der Erwartung verharrt waren, genügte der erste Hoffnungsschimmer, um alles zu zerstören, was Angst und Verzweiflung nicht hatten antasten können. Wie Wahnsinnige stürzten sie vorwärts, um der Pest zuvorzukommen, und waren nicht fähig, bis zum Schluß mit ihr Schritt zu halten. Zur gleichen Zeit gab es übrigens unmittelbare Äußerungen der Zuversicht. So sanken die Preise spürbar. Vom Standpunkt der reinen Wirtschaft aus war diese Bewegung nicht zu erklären. Die Schwierigkeiten blieben unverändert, die Formalitäten der Quarantäne an den Toren waren beibehalten worden, und die Ernährungslage war weit von einer Besserung entfernt. Man erlebte also eine rein moralische Erscheinung, als habe das Abflauen der Pest überall seine Rückwirkungen. Gleichzeitig wurden auch diejenigen zuversichtlich gestimmt, die ehedem in Gruppen lebten und durch die Krankheit zur Trennung gezwungen worden waren. Die beiden Klöster der Stadt begannen sich wieder zu sammeln, und das Gemeinschaftsleben konnte wieder aufgenommen werden. Das gleiche galt für die Soldaten, die man in den freigebliebenen Kasernen zusammenfaßte: sie nahmen ihr gewöhnliches Garnisonsleben wieder auf. Diese kleinen Begebenheiten waren große Zeichen. Bis zum 25. Januar lebte die Bevölkerung in dieser geheimen Erregung. In jener Woche fiel die Statistik auf einen so tiefen Stand, daß die Präfektur nach einer Besprechung mit den Ärzten bekanntgab, die Epidemie könne als eingedämmt betrachtet werden. Die Mitteilung fügte allerdings hinzu, daß im Bestreben, eine Vorsicht walten zu lassen, die die Bevölkerung gewiß billigen werde, die Tore der Stadt noch zwei Wochen lang geschlossen bleiben und die Vorbeugungsmaßnahmen noch einen Monat beibehalten werden sollten. Während dieser Zeit müßte beim geringsten Anzeichen eines Wiederauflebens der Gefahr der Status quo aufrechterhalten und die Maßnahmen auf eine längere Zeit ausgedehnt werden. Alle waren sich jedoch in der Auffassung einig, daß diese Zusätze nur als Formsache anzusehen seien, und am Abend des 25. Januar erfüllte ein freudig bewegtes Leben die Stadt. Um ihren Teil zur allgemeinen Fröhlichkeit beizusteuern, befahl der Präfekt, die Beleuchtung der Friedenszeit wieder einzuschalten. Unter dem kalten, klaren Himmel bummelten unsere Mitbürger in lärmenden, lachenden Gruppen durch die hell erleuchteten Straßen. Gewiß, in zahlreichen Häusern blieben die Laden geschlossen, und die Familien verbrachten diese Nacht, die andere mit Jauchzen erfüllten, mit Schweigen. Und doch war die Erleichterung auch für viele dieser Trauernden sehr groß; sei es, daß sie endlich nicht mehr befürchten mußten, andere Angehörige würden ihnen entrissen; sei es, daß die Sorge um ihre eigene Erhaltung sie nicht mehr drückte. Aber am meisten blieben ohne Zweifel jene Familien der allgemeinen Freude fremd, die in diesem Augenblick einen mit der Pest ringenden Kranken in einem Spital hatten und die in den Quarantänelagern oder zu Hause darauf warteten, daß die Heimsuchung endlich auch mit ihnen zu einem Ende komme, so wie sie mit den anderen fertig war. Auch diese Familien schöpften natürlich Hoffnung, aber sie hielten damit zurück wie mit einem Vorrat, den sie nicht angreifen wollten, ehe sie wirklich das Recht dazu hatten. Und diese Erwartung, dieses schweigende Wachen, in der Mitte zwischen Todeskampf und Lebensfreude, erschien ihnen im allgemeinen Jubel noch grausamer. Aber diese Ausnahmen verringerten in keiner Weise die Befriedigung der anderen. Ohne Zweifel war die Pest noch nicht zu Ende - und sie sollte das noch beweisen. Und doch fuhren in allen Gedanken schon Wochen im voraus wieder pfeifende Züge auf endlosen Schienensträngen, durchfurchten Schiffe leuchtende Meere. Am nächsten Tag würden die Geister ruhiger sein und die Zweifel wieder aufsteigen. Aber für den Augenblick war die ganze Stadt erwacht, verließ die abgeschlossenen, finsteren und unbeweglichen Orte, wo sie ihre steinernen Wurzeln geschlagen hatte, und setzte sich mit ihrer Fracht Überlebender endlich in Bewegung. An jenem Abend schritten Tarrou und Rieux, Rambert und die anderen inmitten der Menge dahin und fühlten wie sie den Boden unter ihren Füßen schwanken. Lange nachdem Tarrou und Rieux die Boulevards verlassen hatten, hörten sie noch die Freude, die ihnen folgte, während sie bereits in menschenleeren Gassen den Reihen geschlossener Fensterladen entlang gingen. Und gerade wegen ihrer Müdigkeit konnten sie das Leiden, das hinter den Laden andauerte, nicht von der Freude trennen, die unweit von ihnen die Straßen erfüllte. Die sich nähernde Befreiung hatte ein gleichzeitig lachendes und weinendes Gesicht. In einem Augenblick, da der Lärm lauter und fröhlicher wurde, blieb Tarrou stehen. Über das dunkle Pflaster huschte ein Schatten. Es war eine Katze, die erste, die seit dem Frühjahr wieder gesehen wurde. Sie blieb einen Moment unbeweglich auf der Straßenmitte, zögerte, leckte ihr Pfötchen, strich rasch damit über ihr rechtes Ohr, setzte ihren unhörbaren Lauf fort und verschwand in der Nacht. Tarrou lächelte. Auch der kleine Alte würde sich freuen. Aber im Augenblick, da die Pest sich zu entfernen schien, um in den unbekannten Schlupfwinkel zurückzukehren, aus dem sie schweigend hervorgegangen war, gab es zumindest einen Menschen in der Stadt, den dieser Abzug in Bestürzung versetzte, und das war Cottard. So berichtet Tarrou. Allerdings werden seine Aufzeichnungen von dem Augenblick an, da die Statistik zu sinken beginnt, ziemlich seltsam. Vielleicht ist es die Ermüdung, jedenfalls wird die Schrift schwer lesbar, und er springt zu schnell von einem Thema zum andern. Dazu fehlt es diesem Tagebuch zum erstenmal an Sachlichkeit; an ihre Stelle treten persönliche Betrachtungen. So findet sich zum Beispiel mitten unter ziemlich langen Abschnitten über den Fall Cottard ein kleiner Bericht über den Alten mit den Katzen. Tarrou versichert, seine Achtung für diese Persönlichkeit, die ihn auch nach der Seuche unverändert fesselte, sei durch die Pest um nichts verringert worden. Allerdings könnte sie ihn jetzt leider nicht mehr fesseln, aber daran sei nicht sein eigenes Wohlwollen schuld. Denn er hatte versucht, den Alten wiederzusehen. Ein paar Tage nach diesem Abend des 25. Januar hatte er sich an der Ecke des Sträßchens aufgestellt. Die Katzen waren, dem Stelldichein getreu, erschienen und wärmten sich in den Sonnenflecken. Aber die Laden blieben zur gewohnten Stunde hartnäckig geschlossen. Tarrou sah sie auch an den folgenden Tagen nie mehr offen. In seiner Neugier schloß er daraus, daß der kleine Alte entweder verärgert oder tot sei; wenn er verärgert sei, so deshalb, weil er sich im Recht vermeinte und die Pest ihm Unrecht getan habe; wenn er aber tot sei, müsse man sich in seinem Fall wie in dem des alten Asthmatikers fragen, ob er ein Heiliger gewesen sei. Tarrou glaubte es nicht, aber er war der Ansicht, das Beispiel dieses Greises enthalte einen «Hinweis». «Vielleicht», bemerkte das Tagebuch, «kann man nur annäherungsweise an die Heiligkeit herankommen. In diesem Fall müßte man sich mit einem bescheidenen und wohlwollenden Satanismus begnügen.» Ebenfalls mit den Ausführungen über Cottard verflochten finden sich im Tagebuch auch zahlreiche, oft verstreute Beobachtungen; einerseits über Grand, der fast ganz wiederhergestellt war und seine Arbeit aufgenommen hatte, als sei nichts geschehen, und andererseits über Dr. Rieux' Mutter. Die paar Gespräche, die das Zusammenwohnen zwischen ihr und Tarrou ermöglichte, die Bewegungen der alten Frau, ihr Lächeln, ihre Bemerkungen zur Pest sind sorgfältig aufgezeichnet. Tarrou betont hauptsächlich Frau Rieux' bescheidene Zurückhaltung, ihre Art, alles in einfachen Sätzen auszudrücken, ihre besondere Vorliebe für ein bestimmtes Fenster, das auf die stille Straße hinausging. Hier saß sie des Abends, ein bißchen steif, mit ruhigen Händen und aufmerksamem Blick, bis die Dämmerung das Zimmer erfüllte, sie in dem grauen, langsam dunkler werdenden Licht allmählich zu einem schwarzen Schatten werden ließ und ihre unbewegliche Gestalt bald ganz verschluckte. Tarrou betonte die Schwerelosigkeit, mit der sie sich von einem Zimmer ins andere begab, ihre Güte, von der Tarrou keinen bestimmten Beweis erlebt hatte, deren Schein er jedoch in allen ihren Worten und Handlungen erkannte; und schließlich die Tatsache, daß sie seiner Meinung nach alles wußte, ohne je zu überlegen, und daß sie mit so viel Stille und Schatten auf der Höhe eines jeden Lichts, und wäre es das der Pest, bleiben konnte. Hier wies Tarrous Schrift übrigens seltsame Zeichen der Nachlässigkeit auf. Die folgenden Zeilen waren fast unleserlich, und wie um einen neuen Beweis dieses Nachgebens zu liefern, waren die letzten Worte die ersten persönlichen. «So war meine Mutter, ich liebte an ihr dieselbe Zurückhaltung, und ihr habe ich immer gleichen wollen. Vor acht Jahren ist sie -ich kann nicht sagen gestorben. Sie hat sich einfach ein bißchen mehr zurückgezogen als sonst, und als ich mich umdrehte, war sie nicht mehr da.» Aber wir müssen zu Cottard übergehen. Seitdem die Statistik sank, hatte er unter verschiedenen Vorwänden Rieux mehrere Besuche gemacht. In Wirklichkeit hatte er Rieux jedesmal um Voraussagen über den Verlauf der Epidemie gebeten. «Glauben Sie, daß sie einfach so aufhören kann, so auf einmal, ohne Warnung?» Er hatte seine diesbezüglichen Zweifel, oder sagte es zumindest. Seine immer wieder gestellten Fragen schienen eine weniger feste Überzeugung zu verraten. Mitte Januar hatte Rieux ziemlich zuversichtlich geantwortet. Und jedesmal hatten diese Antworten, anstatt Cottard zu freuen, ihm je nach den Tagen verschiedene Äußerungen entlockt, die aber alle von schlechter Laune bis zu Niedergeschlagenheit gingen. In der Folge war der Arzt gezwungen gewesen, ihm mitzuteilen, daß man trotz aller günstigen Anzeichen in der Statistik noch kein Siegesgeschrei erheben dürfe. «Anders gesagt», hatte Cottard bemerkt, «weiß man nichts; es kann von einem Tag zum andern wieder anfangen?» «Ja, gerade so gut, wie es möglich ist, daß die Heilung raschere Fortschritte macht.» Diese für alle anderen aufreibende Unsicherheit hatte Cottard sichtlich erleichtert, und in Tarrous Gegenwart hatte er mit den Kaufleuten seines Viertels Gespräche angefangen, in denen er Rieux' Ansicht zu verbreiten suchte. Das war tatsächlich nicht schwer. Denn nach dem Fieber der ersten Siege waren viele Gemüter wieder von Zweifeln besessen, die sich stärker zeigten als die von der amtlichen Erklärung verursachte Erregung. Cottard beruhigte sich beim Anblick dieser Besorgtheit. Andere Male verlor er den Mut auch wieder. «Ja», sagte er oft zu Tarrou, «man wird schließlich die Tore wieder öffnen. Und Sie werden sehen, wie mich alle fallenlassen!» Bis zum 25. Januar war jedermann die Unbeständigkeit seines Charakters aufgefallen. Nachdem er so lange versucht hatte, sein Viertel und seine Bekannten zu gewinnen, stieß er sie nun tagelang vor den Kopf. Er zog sich dann, wenigstens scheinbar, von der Welt zurück und wurde von einem Tag zum andern menschenscheu. Er wurde weder im Restaurant noch im Theater, noch in den Cafés gesehen, die er liebte. Und doch schien er sich nicht in das maßvolle und dunkle Leben zurückzufinden, das er vor der Seuche geführt hatte. Er lebte vollständig zurückgezogen in seiner Wohnung und ließ sich die Mahlzeiten von einem nahen Restaurant heraufbringen. Erst am Abend ging er verstohlen aus, kaufte, was er brauchte, trat aus den Geschäften und stürzte sich in einsame Gassen. Wenn Tarrou ihm dann begegnete, fand er ihn immer äußerst einsilbig. Dann wurde er ohne Übergang wieder gesellig, sprach ausführlich von der Pest, bat jeden um seine Meinung und tauchte jeden Abend wohlgefällig in der Flut der Menge unter. Am Tag der amtlichen Mitteilung verschwand Cottard völlig aus dem Verkehr. Zwei Tage später traf ihn Tarrou, wie er durch die Straßen irrte. Cottard bat ihn, er möge ihn bis in die Vorstadt zurückbegleiten. Tarrou fühlte sich von seinem Tagewerk ganz besonders ermüdet und zögerte. Aber der andere bestand darauf. Er schien sehr erregt, fuchtelte unruhig mit den Händen und sprach schnell und laut. Er fragte seinen Gefährten, ob er glaube, daß die amtliche Mitteilung der Pest tatsächlich ein Ende mache. Tarrou fand, eine Erklärung der Verwaltung genüge an sich noch nicht, um eine Seuche zum Stillstand zu bringen, aber es sei allen Ernstes zu glauben, daß die Epidemie aufhören werde, falls sich nichts Unvorhergesehenes ereigne. «Ja», sagte Cottard, «falls sich nichts Unvorhergesehenes ereignet. Und unverhofft kommt oft.» Tarrou gab ihm zu bedenken, daß die Präfektur das Unvorhergesehene gewissermaßen vorgesehen habe, da sie ja eine Frist von zwei Wochen vor der Öffnung der Tore festsetze. «Und sie hat wohl daran getan», sagte Cottard, immer noch düster und aufgeregt, «denn so wie die Dinge liegen, wäre es wohl möglich, daß sie ins Blaue geredet hat.» Tarrou fand, das sei möglich, aber es sei doch besser, man fasse die baldige Öffnung der Tore und die Rückkehr zu einem normalen Leben ins Auge. «Zugegeben», sagte Cottard, «zugegeben, aber was heißt Rückkehr zu einem normalen Leben?» «Neue Filme im Kino», antwortete Tarrou lächelnd. Aber Cottard lächelte nicht. Er wollte wissen, ob man annehmen müsse, die Pest habe in der Stadt nichts geändert und alles fange wieder an wie früher, das heißt, als sei nichts geschehen. Tarrou fand, die Pest habe die Stadt verändert und nicht verändert; er meinte, daß es natürlich der größte Wunsch unserer Mitbürger sei und bleiben werde, so zu tun, als ob nichts verändert wäre, und daß infolgedessen in gewissem Sinne nichts verändert sei; daß man aber in einem anderen Sinne nicht alles vergessen könne, auch mit dem nötigen Willen nicht, und daß die Pest zumindest in den Herzen Spuren hinterlassen werde. Der kleine Rentner erklärte rundheraus, das Herz interessiere ihn nicht, das Herz sei sogar sein letzter Kummer. Was ihn interessierte, war zu wissen, ob die Organisation an sich nicht verwandelt werde, ob zum Beispiel alle Dienststellen wie früher arbeiten würden. Und Tarrou mußte gestehen, das wisse er nicht. Er glaubte, es sei anzunehmen, daß alle diese Ämter, die während der Seuche durcheinander geraten waren, ein wenig Mühe hätten, wieder in Betrieb zu kommen. Es könne auch vermutet werden, daß sich eine Menge neuer Probleme einstelle, die zumindest eine Reorganisation der alten Ämter nötig mache. «Aha», sagte Cottard, «das ist tatsächlich möglich; es werden alle neu anfangen müssen.» Die beiden Spaziergänger waren bei Cottards Haus angelangt. Der erschien munterer und zwang sich zur Zuversicht. Er stellte sich die Stadt vor, wie sie wieder zu leben anfing, ihre Vergangenheit auslöschte, um ganz von vorne zu beginnen. «Gut», sagte Tarrou. «Schließlich wird sich vielleicht auch Ihre Angelegenheit in Ordnung bringen lassen. Es ist gewissermaßen ein neues Leben, das beginnen wird.» Sie standen vor der Tür und reichten sich die Hand. «Sie haben recht», sagte Cottard immer aufgeregter, «ganz von vorn anfangen, das wäre gut.» Aber aus dem Dunkel des Flurs waren zwei Männer aufgetaucht. Tarrou hatte kaum Zeit, zu hören, wie sein Begleiter fragte, was wohl die beiden Vögel wollten. Die Vögel, die aussahen wie Beamte in Sonntagskleidern, fragten Cottard nämlich, ob sein Name Cottard sei. Der unterdrückte einen dumpfen Ausruf, drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand in der Nacht, noch ehe die anderen oder Tarrou Zeit hatten, auch nur einen Finger zu rühren. Als die erste Überraschung verflogen war, fragte Tarrou die beiden Männer nach ihrem Begehr. Sie setzten eine zurückhaltende, höfliche Miene auf, sagten, es handle sich um Erkundigungen, und entfernten sich gesetzt in der Richtung, die Cottard eingeschlagen hatte. Als Tarrou heimgekehrt war, berichtete er diese Szene und verzeichnete gerade darauf seine Müdigkeit (die Schrift war Beweis genug). Er fügte hinzu, er habe noch viel zu tun, aber das sei kein Grund, sich nicht bereitzuhalten, und er fragte sich, ob er wirklich bereit sei. Zum Schluß antwortete er, und das ist das Ende von Tarrous Tagebuch, daß es immer eine Stunde des Tages oder der Nacht gebe, da ein Mensch feige sei, und daß er nur vor dieser Stunde Angst habe. Am übernächsten Mittag, wenige Tage vor der Öffnung der Tore, fragte sich Dr. Rieux auf dem Weg nach Hause, ob er das erwartete Telegramm vorfinden werde. Obwohl seine Tage immer noch gleich anstrengend waren wie zur schlimmsten Zeit der Pest, hatte die Erwartung der Befreiung seine ganze Müdigkeit verscheucht. Er hoffte jetzt, und darüber freute er sich. Niemand kann seinen Willen ewig anspannen und sich immer hart machen, und es ist ein beglückendes Gefühl, wenn man endlich aus vollem Herzen diese Garbe der Kräfte lösen kann, die für den Kampf geflochten war. Wenn auch das erwartete Telegramm günstig lautete, konnte Rieux neu beginnen. Und er war der Ansicht, daß alle Menschen neu beginnen sollten. Er kam an der Hausmeisterwohnung vorbei. Der neue Hauswart drückte sein Gesicht gegen das Fenster und lächelte ihm zu. Während Rieux die Treppe hinaufstieg, sah er noch einmal sein von Müdigkeit und Entbehrungen blasses Gesicht. Ja, er wollte neu beginnen. Sobald die Abstraktion zu Ende sein würde, und mit ein bißchen Glück . . . Aber in diesem Augenblick öffnete er die Tür, und seine Mutter kam ihm entgegen, um ihm mitzuteilen, daß es Herrn Tarrou nicht gutgehe. Er war am Morgen aufgestanden, hatte aber nicht ausgehen können und sich eben wieder niedergelegt. Frau Rieux war in Sorge. «Vielleicht ist es nichts Schlimmes», sagte ihr Sohn. Tarrou lag ganz ausgestreckt; sein schwerer Kopf war im Kissen vergraben, seine starke Brust zeichnete sich unter den dicken Wolldecken ab. Er hatte Fieber, und Kopfschmerzen quälten ihn. Er sagte Rieux, die Anzeichen seien zwar unbestimmt, könnten jedoch sehr wohl die Pest bedeuten. «Nein, noch nichts Bestimmtes», sagte Rieux, nachdem er ihn untersucht hatte. Aber Tarrou wurde von Durst verzehrt. Im Gang sagte der Arzt zu seiner Mutter, daß es der Anfang der Pest sein könne. «Oh!» sagte sie. «Das ist doch nicht möglich, nicht jetzt!» Und gleich darauf: «Wir wollen ihn hier behalten, Bernard.» Rieux überlegte. «Ich habe nicht das Recht dazu», sagte er. «Aber die Tore werden bald geöffnet. Ich glaube wohl, daß dies das erste Recht wäre, das ich für mich beanspruche, wenn du nicht hier wärst.» «Bernard», sagte sie, «behalte uns alle beide. Du weißt ja, daß ich eben frisch geimpft worden bin.» Der Arzt sagte, das sei auch bei Tarrou der Fall. Aber vor Erschöpfung habe er vielleicht die letzte Einspritzung verpaßt und ein paar Regeln der Vorsicht unterlassen. Rieux ging schon in sein Untersuchungszimmer. Als er zu Tarrou zurückkehrte, sah dieser, daß er die riesigen Ampullen mit dem Serum in Händen hielt. «Ach, das ist es», sagte er. «Nein, nur eine Vorsichtsmaßnahme.» Anstatt zu antworten, hielt Tarrou seinen Arm hin und ließ die endlose Einspritzung, die er selbst anderen Kranken gemacht hatte, über sich ergehen. «Heute abend werden wir sehen», sagte Rieux. Und er schaute Tarrou gerade ins Gesicht. «Und die Absonderung, Rieux?» fragte ihn der Freund. «Es ist gar nicht sicher, daß Sie wirklich die Pest haben.» Tarrou lächelte mühsam. «Dies ist das erste Mal, daß ich sehe, wie Serum eingespritzt wird, ohne daß gleichzeitig die Absonderung verordnet würde.» Rieux wandte sich ab. «Meine Mutter und ich werden Sie pflegen. Sie sind hier besser aufgehoben.» Tarrou schwieg, und der Arzt ordnete die Ampullen und wartete auf ein Wort des anderen, um sich umzuwenden. Schließlich trat er ans Bett. Der Kranke schaute ihn an. Sein Gesicht sah müde aus, aber seine grauen Augen waren ruhig. Rieux lächelte ihm zu. «Schlafen Sie, wenn Sie können. Ich werde bald wiederkommen.» Er war schon an der Tür, als er Tarrou rufen hörte. Er kehrte zu ihm zurück. Aber Tarrou schien Mühe zu haben, das auszudrücken, was er zu sagen hatte. «Rieux», brachte er schließlich hervor, «Sie müssen mir alles sagen, ich brauche es.» «Ich verspreche es Ihnen.» Der andere verzog sein wuchtiges Gesicht zu einem Lächeln. «Danke. Ich habe keine Lust zu sterben und werde kämpfen. Aber wenn das Spiel verloren ist, will ich ein guter Verlierer sein.» Rieux neigte sich zu ihm nieder und faßte ihn kräftig an den Schultern. «Nein», sagte er, «um ein Heiliger zu werden, muß man leben. Kämpfen Sie.» Im Verlauf des Tages nahm die empfindliche Kälte ein wenig ab, aber nur, um am Nachmittag heftigen Regen- und Hagelschauern zu weichen. Gegen Abend hellte sich der Himmel etwas auf, und die Kälte wurde durchdringender. Rieux kam spät nach Hause. Ohne seinen Mantel abzulegen, betrat er das Zimmer seines Freundes. Seine Mutter strickte. Tarrou schien sich nicht gerührt zu haben, aber seine fiebergebleichten Lippen drückten aus, welchen Kampf er durchfocht. «Nun?» fragte der Arzt. Tarrou hob seine breiten Schultern ein wenig aus dem Bett. «Nun», sagte er, «ich verliere das Spiel.» Der Arzt beugte sich über ihn. Unter der brennenden Haut hatten sich Knoten gebildet, seine Brust schien vom Lärm einer ganzen unterirdischen Schmiede zu widerhallen. Seltsamerweise zeigten sich an Tarrou beide Symptomreihen. Rieux richtete sich auf und sagte, das Serum habe noch nicht Zeit gehabt, seine Wirkung voll zu entfalten. Aber eine Fieberwelle, die Tarrous Kehle überschwemmte, erstickte die paar Worte, die er zu sagen versuchte. Nach dem Mittagessen setzten sich Rieux und seine Mutter zu dem Kranken. Für ihn begann die Nacht im Kampf, und Rieux wußte, daß dieses harte Ringen mit dem Pestengel bis zum Morgengrauen dauern würde. Nicht die kräftigen Schultern und die breite Brust waren Tar-rous beste Waffen, sondern vielmehr das Blut, das Rieux am Mittag unter seiner Nadel hatte hervorspritzen lassen, und in diesem Blut das, was noch tiefer lag als die Seele und das keine Wissenschaft ans Licht bringen konnte. Und er mußte zusehen, wie sein Freund sich wehrte. Was er unternehmen würde, die Abszesse, die er fördern sollte, die stärkenden Mittel, die er ihm einflößen mußte - mehrere Monate wiederholten Mißlingens hatten ihn gelehrt, ihre Wirksamkeit richtig einzuschätzen. Seine Aufgabe bestand tatsächlich einzig darin, Gelegenheiten für den Zufall zu schaffen, der sich allzuoft nur bemüht, wenn er herausgefordert wird, und der Zufall mußte sich bemühen. Denn Rieux sah sich vor einem Gesicht der Pest, das ihn verwirrte. Einmal mehr war sie darauf bedacht, die gegen sie aufgestellten Kampfpläne zu vereiteln. Sie tauchte dort auf, wo man sie nicht erwartete, um von dort zu verschwinden, wo sie sich bereits niedergelassen zu haben schien. Wieder einmal war sie darauf bedacht, in Erstaunen zu setzen. Tarrou kämpfte regungslos. Während der Nacht stellte er dem Ansturm des Übels kein einziges Mal die Erregung entgegen. Er wehrte sich nur mit seiner ganzen Schwere und seinem ganzen Schweigen. Aber er sprach auch kein einziges Mal und gab so auf seine Art zu verstehen, daß ihm keine Ablenkung mehr möglich war. Rieux konnte die Entwicklung des Ringens nur an den Augen seines Freundes verfolgen: sie waren abwechselnd offen oder geschlossen, die Lider fester an den Glaskörper gepreßt oder im Gegenteil gelöst, der Blick starr auf einen Gegenstand gerichtet oder dem Arzt und seiner Mutter zugewandt. Jedesmal, wenn der Arzt diesem Blick begegnete, lächelte Tarrou mit großer Anstrengung. Einmal waren eilige Schritte auf der Straße zu hören. Sie schienen vor einem fernen Grollen zu fliehen, das allmählich näher kam und schließlich die ganze Stadt mit seinem Rauschen erfüllte; der Regen begann wieder, bald mit Hagel vermischt, der auf die Trottoirs prasselte. Die großen Vorhänge an den Fenstern bauschten sich. Rieux hatte sich vom Regen einen Augenblick lang ablenken lassen und betrachtete jetzt im Dämmer des Raums wieder Tarrou, auf den das Licht einer Nachtlampe fiel. Frau Rieux strickte und hob von Zeit zu Zeit den Kopf, um den Kranken aufmerksam anzusehen. Der Arzt hatte jetzt alles unternommen, was er tun konnte. Nach dem Regen wurde die Stille in dem Zimmer, das nur vom stummen Aufruhr eines unsichtbaren Krieges erfüllt war, wieder dichter. Vor Schlaflosigkeit überreizt, vermeinte der Arzt am Rande der Stille jenes leise, regelmäßige Pfeifen zu hören, das ihn während der ganzen Epidemie begleitet hatte. Er bedeutete seiner Mutter mit Zeichen, sie solle sich schlafen legen. Sie weigerte sich mit einem Kopfschütteln, und ihre Augen leuchteten auf, dann prüfte sie mit der Spitze der Stricknadel sorgfältig eine Masche, die ihr nicht zu stimmen schien. Rieux erhob sich, um dem Kranken zu trinken zu geben, dann setzte er sich wieder. Fußgänger benutzten das vorübergehende Aufhören des Regens und gingen eilig über das Trottoir. Ihre Schritte wurden leiser und entfernten sich. Der Arzt bemerkte zum erstenmal, daß diese von verspäteten Fußgängern belebte Nacht ohne das Bimmeln der Krankenwagen den Nächten aus früheren Zeiten glich. Es war eine von der Pest befreite Nacht. Und es war, als sei die Krankheit von der Kälte, den Lichtern und der Menge verjagt worden und habe sich aus den dunklen Tiefen der Stadt in dieses warme Zimmer geflüchtet, um einen letzten Angriff gegen Tarrous schlaffen Körper zu unternehmen. Der Dreschflegel wirbelte nicht mehr am Himmel über der Stadt, sondern pfiff leise in der schweren Luft des Zimmers. Er war es, den Rieux seit Stunden hörte. Man mußte warten, bis er auch hier innehielt, bis die Pest sich auch hier geschlagen gab. Kurz vor Morgengrauen beugte sich Rieux zu seiner Mutter. «Du solltest dich niederlegen, damit du mich um acht Uhr ablösen kannst. Mach noch die Einträufelungen, ehe du schlafen gehst.» Frau Rieux erhob sich, legte ihr Strickzeug beiseite und trat ans Bett. Tarrou hielt seine Augen schon seit einiger Zeit geschlossen. Der Schweiß lockte seine Haare über der harten Stirn. Frau Rieux seufzte, und der Kranke schlug die Augen auf. Er sah das weiche Gesicht über sich geneigt, und trotz der Fieberwellen erschien noch einmal das zähe Lächeln. Aber die Augen schlössen sich sogleich wieder. Als Rieux allein war, setzte er sich in den Sessel, den seine Mutter eben verlassen hatte. Die Straße war stumm und das Schweigen nun vollkommen. Die morgendliche Kälte machte sich im Zimmer bemerkbar. Der Arzt nickte ein, aber das erste Fahrzeug des grauenden Tages riß ihn aus seinem Schlummer. Er fröstelte. Er schaute Tarrou an und bemerkte, daß eine Pause eingetreten war und der Kranke ebenfalls schlief. Die hölzernen und eisernen Räder des Pferdefuhrwerks rollten in der Ferne. Am Fenster war der Tag noch dunkel. Als der Arzt ans Bett trat, blickte Tarrou ihn mit ausdruckslosen Augen an, als befinde er sich noch auf der Seite des Schlafs. «Sie haben geschlafen, nicht wahr?» fragte Rieux. «Ja.» «Können Sie besser atmen?» «Ein bißchen. Hat das etwas zu bedeuten? » Rieux schwieg. Nach einer Weile sagte er: «Nein, Tarrou, das hat nichts zu bedeuten. Sie kennen die morgendliche Besserung so gut wie ich.» Tarrou nickte. «Danke», sagte er. «Antworten Sie mir immer ganz genau.» Rieux hatte sich auf das Fußende des Bettes gesetzt. Er spürte die langen, harten Beine des Kranken neben sich wie die Glieder einer Grabfigur. Tarrou atmete schwer. «Das Fieber wird wiederkommen, nicht wahr, Rieux?» fragte er keuchend. «Ja, aber um Mittag werden wir Gewißheit haben.» Tarrou schloß die Augen und schien seine Kräfte zusammenzureißen. Seine Züge drückten Ermattung aus. Er erwartete das Steigen des Fiebers, das sich schon in seinem Innern zu regen begann. Als er die Augen öffnete, war sein Blick glanzlos. Er leuchtete erst auf, als er Rieux sah, der sich zu ihm neigte. «Trinken Sie», sagte Rieux. Der andere trank und ließ seinen Kopf zurückfallen. «Es dauert lange», sagte er. Rieux faßte seinen Arm, aber Tarrou hatte den Blick abgewendet und reagierte nicht mehr. Und plötzlich strömte das Fieber sichtbar wieder bis unter die Haarwurzeln, als habe es einen inneren Damm gebrochen. Als Tarrou den Arzt wieder anblickte, ermutigte ihn dieser mit seinem angespannten Gesicht. Das Lächeln, das Tarrou sich nochmals abzuringen suchte, drang nicht mehr über die zusammengepreßten Kiefer und die von weißem Schaum zugemauerten Lippen. Aber in seinem versteinerten Gesicht leuchteten die Augen noch mit dem Glanz ungebrochenen Mutes. Um sieben Uhr trat Frau Rieux ein. Der Arzt begab sich in sein Arbeitszimmer, um das Spital zu benachrichtigen und für einen Vertreter zu sorgen. Er beschloß auch, seine Besuche zu verschieben, legte sich einen Augenblick auf den Diwan seines Untersuchungszimmers, erhob sich aber fast sogleich wieder und kehrte zu dem Kranken zurück. Tarrou hatte seinen Kopf Frau Rieux zugekehrt. Er betrachtete den kleinen Schatten, der neben ihm zusammengesunken in einem Stuhl saß und die Hände im Schoß gefaltet hielt. Und er schaute Frau Rieux so eindringlich an, daß sie einen Finger an die Lippen legte und sich erhob, um die Nachtlampe zu löschen. Aber das Tageslicht drang bald durch die Vorhänge, und als die Umrisse des Kranken kurz darauf aus der Dunkelheit auftauchten, konnte Frau Rieux sehen, daß er sie immer noch anblickte. Sie beugte sich zu ihm nieder, schüttelte das Kissen zurecht und legte ihre Hand einen Augenblick auf seine feuchten, wirren Haare, ehe sie sich wieder aufrichtete. Da hörte sie, wie eine dumpfe Stimme aus weiter Ferne ihr Danke sagte und daß jetzt alles gut sei. Als sie sich wieder gesetzt hatte, waren Tarrous Augen geschlossen, und sein erschöpftes Gesicht schien trotz des versiegelten Mundes wieder zu lächeln. Am Mittag erreichte das Fieber seinen Höhepunkt. Ein aus der Tiefe des Körpers brechender Husten erschütterte den Leib des Kranken, der nun Blut zu spucken begann. Die Lymphknoten waren nicht mehr weiter angeschwollen. Sie waren noch immer vorhanden, hart wie in die Gelenkhöhlen versenkte Schrauben, und Rieux hielt es für unmöglich, sie zu öffnen. In den Pausen zwischen Fieber und Husten schaute Tarrou seine Freunde hie und da noch an. Aber bald öffneten sich seine Augen immer seltener, und das Licht, das dann sein verwüstetes Gesicht erhellte, war jedesmal bleicher. Der Gewittersturm, der diesen Körper in heftigen, krampfartigen Zuckungen schüttelte, erleuchtete ihn mit immer selteneren Blitzen, und auf dem Grunde dieses Sturms wurde Tarrou langsam abgetrieben. Rieux hatte nur noch eine nunmehr leblose Masse vor sich, aus der das Lächeln verschwunden war. Diese menschliche Gestalt, die ihm so nahegestanden, war jetzt von Schwerthieben durchbohrt, von einem übermenschlichen Übel verbrannt, von allen Haßwinden des Himmels verkrümmt und versank vor seinen Augen in den Fluten der Pest, und er vermochte nichts gegen diesen Schiffbruch. Er mußte am Ufer bleiben und mit leeren Händen und zerrissenem Herzen zusehen; wiederum stand er diesem Verhängnis hilflos und ohne Waffen gegenüber. Und am Ende waren es die Tränen der Ohnmacht, die Rieux daran hinderten, zu sehen, wie Tarrou sich plötzlich gegen die Wand kehrte und in einer hohlen Klage sein Leben aushauchte, als sei irgendwo in ihm eine unentbehrliche Saite gesprungen. Die Nacht, die folgte, war nicht die Nacht des Kampfes, sondern des Schweigens. In der Weltabgeschiedenheit dieses Zimmers mit dem jetzt angekleideten Toten spürte Rieux wieder jene gleiche, überraschende Ruhe, die viele Nächte zuvor auf den Terrassen über der Pest dem Angriff auf die Tore gefolgt war. Schon damals hatte er an das Schweigen gedacht, das von den Betten ausging, in denen er Menschen hatte sterben lassen. Es war überall das gleiche Innehalten, dieser gleiche, feierliche Zwischenhalt, immer die gleiche Besänftigung, die dem Kampf folgte, es war das Schweigen der Niederlage. Aber jenes, das nun seinen Freund einhüllte, war so undurchdringlich, eins mit dem Schweigen der Straße und der von der Pest befreiten Stadt, daß Rieux deutlich fühlte, daß es sich diesmal um die endgültige Niederlage handelte, um jene Niederlage, die die Kriege beendet und noch aus dem Frieden ein unheilbares Leiden macht. Der Arzt wußte nicht, ob Tarrou schließlich den Frieden gefunden hatte, aber er glaubte zu wissen, wenigstens in diesem Augenblick, daß für ihn selbst ein Friede niemals mehr möglich sein werde, so wie es für die Mutter, die ihren Sohn verloren hat, oder für den Mann, der seinen Freund begräbt, keinen Waffenstillstand gibt. Draußen herrschte die gleiche kalte Nacht, mit erfrorenen Sternen am klaren, eisigen Himmel. Im halbdunklen Zimmer spürte man die Kälte auf den Scheiben lasten und das weite, fahle Atmen einer Polarnacht. Neben dem Bett saß Frau Rieux in ihrer gewohnten Haltung, das Nachtlicht erhellte ihre rechte Seite. In der Mitte des Zimmers, fern vom Licht, wartete Rieux in seinem Sessel. Immer wieder kam ihm der Gedanke an seine Frau, aber er verscheuchte ihn jedesmal. Zu Beginn der Nacht tönten die Absätze der Vorübergehenden hell in der Kälte. «Hast du alles besorgt?» hatte Frau Rieux gefragt. «Ja, ich habe telefoniert.» Dann hatten sie ihre schweigsame Totenwache wieder aufgenommen. Von Zeit zu Zeit schaute Frau Rieux ihren Sohn an. Wenn er einen ihrer Blicke auffing, lächelte er ihr zu. Auf der Straße waren sich die vertrauten Geräusche der Nacht gefolgt. Zahlreiche Fahrzeuge verkehrten wieder, obwohl die Bewilligung noch nicht erteilt war. Sie glitten rasch über das Pflaster, verschwanden und tauchten wieder auf. Stimmen, Rufe, wieder Stille, der Hufschlag eines Pferdes, zwei in einer Biegung kreischende Straßenbahnen, undeutliche Geräusche und dann von neuem das Atmen der Nacht. «Bernard?» «Ja.» «Bist du nicht müde ? » «Nein.» Er wußte, was seine Mutter dachte und daß sie ihn in diesem Augenblick liebte. Aber er wußte auch, daß die Liebe zu einem Menschen nicht viel bedeutet, oder zumindest, daß eine Liebe niemals stark genug ist, um den ihr gemäßen Ausdruck zu finden. So würden er und seine Mutter sich immer wortlos lieben. Und sie würde ihrerseits sterben - oder er -, und ihr Leben lang würde es ihnen nie gelingen, ihre innige Verbundenheit besser zum Ausdruck zu bringen. Auch mit Tarrou war es ihm so ergangen, neben dem er gelebt hatte und der heute abend tot war, ohne daß ihre Freundschaft Zeit gehabt hätte, richtig zu leben. Tarrou hatte, wie er sagte, das Spiel verloren. Aber er, Rieux, was hatte er gewonnen? Sein einziger Gewinn war, daß er die Pest gekannt hatte und ihm die Erinnerung daran blieb, daß er die Freundschaft gekannt hatte und ihm die Erinnerung daran blieb, daß er die innige Verbundenheit kannte und ihm eines Tages nur noch die Erinnerung daran bleiben würde. Alles, was der Mensch im Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnisse und Erinnerung. Vielleicht war es das, was Tarrou das Spiel gewinnen nannte! Wieder fuhr ein Auto vorüber, und Frau Rieux rückte ein wenig auf ihrem Stuhl. Rieux lächelte ihr zu. Sie sagte, daß sie gar nicht müde sei und gleich darauf: «Du mußt dann zur Erholung dort hinauf in die Berge.» «Natürlich, Mutter.» Ja, er würde sich dort oben ausruhen. Warum nicht? Auch dies würde ein Vorwand für Erinnerungen sein. Aber wenn das das Spiel gewinnen hieß, wie schwer mußte es dann sein, nur mit dem zu leben, was man weiß und an das man sich erinnert. Und ohne das, was man erhofft. Gewiß hatte Tarrou so gelebt, und er war sich bewußt, wie unfruchtbar ein Leben ohne Illusionen ist. Es gab keinen Frieden ohne Hoffnung, und Tarrou, der den Menschen das Recht verweigerte, irgend jemanden zu verurteilen, und doch wußte, daß keiner es vermeiden konnte, zu verurteilen, und daß selbst die Opfer manchmal zum Henker werden, Tarrou hatte in innerer Zerrissenheit und im Widerspruch gelebt, er hatte die Hoffnung nie gekannt. Ob er wohl deshalb nach Heiligkeit gestrebt und den Frieden im Dienst an den Menschen gesucht hatte? Rieux wußte es nicht, und es war auch unwichtig. Die einzigen Bilder, die er von Tarrou bewahren würde, waren das eines Mannes, der das Steuer seines Wagens mit kräftigen Händen ergriff, um ihn zu führen, und jenes andere des schweren Körpers, der jetzt regungslos ausgestreckt dalag. Ein warmer Hauch des Lebens und ein Bild des Todes, das war die Erkenntnis. Wahrscheinlich war dies der Grund dafür, daß Rieux am Vormittag die Nachricht vom Tode seiner Frau mit Ruhe aufnahm. Er befand sich in seinem Arbeitszimmer. Seine Mutter war herbeigeeilt, hatte ihm ein Telegramm überreicht und war dann hinausgegangen, um dem Boten ein Trinkgeld zu geben. Als sie zurückkehrte, hielt ihr Sohn das Telegramm geöffnet in der Hand. Sie schaute ihn an, aber er betrachtete starr durch das Fenster einen strahlenden Morgen, der sich über dem Hafen erhob. «Bernard», sagte Frau Rieux. Der Arzt betrachtete sie mit abwesender Miene. «Das Telegramm?» fragte sie. «Ja», gab der Arzt zu. «Vor acht Tagen.» Frau Rieux wandte den Kopf gegen das Fenster. Der Arzt schwieg. Dann sagte er zu seiner Mutter, sie solle nicht weinen, er sei darauf gefaßt gewesen, aber es sei dennoch schwer. Nur wußte er bei diesen Worten, daß sein Leid ohne Überrraschung war. Seit vielen Monaten und seit zwei Tagen war es stets der gleiche Schmerz, der fortdauerte. Im Morgengrauen eines schönen Februartages öffneten sich endlich die Tore, begrüßt von der Bevölkerung, den Zeitungen, dem Radio und den Mitteilungen der Präfektur. Es bleibt also dem Erzähler nur noch übrig, von den Stunden der Freude zu berichten, welche dieser Öffnung der Tore folgten, obwohl er selber zu denen gehörte, die nicht die Freiheit besaßen, sich ihr ganz hinzugeben. Am Tag und am Abend wurden große Festlichkeiten veranstaltet. Zur gleichen Zeit begannen im Bahnhof Lokomotiven zu rauchen, während Schiffe, die von fernen Meeren herkamen, bereits ihren Bug auf unseren Hafen richteten und auf ihre Weise anzeigten, daß dieser Tag für alle jene, die unter der Trennung litten, der Tag der großen Wiedervereinigung war. Man wird sich jetzt leicht vorstellen können, was aus dem Gefühl der Trennung wurde, das so viele unserer Mitbürger beseelt hatte. Die Züge, die während des Tages in unserer Stadt einfuhren, waren nicht weniger überfüllt als die, die ausführen. Jedermann hatte während der zwei Wochen Aufschub seinen Platz für diesen Tag bestellt und zitterte, der amtliche Beschluß könnte im letzten Augenblick rückgängig gemacht werden. Manche unter den Reisenden, die sich der Stadt näherten, waren nicht ohne alle Furcht; denn wenn sie auch im allgemeinen das Schicksal der ihnen Nahestehenden kannten, so wußten sie doch nichts von dem aller anderen und der Stadt selber, deren Aussehen sie sich beängstigend vorstellten. Aber das traf nur auf diejenigen zu, die während dieser ganzen Zeit nicht von Leidenschaft verzehrt worden waren. Die Leidenschaftlichen waren nämlich ihrer fixen Idee ausgeliefert. Für sie hatte sich nur etwas verändert: die Zeit, die sie während der Monate ihrer Verbannung hätten vorwärtstreiben wollen, damit sie sich beeile, die sie immer noch mit aller Kraft beschleunigen wollten, als sie unsere Stadt schon sehen konnten - diese Zeit hätten sie im Gegenteil zurückhalten und aufheben wollen, sobald der Zug zu bremsen anfing. Das gleichzeitig verschwommene und stechende Bewußtsein all der Monate ihres Lebens, die ihrer Liebe verlorengegangen waren, ließ sie undeutlich nach einer Art Ausgleich verlangen, wonach die Zeit der Freude zweimal langsamer hätte verfließen müssen als die Zeit der Erwartung. Und alle jene, die sie in einem Zimmer oder auf dem Bahnsteig erwarteten, wie Rambert, waren gleich ungeduldig und gleich verwirrt; er hatte seine Frau rechtzeitig verständigt, so daß sie seit Wochen alles hatte vorbereiten können, um dann wirklich anzukommen. Er wartete zitternd darauf, jene Liebe oder Zärtlichkeit, die die Monate der Pest zur Abstraktion hatten werden lassen, neben den Menschen aus Fleisch und Blut zu halten, auf den sie sich gestützt hatten. Er hätte wieder der werden mögen, der zu Beginn der Epidemie in einem einzigen Anlauf aus der Stadt hatte rennen wollen, um sich der Frau entgegenzuwerfen, die er liebte. Aber er wußte, daß das nicht mehr möglich war. Er hatte sich verändert; die Pest hatte eine Zerstreutheit in ihm entstehen lassen, die er mit seiner ganzen Kraft wegzuleugnen versuchte und die doch in ihm fortdauerte wie eine dumpfe Angst. In gewissem Sinn hatte er das Gefühl, die Pest habe zu jäh aufgehört; er hatte seine Geistesgegenwart noch nicht wiedergewonnen. Das Glück näherte sich mit großer Geschwindigkeit, das Ereignis war schneller als die Erwartung. Rambert erkannte, daß ihm alles mit einem Schlag wiedergeschenkt werden würde und daß die Freude ein brennendes Gefühl ist, das sich nicht auskosten läßt. Übrigens empfanden alle mehr oder weniger bewußt wie er, und man muß von allen reden. Auf dem Bahnsteig, wo ihr persönliches Leben wieder anfing, fühlten sie noch ihre Gemeinschaft und tauschten Blicke und Lächeln. Aber sobald sie den Rauch des Zuges sahen, erlosch ihr Gefühl der Verbannung unvermittelt unter der Sturzwelle einer verschwommenen und betäubenden Freude. Als der Zug hielt, nahmen unendlich lange Trennungen, die bei manchen auf diesem selben Bahnsteig begonnen hatten, in der Sekunde ein Ende, da sich die Arme mit frohlockender Habsucht um einen Körper schlössen, dessen lebende Form sie vergessen hatten. Rambert hatte nicht Zeit, die Gestalt anzuschauen, die auf ihn zurannte, als sie sich schon an seine Brust warf. Und indem er sie mit beiden Armen umschlossen hielt und einen Kopf an sich drückte, von dem er nur die vertrauten Haare sah, ließ er seinen Tränen freien Lauf und wußte nicht, ob sie von seinem jetzigen Glück herrührten oder von einem allzu lange verhaltenen Schmerz; er war wenigstens sicher, daß sie ihn daran hinderten, nachzuprüfen, ob das Gesicht, das an seiner Schulter lag, das war, von dem er so oft geträumt hatte, oder im Gegenteil das einer Fremden. Später würde er wissen, ob seine Ahnung zutraf. Für den Augenblick wollte er es halten wie alle ringsum, die zu glauben schienen, die Pest könne kommen und wieder gehen, ohne daß das Herz der Menschen sich deshalb veränderte. Eng aneinandergeschmiegt, blind für den Rest der Welt, scheinbar Sieger über die Pest, kehrten dann alle heim und vergaßen alles Elend und die, die mit dem gleichen Zug gekommen waren, aber niemand vorgefunden hatten und sich nun darauf vorbereiteten, zu Hause die Bestätigung einer Angst zu erhalten, die ein langes Schweigen schon in ihrem Herzen hatte entstehen lassen. Für die, die jetzt nur ihr ganz frisches Leid zur Begleitung hatten und für andere, die sich in diesem Augenblick der Erinnerung an einen verschwundenen Menschen hingaben, sah es ganz anders aus: für sie hatte das Gefühl der Trennung seinen Höhepunkt erreicht. Für sie, Mütter, Gatten, Liebesleute, die mit dem Menschen, der jetzt in einem Massengrab ruhte oder sich in ein Häuflein Asche aufgelöst hatte, alle Freude verloren hatten, herrschte immer noch die Pest. Aber wer dachte an diese Einsamen? Am Mittag wurde die Sonne der kalten Winde, die seit dem Morgen miteinander kämpften, Herr und verströmte stetige Fluten unbeweglichen Lichtes über die Stadt. Der Tag stand still. Von den Festungen auf den Hügeln krachten ohne Unterlaß Kanonenschüsse in den unveränderlichen Himmel. Die ganze Stadt stürzte hinaus, um jene bedrängende Minute zu feiern, da die Zeit des Leidens zu Ende ging und die Zeit des Vergessens noch nicht angebrochen war. Auf allen Plätzen wurde getanzt. Der Verkehr hatte von einem Tag zum andern beträchtlich zugenommen, und die zahlreicher gewordenen Autos kamen in den überfüllten Straßen nur mühsam vorwärts. Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit aller Kraft. Mit ihren Schwingungen erfüllten sie einen blaugoldenen Himmel. In den Kirchen wurden nämlich Dankgebete gesprochen. Aber zur gleichen Zeit waren die Vergnügungsorte zum Bersten voll, und in den Cafés wurde unbekümmert um die Zukunft der letzte Alkohol ausgeschenkt. An den Schanktischen drängte sich eine gleichermaßen erregte Menschenmenge, darunter viele eng umschlungene Paare, die sich nicht vor Zuschauern scheuten. Alle schrien oder lachten. Den Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, da ihr Lebens-flämmchen nur noch ganz niedrig brannte, gaben sie an dem einen Tag aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken Brüderschaft. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wahrhaftig verwirklicht hatte, wurde jetzt wenigstens für ein paar Stunden von der Freude über die Erlösung geschaffen. Aber dieser gewöhnliche Überschwang drückte nicht alles aus, und diejenigen, die gegen Abend mit Rambert zusammen die Straßen bevölkerten, versteckten oft hinter einem ruhigen Aussehen ein empfindsameres Glück. Viele Paare und viele Familien sahen tatsächlich nicht anders aus als friedliche Spaziergänger. In Wirklichkeit folgten die meisten einem feinen Gefühl und pilgerten an die Stätten, wo sie gelitten hatten. Den Neuankömmlingen mußten die Auffälligen oder verborgenen Zeichen der Pest, die Spuren ihrer Geschichte gezeigt werden. In manchen Fällen begnügte man sich damit, den Fremdenführer zu spielen, den, der viel erlebt hat, den Zeitgenossen der Pest, und man sprach von der Gefahr, ohne die Angst zu erwähnen. Diese Vergnügen waren harmlos. Aber in anderen Fällen ging es um aufwühlendere Wege, wo ein Liebender sich der süßen Angst der Erinnerung überlassen und zu seiner Gefährtin sagen konnte: «An diesem Ort, zu dieser Zeit habe ich dich begehrt, und du warst nicht da.» Diese Spaziergänger der Leidenschaft konnten sich gegenseitig erkennen: sie bildeten inmitten der Unruhe, in der sie wandelten, kleine Inseln von Geflüster und Geheimnissen. Sie verkündeten besser als die Orchester auf den Plätzen die wahre Befreiung. Denn inmitten des Getümmels bekräftigten diese entrückten, eng umschlungenen und wortkargen Paare mit dem ganzen Jubel und der Ungerechtigkeit des Glücks, daß die Pest zu Ende und die Zeit des Grauens abgelaufen war. Sie leugneten in aller Ruhe und wider jeden Augenschein die Tatsache, daß wir je die wahnwitzige Welt gekannt hatten, in der die Ermordung eines Menschen ebenso alltäglich war wie der Tod der Fliegen. Sie leugneten jene ganz besondere Verwilderung, jene berechnete Raserei, jene Gefangenschaft, die eine entsetzliche Freiheit gegenüber allem, was nicht die Gegenwart war, mit sich brachte, jenen Todesgeruch, der alle, die er nicht tötete, betäubte. Sie leugneten schließlich, daß sie jenes erstarrte Volk gewesen waren, von dem jeden Tag ein Teil in den Rachen eines Ofens geschmissen wurde und in zähem Qualm aufging, während der andere Teil, von Ohnmacht und Angst gekettet, wartete, bis die Reihe an ihn komme. Das jedenfalls sprang Rieux in die Augen, als er am späten Nachmittag auf dem Weg in die Vorstadt inmitten des Glockengeläutes, des Kanonendonners, der Musik und des ohrenbetäubenden Geschreis allein dahinschritt. Sein Beruf ging weiter, für die Kranken gab es keinen Urlaub. In das schöne, zarte Licht, das sich auf die Stadt senkte, mischten sich die alten Gerüche von Braten und Anisschnaps. Um Rieux herum hoben sich lachende Gesichter zum Himmel. Männer und Frauen mit glühenden Gesichtern klammerten sich mit der ganzen Unbeherrschtheit und dem Schrei des Verlangens aneinander. Ja, die Pest war mitsamt dem Grauen zu Ende, und die Arme, die sich umschlangen, sagten wahrlich, daß sie im tiefsten Sinne des Wortes Verbannung und Trennung gewesen war. Zum erstenmal konnte Rieux dem vertrauten Ausdruck, den er während Monaten auf den Gesichtern aller Leute gelesen hatte, einen Namen geben. Er brauchte jetzt nur um sich zu blicken. Am Ende der Pest mit ihrem Elend und ihren Entbehrungen angelangt, hatten alle diese Menschen schließlich das Kostüm angezogen, das der Rolle, die sie schon seit langem spielten, entsprach: die Rolle von Verbannten, deren Kleidung nun ebenso wie ihr Gesicht von der Abwesenheit und der fernen Heimat redete. Vom Augenblick an, da die Pest die Tore der Stadt geschlossen hatte, lebten sie nur noch in der Trennung; sie waren von jener menschlichen Wärme geschieden worden, die alles vergessen läßt. An allen Enden der Stadt hatten diese Männer und diese Frauen mehr oder weniger nach einer Vereinigung gestrebt, die nicht für alle gleicher Art, aber für alle gleich unmöglich war. Die meisten hatten mit ihrer ganzen Kraft nach einem Abwesenden, der Wärme eines Körpers, der Zärtlichkeit oder der Gewohnheit geschrien. Manche litten oft unbewußt darunter, daß sie von der Freundschaft der Menschen ausgeschlossen und außerstande waren, sie auf den gewöhnlichen Wegen der Freundschaft, mit Briefen, Zügen oder Schiffen, zu erreichen. Andere, die seltener waren, hatten - wie vielleicht Tarrou - die Vereinigung mit etwas begehrt, das sie nicht nennen konnten, das ihnen aber als das einzig erstrebenswerte Gut erschien. Und mangels eines anderen Namens hießen sie es manchmal Frieden. Rieux ging immer noch. Je weiter er vordrang, desto dichter wurde die Menge um ihn, desto lauter das Getöse, und es war ihm, als wichen die Vorstädte, in die er gelangen wollte, vor ihm zurück. Allmählich verschmolz er mit diesem großen, lärmenden Leib, dessen Schrei er immer besser verstand, da es wenigstens zum Teil auch sein Schrei war. Ja, sie riefen alle miteinander, und im Fleisch so sehr wie im Geist, an einer schweren Leere, einer unheilbaren Verbannung, einem nie gestillten Durst gelitten. Mitten in dieser Anhäufung von Toten, dem Bimmeln der Krankenwagen, den Warnungen des sogenannten Schicksals, dem hartnäckigen Stampfen der Angst und dem schrecklichen Aufruhr ihres Herzens hatte eine Stimme nicht aufgehört, diese von Entsetzen heimgesuchten Menschen zu wecken und ihnen zuzuraunen, daß sie ihre wahre Heimat wiederfinden müßten. Für sie alle befand sich die wahre Heimat jenseits der Mauern dieser erstickten Stadt. Sie war in den duftenden Sträuchern auf den Hügeln, im Meer, in den freien Ländern und im Gewicht der Liebe. Und zu ihr, zum Glück, wollten sie zurück und sich voll Ekel von allem anderen abwenden. Was diese Verbannung und diese Sehnsucht nach Wiedervereinigung für einen Sinn haben mochte, wußte Rieux nicht. Er ging immer weiter, wurde von allen Seiten gestoßen und angerufen und gelangte langsam in weniger belebte Straßen. Er dachte, daß es nicht darauf ankommt, ob diese Dinge einen Sinn haben, sondern nur darauf, welche Antwort der Hoffnung den Menschen erteilt wird. Er wußte jetzt, welches die Antwort war, und er merkte es noch deutlicher in den ersten, beinahe verlassenen Straßen der Vorstadt. Diejenigen, die sich an das wenige, was sie waren, gehalten und nur begehrt hatten, in das Haus ihrer Liebe zurückzukehren, wurden manchmal belohnt. Gewiß fuhren manche unter ihnen fort, einsam in der Stadt herumzuirren, des Menschen, den sie erwarteten, beraubt. Und glücklich die, die nicht zweimal getrennt worden waren wie jene anderen, denen es vor der Seuche nicht gelungen war, ihre Liebe von Anfang an zu erfüllen, und die sich jahrelang blind um jene Übereinstimmung bemüht hatten, die schließlich feindliche Liebende aneinanderschmiedet. Die hatten sich, wie Rieux selber, leichtfertig auf die Zeit verlassen: sie waren für immer getrennt. Aber andere, wie Rambert, von dem der Arzt sich am Morgen mit den Worten verabschiedet hatte: «Nur Mut, jetzt ist der Augenblick, da man recht behalten muß», hatten ohne Zögern den verloren geglaubten Abwesenden wiedergefunden. Eine Zeitlang wenigstens würden sie glücklich sein. Wenn es etwas gibt, das man immer ersehnen und manchmal auch erhalten kann, so ist es die liebevolle Verbundenheit mit einem Menschen. Das wußten sie jetzt. Alle die jedoch, die sich über den Menschen hinaus an etwas gewandt hatten, das sie sich nicht einmal vorstellen konnten, hatten keine Antwort erhalten. Es schien, als habe Tarrou jenen spröden, widerspruchsvollen Frieden erlangt, von dem er sprach; aber er hatte ihn nur im Tod gefunden und zu einer Zeit, da er ihm nichts nützen konnte. Rieux sah dagegen andere, die sich im schwindenden Licht auf der Schwelle der Häuser mit aller Kraft umarmten und sich hingerissen anblickten; sie hatten erhalten, was sie wollten, weil sie das einzige verlangt hatten, was von ihnen abhing. Und als Rieux in Grands und Cottards Straße einbog, dachte er, es sei gerecht, daß die Freude wenigstens von Zeit zu Zeit die belohne, die sich mit dem Menschen begnügen und mit seiner armseligen, gewaltigen Liebe. Diese Chronik geht ihrem Ende entgegen. Es ist Zeit, daß Dr. Bernard Rieux sich als ihr Verfasser bekennt. Aber bevor er die letzten Ereignisse berichtet, möchte er zumindest sein Eingreifen rechtfertigen und erklären, daß ihm daran gelegen war, die Rolle des sachlichen Zeugen zu spielen. Während der ganzen Dauer der Pest hat sein Beruf es ihm ermöglicht, die Mehrzahl seiner Mitbürger zu besuchen und ihre Einstellung kennenzulernen. Er war also in einer günstigen Lage, um zu berichten, was er gesehen und gehört hatte. Aber er wollte es mit der wünschenswerten Zurückhaltung tun. Allgemein gesprochen hat er sich bemüht, nicht mehr Dinge zu erzählen, als er sehen konnte, seinen Gefährten in der Pest nicht Gedanken unterzuschieben, die sie schließlich nicht unbedingt haben mußten, und nur die Texte zu benutzen, die der Zufall oder das Unglück ihm in die Hände spielten. Da er dazu berufen war, bei einer Art Verbrechen Zeugnis abzulegen, hat er eine gewisse Zurückhaltung bewahrt, wie es sich für einen Zeugen, der guten Willens ist, gehört. Aber gleichzeitig hat er, dem Gebot eines aufrichtigen Herzens folgend, entschieden die Partei der Opfer ergriffen und sich mit den Menschen, seinen Mitbürgern, in den einzigen, allen gemeinsamen, sicheren Wahrheiten vereinigen wollen, als da sind die Liebe, das Leid und die Verbannung. Deshalb gibt es nicht eine Angst seiner Mitbürger, die er nicht geteilt hätte, keine Lage, die nicht auch die seine gewesen wäre. Um ein getreuer Zeuge zu sein, mußte er hauptsächlich von den Taten, den Dokumenten und den Gerüchten sprechen. Aber was er persönlich zu sagen hatte, sein Warten, seine Prüfungen, mußte er verschweigen. Wenn er sich seines eigenen Erlebens bedient hat, so nur, um seine Mitbürger zu verstehen oder verständlich zu machen, um dem, was sie meistens nur verschwommen empfanden, eine möglichst deutliche Form zu geben. Offen gestanden hat ihn diese verstandesmäßige Anstrengung nicht viel Mühe gekostet. Wenn er versucht war, seine Geständnisse unmittelbar unter die tausend Stimmen der Pestkranken zu mischen, hielt ihn der Gedanke zurück, daß er kein einziges Leid trug, das nicht auch die anderen trugen, und daß dies in einer Welt, wo der Schmerz so oft einsam ist, ein Vorteil war. Er mußte wirklich für alle sprechen. Aber es gibt zumindest einen unter unseren Mitbürgern, für den Dr. Rieux nicht sprechen konnte. Es handelt sich um den, von dem Tarrou eines Tages zu Rieux gesagt hatte: «Sein einziges wahres Verbrechen besteht darin, daß er in seinem Herzen etwas gebilligt hat, das Kinder und Männer sterben ließ. Alles andere begreife ich, aber das muß ich ihm verzeihen.» Es ist richtig, wenn diese Chronik ihr Ende mit dem Menschen findet, der ein unwissendes, das heißt einsames Herz besaß. Als Dr. Rieux nämlich aus den breiten, lärmenden, festlichen Straßen hinausgelangt war und eben in Grands und Cottards Straße einbiegen wollte, wurde er von einer Polizeisperre aufgehalten. Darauf war er nicht gefaßt. Das ferne Getöse des Festes ließ dieses Viertel still erscheinen, und er stellte es sich ebenso verlassen wie stumm vor. Er zeigte seine Karte. «Unmöglich, Herr Doktor», sagte der Polizist. «Ein Verrückter schießt auf die Menge. Aber bleiben Sie hier, man wird Sie vielleicht brauchen können.» In diesem Augenblick sah Rieux Grand auf sich zukommen. Grand wußte auch nichts. Man ließ ihn nicht durch, aber er hatte erfahren, daß aus seinem Haus geschossen wurde. Von weitem sah man tatsächlich die von den letzten Strahlen einer wärmelosen Sonne vergoldete Vorderseite des Gebäudes. Darum herum hob sich ein großer, leerer Platz ab, der bis zum gegenüberliegenden Trottoir reichte. Auf der Straßenmitte gewahrte man deutlich einen Hut und ein Stück schmutzigen Stoffes. Rieux und Grand konnten ganz in der Ferne am anderen Straßenende eine gleiche Reihe Polizisten sehen wie die, die sie hier am Vorwärtsgehen hinderte, und dahinter einige Bewohner des Viertels, die hin und her eilten. Bei näherem Zusehen bemerkten sie auch Polizisten, die sich mit dem Revolver in der Hand in die dem Haus gegenüberliegenden Eingänge drückten. Alle Fensterladen waren geschlossen. Im zweiten Stock indessen schien einer der Laden halb ausgehängt. Auf der Straße herrschte vollständiges Schweigen. Es waren nur Musikfetzen zu hören, die aus dem Stadtinnern herüberdrangen. Plötzlich knallten aus einem der Gebäude gegenüber zwei Revolverschüsse. Und von dem aus den Fugen gegangenen Fensterladen sprangen kleine Stücke ab. Dann herrschte wieder Stille. Von weitem und nach dem Getümmel des Tages erschien Rieux das Ganze ein wenig unwirklich. «Das ist ja Cottards Fenster», sagte Grand plötzlich sehr aufgeregt. «Aber Cottard ist doch verschwunden!» «Warum wird geschossen?» fragte Rieux den Polizisten. «Man hält ihn ein Weilchen hin. Wir warten auf einen Wagen mit dem nötigen Material, weil er auf die Leute schießt, die zur Haustür hineinzugehen versuchen. Ein Polizist ist getroffen worden.» «Warum hat er geschossen?» «Das weiß man nicht. Die Leute vergnügten sich auf der Straße. Beim ersten Schuß haben sie nicht begriffen. Beim zweiten hat es Schreie gegeben, einer ist verwundet worden, und alle sind davongerannt. Sicher ein Verrückter!» Die Stille war wieder vollkommen, und die Minuten schienen zu schleichen. Plötzlich tauchte am anderen Straßenende ein Hund auf, der erste, den Rieux seit langer Zeit wieder erblickte, ein schmutziger Jagdhund, der wohl von seinem Herrn bis dahin verborgen worden war und nun die Mauern entlang trottete. Bei der Tür angelangt, zögerte er, setzte sich auf die Hinterbeine und verrenkte sich, um seine Flöhe zu jagen. Mehrere Polizisten pfiffen nach ihm. Er hob den Kopf und entschloß sich dann, langsam die Straße zu überqueren, um an dem Hut zu schnüffeln. Im selben Augenblick knallte aus dem zweiten Stock ein Schuß: der Hund überkugelte sich, bewegte heftig die Pfoten, kam endlich auf die Seite zu liegen und wurde von langen Zuckungen geschüttelt. Als Antwort zerfetzten fünf oder sechs Schüsse aus den gegenüberliegenden Türen den Fensterladen noch mehr. Dann wieder Stille. Die Sonne stand ein wenig tiefer, und Cottards Fenster geriet allmählich in den Schatten. Auf der Straße hinter dem Arzt knirschten leise die Bremsen. «Da sind sie», sagte der Polizist. In ihrem Rücken stiegen Polizisten aus, die Seile, eine Leiter und zwei längliche, in Öltuch gehüllte Pakete trugen. Sie gingen die Straße entlang, die um den Gebäudekomplex herumführte, der Grands Haus gegenüberlag. Einen Augenblick später entstand in den Eingängen dieser Häuser eine gewisse Aufregung, die man mehr erriet als sah. Dann warteten alle. Der Hund bewegte sich nicht mehr, aber er badete jetzt in einer dunklen Lache. Plötzlich begann aus den Fenstern der mit Polizisten besetzten Häuser ein Maschinengewehr zu knattern. Der Laden, auf den man immer noch zielte, entblätterte sich buchstäblich unter dem Kugelregen und ließ eine schwarze Fläche offen, in der Rieux und Grand von ihrem Platz aus nichts erkennen konnten. Als das Feuer aufhörte, setzte im Nebenhaus ein zweites Maschinengewehr unter einem anderen Winkel ein. Die Kugeln schlugen zweifellos in das Fensterviereck, da Backsteinsplitter von der Umrahmung absprangen. In der gleichen Sekunde rannten drei Polizisten über die Fahrbahn und verschwanden im Hausflur. Fast gleichzeitig stürzten drei andere hinein, und das Feuer des Maschinengewehrs hörte auf. Man wartete weiter. Im Haus ertönte zweimal fernes Knallen. Dann schwoll der Lärm an, und aus dem Haus sah man einen kleinen Mann in Hemdsärmeln auftauchen, der mehr getragen als geschleift wurde und unablässig schrie. Wie durch ein Wunder öffneten sich die geschlossenen Fensterladen in der Straße, und die Fenster wurden von Gaffern besetzt, während eine Menge Leute aus den Häusern trat und sich hinter die Sperren drückte. Einen Augenblick lang sah man den kleinen Mann mitten auf der Straße; er hatte die Füße endlich auf dem Boden, und Polizisten hielten seine Arme nach hinten. Er schrie. Ein Polizist trat auf ihn zu und versetzte ihm gemächlich mit einer gewissen Sorgfalt und der ganzen Kraft seiner Fäuste zwei Schläge. «Es ist Cottard», stammelte Grand. «Er ist verrückt geworden.» Cottard war umgefallen. Man sah noch, wie der Polizist dem am Boden liegenden Bündel einen wuchtigen Fußtritt gab. Dann geriet eine wirre Gruppe in Bewegung und kam auf den Arzt und seinen alten Freund zu. «Weitergehen!» sagte der Polizist. Rieux wandte die Augen ab, als die Gruppe an ihnen vorüberging. Grand und der Arzt entfernten sich in der erlöschenden Abenddämmerung. Als sei das Viertel durch dieses Ereignis aus seiner schläfrigen Betäubung aufgerüttelt worden, füllten sich die abgelegenen Straßen wieder mit dem Lärm einer freudetrunkenen Menge. Vor seiner Haustür verabschiedete sich Grand von Dr. Rieux. Er wollte arbeiten. Aber vor dem Hinaufgehen sagte er ihm noch, er habe Jeanne geschrieben und sei jetzt froh. Und zudem hatte er seinen Satz wieder angefangen: «Ich habe alle Adjektive weggelassen», sagte er. Und mit einem pfiffigen Lächeln hob er den Hut zu einem feierlichen Gruß. Aber Rieux dachte an Cottard, und das dumpfe Geräusch der Fäuste, die sein Gesicht zerschlugen, verfolgte ihn, während er sich zum Haus des alten Asthmatikers auf den Weg machte. Vielleicht war es noch bitterer, an einen schuldigen Menschen zu denken als an einen toten. Als Rieux zu seinem alten Patienten kam, hatte die Nacht den Himmel ganz verschlungen. Vom Zimmer aus war das ferne Brausen der Freiheit zu hören, und der Alte fuhr mit gewohntem Gleichmut fort, seine Erbsen umzufüllen. «Sie haben recht, daß sie sich vergnügen», sagte er. «Unser Herrgott hat vielerlei Kostgänger. Und was macht Ihr Kollege, Herr Doktor?» Sie hörten Explosionen, doch sie waren friedlich: Kinder ließen ihre Frösche krachen. «Er ist gestorben», sagte der Arzt, während er die rasselnde Brust abhorchte. «Ach!» sagte der Alte ein wenig betreten. «An der Pest», fügte Rieux hinzu. «Ja», gab der Alte nach einer Weile zu, «die Besten gehen. So ist das Leben. Aber er war ein Mensch, der wußte, was er wollte.» «Weshalb sagen Sie das ? » fragte der Arzt und versorgte sein Stethoskop. «Nur so. Seine Worte waren nie leeres Geschwätz. Er gefiel mir einfach. Aber es ist schon so. Die anderen sagen, , und wenig fehlt, und sie würden einen Orden verlangen. Aber was heißt das schon, die Pest? Es ist das Leben, sonst nichts.» «Machen Sie regelmäßig Ihre Dämpfe.» «Oh! Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich halte es noch lange aus und werde sie alle sterben sehen. Ich verstehe es, zu leben, ich.» In der Ferne antwortete ihm ein Freudengeheul. Der Arzt blieb mitten im Zimmer stehen. «Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich auf die Terrasse ginge?» «Aber nein! Sie möchten sie von oben sehen, was? Wie Sie wollen. Aber sie sind doch immer die gleichen.» Rieux ging zur Treppe. «Sagen Sie, Herr Doktor, stimmt es, daß sie den Toten der Pest ein Denkmal errichten wollen?» «Die Zeitungen sagen es. Eine Säule oder eine Gedenktafel.» «Das dachte ich mir. Und es wird Reden geben.» Der Alte lachte ein gurgelndes Lachen. «Ich höre sie jetzt schon: und dann werden sie zum Essen gehen.» Rieux stieg bereits die Treppe hinauf. Der weite, kalte Himmel schimmerte über den Häusern, und hinter den Hügeln wurden die Sterne hart wie Kieselsteine. Diese Nacht unterschied sich nicht wesentlich von jener andern, da Tarrou und er auf diese Terrasse gekommen waren, um die Pest zu vergessen. Aber heute rauschte das Meer lauter gegen die Klippen wie damals. Die Luft war unbeweglich und leicht, frei von dem Salzgeruch, den der laue Herbstwind mit sich trug. Doch das Brausen der Stadt brandete immer noch wellengleich gegen den Fuß der Terrassen. Aber dies war die Nacht der Befreiung, nicht der Auflehnung. In der Ferne ließ ein rötlich-schwarzer Widerschein die Boulevards und die beleuchteten Plätze erraten. In der nun freien Nacht fiel jede Hemmung des Verlangens, und sein Grollen war es, das bis zu Rieux drang. Aus dem dunklen Hafen stiegen die ersten Raketen der offiziellen Lustbarkeiten empor. Die Stadt begrüßte sie mit einem langen, gedämpften Ausruf. Cottard, Tarrou, seine Frau, alle jene, die Rieux geliebt und verloren hatte, waren vergessen, ob tot oder schuldig. Der Alte hatte recht, die Menschen blieben sich immer gleich. Aber das war ihre Kraft und ihre Unschuld, und hierin fühlte Rieux sich ihnen über allen Schmerz hinweg verwandt. Damals, inmitten des Jubels, der lange am Fuß der Terrassen widerhallte und desto lauter und anhaltender wurde, je zahlreicher die bunten Sträuße am Himmel aufleuchteten, beschloß Dr. Rieux, den Bericht zu verfassen, der hier zu Ende geht. Denn er wollte nicht zu denen gehören, die schweigen, er wollte vielmehr für diese Pestkranken Zeugnis ablegen und wenigstens ein Zeichen zur Erinnerung an die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit und Gewalt hinterlassen; er wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. Und doch wußte er, daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein. Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wußte, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.

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