Albert Camus
Die Pest
Roman
Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes
durch etwas, das es nicht gibt.
(Daniel Defoe)
1
Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194 . in Oran abgespielt. Man
war allgemein der Ansicht, sie gehörten ihres etwas ungewöhnlichen Charakters wegen nicht dorthin.
Auf den ersten Blick ist Oran nämlich eine ganz gewöhnliche Stadt, nichts mehr und nichts weniger als
eine französische Präfektur an der algerischen Küste.
Zugegeben, die Stadt selber ist häßlich. Sie sieht so gesetzt aus, daß man einige Zeit braucht, bis man
merkt, was sie von so vielen anderen Handelsstädten auf dem ganzen Erdball unterscheidet. Wie soll
man auch eine Stadt anschaulich beschreiben, die keine Tauben, keine Bäume und keine Gärten besitzt,
in der weder Flügelschlag noch Blätterrauschen zu hören ist? Ein farblos-nüchterner Ort! Einzig am
Himmel ist der Wechsel der Jahreszeiten abzulesen. Den Frühling erkennt man nur an der veränderten
Luft oder an den Körben voll Blumen, die kleine Verkäufer in der Umgebung holen; der Frühling wird
hier auf dem Markt verkauft. Im Sommer versengt die Sonne die ausgetrockneten Häuser und bedeckt
die Mauern mit grauer Asche; dann ist das Leben nur noch im Schatten der geschlossenen Fensterladen
möglich. Im Herbst dagegen überschwemmt eine Flut von Schlamm die Stadt. Erst im Winter kommen
die schönen Tage.
Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner
arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben. In unserem Städtchen vermengt sich dies alles und geschieht
mit der gleichen Maßlosigkeit, doch ohne innere Anteilnahme. Das mag eine Folge des Klimas sein und
bedeutet, daß man sich langweilt und sich bemüht, Gewohnheiten anzunehmen. Unsere Mitbürger
arbeiten viel, aber nur, um reich zu werden. Sie befassen sich hauptsächlich mit Handel und dem, was sie
Geschäfte machen nennen. Natürlich gewinnen sie auch den einfachen Freuden wie Frauen, Kino und
Meerbädern Geschmack ab. Aber sie sparen das Vergnügen sehr vernünftig für den Samstagabend und
den Sonntag auf und versuchen, während der übrigen Woche viel Geld zu verdienen. Wenn sie am
Abend aus ihrem Geschäft kommen, versammeln sie sich zu bestimmten Stunden im Café, spazieren auf
demselben Boulevard oder setzen sich auf ihren Balkon. Die Wünsche und Begehren der Jüngeren sind
heftig und kurz, während die Laster der Älteren sich auf die Zusammenkünfte der fanatischen
Kugelspieler beschränken, auf die Vereinsbankette und die Spielclubs, in denen, dem Glück der Karten
vertrauend, hohe Einsätze gewagt werden.
Man wird zweifellos entgegnen, daß unsere Stadt darin keine Ausnahme bildet und daß eigentlich alle
unsere Zeitgenossen so sind. Gewiß erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens
bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Café und mit
Geschwätz vertun. Aber es gibt doch Länder und Städte, wo die Menschen von Zeit zu Zeit eine Ahnung
von etwas anderem haben. Gewöhnlich ändert sich ihr Leben deswegen nicht. Nur hat sie die Ahnung
wenigstens einmal gestreift, und damit ist schon etwas gewonnen. Oran dagegen ist offensichtlich eine
Stadt ohne Ahnungen, das heißt eine ganz moderne Stadt. Daher ist es nicht nötig, die Art, wie man sich
bei uns liebt, näher zu beschreiben. Entweder verzehren sich Männer und Frauen hastig im sogenannten
Liebesakt oder sie geraten in die Gleichförmigkeit eines langen Lebens zu zweit.
Zwischen diesen Extremen gibt es nur selten einen Mittelweg. Das ist ebenfalls nichts Besonderes. Wie
anderswo ist man auch in Oran aus Zeitmangel und Gedankenlosigkeit gezwungen, sich zu lieben, ohne
es zu wissen.
Eigenartig ist schon, wie schwierig das Sterben in unserer Stadt sein kann. Schwierig ist übrigens nicht
das rechte Wort, ungemütlich wäre treffender. Krank sein ist nie angenehm; aber es gibt Städte und
Länder, die einem in der Krankheit beistehen, wo man sich gewissermaßen gehenlassen kann. Ein
Kranker braucht Freundlichkeit, er möchte sich an irgend etwas halten können. In Oran jedoch verlangt
alles Gesundheit; die Maßlosigkeit des Klimas, die Wichtigkeit der Geschäfte, die abgeschlossen werden,
die Nichtigkeit der Umwelt, das rasche Hereinbrechen der Dämmerung und die Art der Vergnügungen.
Ein Kranker ist hier sehr allein. Nun denke man gar an den Sterbenden. Er ist gefangen hinter Hunderten
von Mauern, die vor Hitze bersten, während in derselben Minute eine ganze Bevölkerung am Telefon
oder in den Cafés von Tratten, Frachtbriefen und Diskonto spricht. Dann wird man verstehen, wie
ungemütlich der Tod, auch der moderne Tod sein kann, wenn er einen an solch gefühllosem Ort ereilt.
Diese wenigen Angaben genügen vielleicht, um ein Bild unserer Stadt zu entwerfen. Freilich darf man
auch nichts übertreiben. Hervorzuheben war das geistlose Gesicht der Stadt und des Lebens. Aber sobald
man Gewohnheiten angenommen hat, verbringt man seine Tage mühelos. Da unsere Stadt die
Gewohnheiten besonders unterstützt, ist nur zu sagen, daß alles zum besten bestellt ist. Von diesem
Gesichtspunkt aus betrachtet ist das Leben sicher nicht sehr fesselnd. Indessen ist bei uns wenigstens
Unordnung unbekannt. Und unsere freimütige, ansprechende und arbeitsame Bevölkerung hat bei den
Fremden immer die gebührende Achtung gefunden. Diese reiz-, pflanzen- und seelenlose Stadt wirkt mit
der Zeit ausruhend, und zuletzt schläft man ein. Immerhin muß gesagt werden, daß sie sich in eine
unvergleichliche Landschaft eingenistet hat: inmitten einer nackten Hochebene, umgeben von
leuchtenden Hügeln, an einer Bucht von vollkommener Harmonie. Man kann nur bedauern, daß sie mit
dem Rücken gegen diese Bucht gebaut wurde; man muß das Meer suchen, wenn man es sehen will.
Jetzt wird man ohne weiteres zugeben, daß unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse
vorbereitet waren, die sich im Frühling dieses Jahres abspielten. Später begriffen wir, daß es Vorboten
der ernsten Begebenheiten waren, von denen wir hier berichten wollen; sie werden den einen ganz
natürlich, den anderen hingegen unwahrscheinlich vorkommen. Aber schließlich kann sich ein Chronist
nicht auf solche Widersprüche einlassen. Seine Aufgabe ist es einzig, zu sagen: «Das ist geschehen»,
wenn er weiß, daß es wirklich geschehen ist, daß es das Leben eines ganzen Volkes anging und es also
Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit des Gesagten ermessen können.
Überdies hätte der Erzähler, den man noch früh genug kennenlernen wird, kaum das Recht auf ein
solches Unterfangen, wenn ihm der Zufall nicht erlaubt hätte, zahlreiche Aussagen anzuhören, und wenn
ihn nicht der Lauf der Dinge in alles verwickelt hätte, was er zu berichten trachtet. Das berechtigt ihn zu
der Arbeit des Geschichtsschreibers. Ein Geschichtsschreiber, auch der bloße Liebhaber dieser Kunst,
besitzt natürlich immer Dokumente. So hat denn auch der Erzähler dieser Geschichte die seinen:
zunächst sein eigenes Zeugnis, dann dasjenige der anderen, da er dank seiner Stellung der Vertraute aller
Beteiligten wurde, und schließlich die Schriftstücke, die ihm in die Hände fielen. Er hat die Absicht, sie
zu verwenden, wann es ihn gut dünkt und wie es ihm gefällt. Außerdem hat er die Absicht. . . Aber
vielleicht ist es Zeit, mit den Erläuterungen und den vorsichtigen Umschreibungen aufzuhören und die
eigentliche Erzählung zu beginnen. Die Darstellung der ersten Tage verlangt Genauigkeit.
Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem
Flur über eine tote Ratte. Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die
Treppe hinunter. Aber auf der Straße fiel ihm ein, die Ratte sei dort oben nicht recht am Platz, und er
kehrte zurück, um den Hauswart zu benachrichtigen. An der Reaktion des alten Herrn Michel merkte er
erst, wie ungewöhnlich seine Entdeckung war. Ihm war die Gegenwart dieser toten Ratte nur seltsam
vorgekommen, während sie für den Hauswart einen Skandal bedeutete. Seine Haltung war übrigens
eindeutig: es gab keine Ratten im Haus. Der Arzt konnte ihm lange versichern, es liege eine auf dem Flur
des ersten Stocks, und wahrscheinlich eine tote, Herrn Michels Überzeugung blieb unerschüttert. Es gab
keine Ratten im Haus, sie mußten hereingebracht worden sein. Es konnte sich nur um einen Bubenstreich
handeln.
Am selben Abend stand Bernard Rieux unten im Hauseingang und suchte seine Schlüssel, bevor er in
seine Wohnung hinaufstieg. Da sah er aus dem Dunkel des Gangs eine dicke Ratte auftauchen, mit
feuchtem Fell und unsicherem Gang. Das Tier blieb stehen, schien sein Gleichgewicht zu suchen,
wendete sich gegen den Arzt, blieb wieder stehen, drehte sich mit einem leisen Schrei im Kreis und fiel
schließlich zu Boden, wobei aus den halbgeöffneten Lefzen Blut quoll. Der Arzt betrachtete es einen
Augenblick und ging hinauf.
Er dachte nicht an die Ratte. Das ausgeworfene Blut erinnerte ihn an seine größte Sorge. Seine Frau, die
seit einem Jahr krank war, sollte am nächsten Tag in einen Kurort in den Bergen verreisen. Er fand sie in
ihrem Zimmer im Bett, wie er es ihr vorgeschrieben hatte. So bereitete sie sich auf die anstrengende
Reise vor. Sie lächelte.
«Ich fühle mich sehr wohl», sagte sie.
Der Arzt schaute das Gesicht an, das im Schein der Nachttischlampe ihm zugewendet war. Trotz seiner
dreißig Jahre und der Spuren der Krankheit war dieses Antlitz für Rieux noch immer das der Jugend,
vielleicht dieses Lächelns wegen, das alles andere vergessen ließ.
«Schlaf, wenn du kannst», sagte er. «Die Schwester kommt um elf Uhr, ich werde euch an den
Mittagszug bringen.»
Er küßte ihre etwas feuchte Stirn. Das Lächeln begleitete ihn bis zur Tür.
Am nächsten Tag, dem 17. April, um acht Uhr morgens, hielt der Hauswart den Arzt beim Vorübergehen
an und beklagte sich, Lausbuben hätten drei tote Ratten mitten in den Gang gelegt. Man habe die Tiere
mit der Kehrschaufel aufnehmen müssen, denn sie seien voll Blut. Der Hauswart hatte eine Zeitlang
unter der Tür gestanden, die Ratten in der Hand, und erwartet, die Schuldigen würden sich durch
irgendeine bissige Bemerkung verraten. Aber nichts war geschehen.
«Na, die werde ich schon erwischen», sagte Herr Michel.
Beunruhigt beschloß Rieux, seine Runde in den Außenquartieren zu beginnen, wo seine ärmsten
Patienten wohnten. Die Müllabfuhr fand dort erst spät statt, und sein Auto streifte auf den geraden,
staubigen Straßen dieses Viertels die Abfalleimer, die am Rand des Trottoirs standen. In einer Straße, die
der Arzt so durchfuhr, zählte er ein Dutzend Ratten, die auf die Gemüseabfälle und die schmutzigen
Lumpen geworfen worden waren.
Sein erster Patient lag im Bett, in einem Raum, der auf die Straße ging und als Schlaf- und Eßzimmer
zugleich diente. Er war ein alter Spanier mit einem harten, zerfurchten Gesicht. Zwei Töpfe voll Erbsen
standen vor ihm auf der Decke. Als der Arzt eintrat, saß der langjährige Asthmatiker halb aufgerichtet im
Bett und warf sich eben nach hinten, um seinen rasselnden Atem wiederzufinden. Seine Frau brachte ein
Becken.
«Ha, Herr Doktor», sagte er während der Einspritzung, «sie kommen, haben Sie's gesehen?»
«Ja», sagte die Frau, «der Nachbar hat drei aufgelesen.»
Der Alte rieb sich die Hände.
«Sie kommen, man sieht sie in allen Kehrichteimern; das macht der Hunger!»
Rieux konnte nachher mühelos feststellen, daß das ganze Viertel von den Ratten sprach. Als er seine
Besuche beendet hatte, kehrte er nach Hause zurück.
«Es ist ein Telegramm für Sie oben», sagte Herr Michel.
Der Arzt fragte ihn, ob er noch mehr Ratten gesehen habe.
«O nein», sagte der Hauswart, «ich passe auf, verstehen Sie. So getrauen sich diese Schweine nicht.»
Das Telegramm enthielt die Nachricht, daß Rieux' Mutter am folgenden Tag ankommen werde, um
während der Abwesenheit der Kranken ihrem Sohn den Haushalt zu führen. Als Rieux eintrat, war die
Krankenschwester schon da. Seine Frau stand im Reisekleid vor ihm; die Schminke verlieh ihrem
Gesicht einen Anflug von Farbe. Er lächelte ihr zu: «Gut», sagte er, «sehr gut.»
Kurz darauf brachte er sie zur Bahn und setzte sie in den Schlafwagen. Sie betrachtete das Abteil.
«Es ist zu teuer für uns, nicht wahr?»
«Es muß sein», sagte Rieux.
«Was ist das für eine Geschichte mit den Ratten?»
«Ich weiß nicht. Es ist sehr merkwürdig, aber es wird vorbeigehen.»
Dann sagte er ihr schnell, daß er sie um Verzeihung bitte, er hätte auf sie aufpassen sollen und habe sie
sehr vernachlässigt. Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber er fügte hinzu:
«Wenn du zurückkommst, wird alles besser gehen. Wir werden neu anfangen.»
«Ja», sagte sie mit glänzenden Augen, «neu anfangen.»
Einen Augenblick später drehte sie ihm den Rücken zu und schaute zum Fenster hinaus. Auf dem
Bahnsteig drängten und stießen sich die Leute. Man hörte das Zischen der Lokomotive. Er rief seine Frau
bei ihrem Vornamen; als sie sich umwandte, sah er, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war.
«Nicht doch», sagte er sanft.
Durch die Tränen hindurch erschien wieder das Lächeln, allerdings war es noch ein wenig verkrampft.
Sie atmete tief.
«Geh nur, es wird alles gut werden.»
Er preßte sie an sich. Vom Bahnsteig aus sah er dann nur noch ihr Lächeln hinter den Scheiben.
«Ich bitte dich, paß auf dich auf», sagte er.
Aber sie konnte ihn nicht hören.
Beim Ausgang stieß Rieux auf Herrn Othon, den Untersuchungsrichter, der seinen kleinen Sohn an der
Hand führte. Der Arzt fragte ihn, ob er verreise. Herr Othon, der mit seiner großen dunklen Gestalt halb
einem Mann von Welt, wie man früher sagte, halb einem Leichenbeschauer glich, antwortete
liebenswürdig, aber kurz: «Ich erwarte Frau Othon, die meinen Angehörigen ihre Aufwartung gemacht
hat.»
Die Lokomotive pfiff.
«Die Ratten ...» sagte der Richter.
Rieux machte eine Bewegung gegen den Zug, kehrte sich dann aber dem Ausgang zu.
«Ja», sagte er, «das hat nichts zu bedeuten.»
Das einzige, was ihm von diesem Augenblick haftenblieb, war das Vorbeigehen eines Arbeiters, der eine
Kiste voll toter Ratten unter dem Arm trug.
Am Nachmittag des gleichen Tages empfing Rieux zu Beginn seiner Sprechstunde einen jungen Mann,
von dem es hieß, er sei Journalist und sei am Morgen schon einmal dagewesen. Er hieß Raymond
Rambert, war klein, hatte breite Schultern, ein entschlossenes Gesicht, helle, gescheite Augen, trug
Sportkleidung und schien sich im Leben wohl zu fühlen. Er ging geradewegs auf sein Ziel los. Im
Auftrag einer großen Pariser Zeitung untersuchte er die Lebensbedingungen der Araber und verlangte
Auskunft über ihren Gesundheitszustand. Rieux sagte ihm, der sei nicht gut. Aber bevor er sich näher
ausließ, wollte er wissen, ob der Journalist die Wahrheit schreiben dürfe.
«Natürlich», sagte dieser.
«Ich meine, dürfen Sie selbst vernichtend urteilen?»
«Nein, das freilich nicht. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.»
Rieux erwiderte sanft, gewiß wäre eine solche Verurteilung unbegründet. Er habe mit dieser Frage nur
erfahren wollen, ob Rambert rückhaltlos Bericht erstatten könne.
«Für mich gibt es nur eine bedingungslose Stellungnahme. Ich kann also Ihre Erklärungen nicht mit
Auskünften unterstützen.»
«So spricht Saint-Just», sagte der Journalist lächelnd.
Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug
habe von der Welt, in der er lebe, der seine Mitmenschen jedoch liebe und entschlossen sei, für seine
Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. Rambert zog die Schultern hoch und blickte den
Arzt an.
«Ich glaube, ich verstehe Sie», sagte er endlich und erhob sich.
Der Doktor begleitete ihn zur Tür.
«Ich danke Ihnen, daß Sie die Sache so auffassen.»
Rambert schien ungeduldig.
«Ja», sagte er, «ich verstehe Sie, entschuldigen Sie die Störung.»
Der Arzt gab ihm die Hand und bemerkte, er könnte einen eigenartigen Bericht schreiben über die
Unzahl toter Ratten, die man gegenwärtig in der Stadt finde.
«Ach!» rief Rambert. «Das interessiert mich.»
Als Rieux um 17 Uhr ausging, um nochmals Krankenbesuche zu machen, traf er auf der Treppe einen
noch jungen Mann von schwerfälliger Gestalt, mit einem wuchtigen, hageren Gesicht und buschigen
Brauen. Er hatte ihn manchmal bei den spanischen Tänzern getroffen, die im obersten Stock seines
Hauses wohnten. Herr Jean Tarrou rauchte bedächtig eine Zigarette und betrachtete die letzten
Zuckungen einer Ratte, die zu seinen Füßen auf einer Treppenstufe verendete. Er erhob seine ruhigen
und eindringlichen grauen Augen zu dem Arzt, grüßte und fügte hinzu, daß dieses Auftauchen der Ratten
etwas Merkwürdiges sei.
«Ja», sagte Rieux, «es wird schon langsam lästig.»
«Nur in einer Hinsicht, Herr Doktor, nur in einer Hinsicht. Weil wir noch nie so etwas gesehen haben.
Aber ich finde es interessant, wirklich, geradezu interessant.»
Tarrou strich sich die Haare zurück, schaute wieder die jetzt unbewegliche Ratte an, und sagte lächelnd
zu Rieux: «Aber schließlich geht es vor allem den Hauswart an, Herr Doktor.»
Den Hauswart fand der Arzt neben der Haustür an die Mauer gelehnt. Sein sonst hochrotes Gesicht
schien eingefallen.
«Ja, ich weiß», sagte der alte Michel zu Rieux, als er ihm die neue Entdeckung mitteilte. «Jetzt findet
man sie zu zweien und dreien. Aber in den anderen Häusern ist es genauso.»
Er schien niedergeschlagen und sorgenvoll. Unwillkürlich rieb er sich den Hals. Rieux fragte ihn, wie es
ihm gehe. Der Hauswart konnte nicht sagen, es gehe ausgesprochen schlecht. Nur fühlte er sich nicht
wohl. Seiner Meinung nach kam es von seiner Gemütsverfassung. Diese Rattengeschichte hatte ihn stark
mitgenommen, sobald die Tiere verschwunden seien, werde es wieder viel besser gehen. Aber als am
nächsten Morgen, dem 18. April, der Doktor seine Mutter vom Bahnhof nach Hause brachte, sah Herr
Michel noch abgezehrter aus: vom Keller bis zum Estrich lagen etwa zehn Ratten. Nur die Mutter des
Arztes wunderte sich nicht über diese Nachricht.
«Solche Dinge kommen eben vor!»
Sie war eine kluge Frau mit silbernem Haar und schwarzen, sanften Augen.
«Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen, Bernard», sagte sie. «Dagegen vermögen die Ratten nichts.»
Er war der gleichen Meinung; mit ihr schien immer alles leicht.
Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er
schon von den Ratten gehört, die in großer Zahl ins Freie kamen und starben? Direktor Mercier hatte
davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig
Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wußte es nicht, aber er
war dafür, daß der Entrattungsdienst einschreite.
«Ja», sagte Mercier, «mit einem schriftlichen Befehl. Wenn du meinst, es sei der Mühe wert, kann ich
versuchen, einen zu erlangen.»
«Es ist schon der Mühe wert», sagte Rieux.
Seine Scheuerfrau hatte ihm eben erzählt, daß in der großen Fabrik, wo ihr Mann arbeitete, ein paar
hundert tote Ratten zusammengelesen worden waren.
Jedenfalls begannen unsere Mitbürger ungefähr zu dieser Zeit unruhig zu werden. Denn vom 18. April an
wimmelte es in den Fabriken und Lagerhäusern von Hunderten von Rattenleichen. Manchmal mußten die
Tiere getötet werden, wenn ihr Todeskampf zu lange dauerte. Aber von den Außenquartieren bis ins
Stadtinnere, überall, wohin Dr. Rieux kam, überall, wo unsere Mitbürger sich versammelten, stieß man
auf die Ratten, die zu Haufen in den Abfalleimern oder in langen Reihen in den Straßengräben lagen.
Nun bemächtigten sich auch die Abendzeitungen der Geschichte und fragten, ob die Behörden, ja oder
nein, gewillt seien zu handeln und was für Sofortmaßnahmen ins Auge gefaßt worden seien, um die
Bevölkerung vor dieser ekelhaften Invasion zu schützen. Die Stadtbehörde hatte gar nichts überlegt und
nichts ins Auge gefaßt, berief jedoch eine Ratsversammlung ein. Dem Entrattungsdienst wurde der
Befehl erteilt, die toten Ratten jeden Morgen bei Tagesanbruch einzusammeln.
Dann sollten zwei Wagen dieser Dienststelle die Tiere in die Abfallverbrennungsanstalt fahren.
Aber in den folgenden Tagen verschlimmerte sich die Lage. Die Zahl der eingesammelten Nagetiere
nahm ständig zu, und die Ernte war jeden Morgen reicher. Vom vierten Tag an kamen die Ratten in
Gruppen heraus und starben. Aus den Verschlagen, den Untergeschossen, den Kellern, den Kloaken
stiegen sie in langen, wankenden Reihen hervor, taumelten im Licht, drehten sich um sich selber und
verendeten in der Nähe der Menschen. Nachts hörte man in den Gängen und den engen Gassen deutlich
ihren leisen Todesschrei. Am Morgen fand man sie in den Straßengräben der Vorstädte ausgestreckt, ein
bißchen Blut auf der spitzen Schnauze, die einen aufgedunsen und faulig, die andern steif, mit
gesträubten Schnauzhaaren. In der Stadt selber traf man sie in kleinen Haufen auf dem Flur oder in den
Höfen. Manchmal starben sie auch einzeln in den Vorräumen der Verwaltungsgebäude, in den
Schulhöfen, manchmal auf der Terrasse der Cafés. Unsere entsetzten Mitbürger entdeckten sie an den
belebtesten Orten der Stadt. Der Waffenplatz, die Boulevards, die Aussichtsstraße dem Meer entlang
waren ab und zu verunziert. Bei Morgengrauen wurde die Stadt von den toten Tieren gesäubert, im Laufe
des Tages kamen sie langsam wieder, zahlreicher und zahlreicher. Manch ein nächtlicher Spaziergänger
spürte unter seinem Fuß plötzlich die weiche Masse einer eben verendeten Ratte. Es war, als wolle die
Erde, auf der unsere Häuser standen, sich selber von der Last ihrer Säfte befreien, so daß die Eiterbeulen,
die sie bisher innerlich geplagt hatten, nun aufbrachen. Man stelle sich das Entsetzen in unserer kleinen
Stadt vor, die bis jetzt so ruhig gelebt hatte und nun in wenigen Tagen völlig aufgewühlt wurde, einem
gesunden Menschen gleich, dessen dickes Blut plötzlich in Aufruhr gerät!
Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc (Informationen, Nachweise, Auskünfte auf allen
Gebieten) in ihrer Rundfunksendung «Unentgeltliche Nachrichten» bekanntgab, daß am 25. April allein
6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schauspiel, das
die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. Bis jetzt hatte man sich über
einen etwas widerwärtigen Zwischenfall beklagt. Nun merkte man, daß das Geschehen, dessen ganze
Tragweite noch nicht abzusehen war und dessen Ursprung unerklärlich blieb, etwas Bedrohliches hatte.
Nur der alte, asthmatische Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit kindlicher Freude:
«Sie kommen, sie kommen!»
Am 28. April indessen gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt, und in der
Stadt erreichte die Beklemmung ihren Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man
klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken,
sich dorthin zurückzuziehen. Aber am nächsten Tag verkündete die Agentur, die Erscheinung habe
unvermutet aufgehört, und der Entrattungsdienst habe nur noch eine ganz unbedeutende Anzahl toter
Ratten eingesammelt.
Am gleichen Mittag jedoch, als Dr. Rieux vor seinem Haus vorfuhr, bemerkte er den Hauswart, der an
der Straßenecke mühsam vorwärtstaumelte, den Kopf gesenkt hielt und wie eine Marionette Arme und
Beine spreizte. Der alte Mann stützte sich auf einen Priester, den der Arzt kannte. Es war Pater Paneloux,
ein gelehrter, militanter Jesuit, den er ein paarmal getroffen hatte, und der in unserer Stadt sogar von den
religiös Gleichgültigen sehr geschätzt wurde. Rieux wartete auf die beiden. Der alte Michel hatte
glänzende Augen und einen pfeifenden Atem. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und einen Augenblick an
die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen im Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten
hatten ihn gezwungen, umzukehren und die Hilfe von Pater Paneloux zu beanspruchen.
«Es sind Geschwülste», sagte er. «Ich werde mich wohl überanstrengt haben.»
Der Arzt streckte den Arm aus dem Wagen und betastete Michels Hals; dort hatte sich ein holziger
Knoten gebildet. «Gehen Sie zu Bett, messen Sie die Temperatur, ich komme heute nachmittag vorbei.»
Als der Hauswart gegangen war, fragte Rieux den Pater, was er von dieser Rattengeschichte halte.
«Oh», sagte der Pater, «es wird eine Epidemie sein», und seine Augen lächelten hinter den runden
Brillengläsern.
Nach dem Mittagessen, als Rieux nochmals das Telegramm des Sanatoriums las, das die Ankunft seiner
Frau bestätigte, klingelte das Telefon. Es war ein alter Patient, ein Angestellter im Rathaus, der ihn
anrief. Er hatte lange unter einer Aortenstenose gelitten, und da er arm war, hatte Rieux ihn unentgeltlich
behandelt.
«Ja», sagte er, «Sie erinnern sich an mich. Aber es handelt sich um etwas anderes. Kommen Sie schnell,
meinem Nachbarn ist etwas zugestoßen.»
Er war ganz außer Atem. Rieux dachte an den Hauswart und beschloß, später nach ihm zu sehen. Ein
paar Minuten darauf war er in einem Außenquartier und betrat ein niedriges Haus in der Rue Faidherbe.
Im kühlen, übelriechenden Treppenhaus kam ihm der Angestellte Joseph Grand entgegen. Er war in den
Fünfzig, groß und gebeugt, und trug einen gelben Schnurrbart. Er hatte schmale Schultern und eine
hagere Gestalt.
«Es geht besser», sagte er, als er vor Rieux stand, «aber ich glaubte, er komme nicht davon.»
Er schneuzte sich. Im zweiten und obersten Stock las Rieux auf der linken Tür die mit roter Kreide
geschriebene Inschrift:
Sie traten ein. Das Seil war über einem
umgeworfenen Stuhl befestigt, der Tisch in eine Ecke gestoßen. Aber der Strick baumelte ins Leere.
«Ich habe ihn noch rechtzeitig abgehängt», sagte Grand, der immer nach Worten zu ringen schien,
obwohl er eine sehr einfache Sprache gebrauchte. «Ich wollte eben ausgehen, da habe ich Lärm gehört.
Als ich die Aufschrift sah, glaubte ich natürlich, es sei ein schlechter Witz. Aber er hat so merkwürdig
gestöhnt, geradezu unheimlich.» Er kratzte sich am Kopf: «Meiner Meinung nach muß der Vorgang
schmerzhaft sein. Ich bin natürlich hineingegangen.»
Sie hatten eine Tür aufgestoßen und befanden sich nun in einem hellen, ärmlich möblierten Zimmer. Ein
kleiner, rundlicher Mann lag in einem Eisenbett. Er atmete schwer und schaute sie aus blutunterlaufenen
Augen an. Der Doktor blieb stehen. Es war ihm, als höre er zwischen den Atemzügen das leise Pfeifen
von Ratten. Aber nichts bewegte sich in den Ecken. Rieux trat ans Bett. Der Mann war nicht zu tief
gefallen und nicht zu heftig, so daß kein Wirbel gebrochen war. Erstickungsanzeichen waren allerdings
vorhanden. Man würde ihn röntgen müssen. Der Arzt gab ihm eine Spritze mit Kampferöl und sagte, in
ein paar Tagen werde alles wieder in Ordnung sein.
«Danke, Herr Doktor», sagte der Mann mit erloschener Stimme.
Rieux fragte Grand, ob er die Polizei benachrichtigt habe; betreten erwiderte der Angestellte: «Nein, o
nein! Ich dachte, es sei am wichtigsten ...»
«Selbstverständlich», unterbrach ihn Rieux. «Ich werde es also besorgen.»
Aber in diesem Augenblick wurde der Kranke unruhig, richtete sich im Bett auf und beteuerte, es gehe
ihm gut, es sei nicht der Mühe wert.
«Beruhigen Sie sich», sagte Rieux. «Es hat keine Bedeutung, glauben Sie mir; nur bin ich verpflichtet,
meine Anzeige zu machen.»
«Ach!» stammelte der Mann.
Er warf sich in die Kissen und schluchzte. Grand, der seit einiger Zeit an seinem Schnurrbart
herumgedreht hatte, trat zu ihm.
«Aber, aber, Herr Cottard», sagte er. «Sie müssen das begreifen. Der Herr Doktor ist sozusagen
verantwortlich. Wenn Sie zum Beispiel Lust bekämen, nochmals anzufangen ...»
Cottard jedoch erklärte unter Tränen, er fange nicht wieder an, es sei ein Augenblick der Verzweiflung
gewesen, und er wolle nur in Frieden gelassen werden. Rieux schrieb ein Rezept.
«Gut», sagte er, «lassen wir's sein. Ich komme in zwei, drei Tagen wieder. Aber machen Sie keine
Dummheiten.» Im Flur sagte er zu Grand, er müsse die Anzeige erstatten, werde aber den Polizeibeamten
bitten, seine Untersuchung erst zwei Tage später vorzunehmen.
«Heute nacht muß man ihn überwachen. Hat er Verwandte?»
«Nicht daß ich wüßte. Doch kann ich selber bei ihm bleiben.»
Er nickte.
«Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich ihn kenne; aber man muß sich gegenseitig helfen.»
In den Gängen schaute Rieux unwillkürlich in alle Winkel und fragte Grand, ob die Ratten gänzlich aus
seinem Viertel verschwunden seien. Der Angestellte wußte es nicht. Er habe von dieser Geschichte
gehört, aber er gebe nicht viel auf die Gerüchte in dieser Gegend.
«Ich habe andere Sorgen», sagte er.
Rieux gab ihm schon die Hand. Er wollte noch schnell den Hauswart besuchen und dann seiner Frau
schreiben.
Die Verkäufer der Abendzeitungen schrien aus, die Ratteninvasion sei abgestoppt. Aber als Rieux zu
seinem Kranken kam, lehnte sich dieser gerade aus dem Bett, die Hand auf den Leib gepreßt, die andere
am Hals, und erbrach unter Krämpfen helle, rötliche Galle in einen Abfalleimer. Außer Atem nach der
großen Anstrengung legte er sich endlich ins Bett zurück. Das Thermometer zeigte 39,5 Grad; die
Halsdrüse und die Glieder waren geschwollen. An seiner Hüfte breiteten sich zwei schwärzliche Flecken
aus. Er klagte über innere Schmerzen.
«Es brennt», sagte er, «der Schweinehund brennt.»
Wegen seiner schwarzen, geschwollenen Zunge konnte er nur lallen. Seine hervorquellenden, vor
Kopfschmerzen tränenden Augen waren auf den Arzt geheftet. Seine Frau blickte Rieux voll Angst an,
aber der Arzt blieb stumm.
«Herr Doktor», fragte sie, «was hat er?»
«Es kann alles mögliche sein. Ich kann noch nichts Bestimmtes sagen. Bis heute abend Diät und
Abführen. Er soll viel trinken.»
Das war es eben: der Hauswart kam fast um vor Durst.
Zu Hause rief Rieux seinen Kollegen Richard an, einen der bekanntesten Ärzte der Stadt.
«Nein», sagte dieser, «ich habe nichts Besonderes gesehen.»
«Kein Fieber mit lokalen Entzündungen?»
«Ach doch, zwei Fälle mit stark entzündeten Lymphdrüsen.»
«Abnorm entzündet?»
«Na», meinte Richard, «was heißt schon normal ...»
Jedenfalls delirierte der Hauswart am Abend und klagte bei 40 Grad Fieber über die Ratten. Rieux
versuchte einen Fixationsabszeß. Als das Terpentin ihn brannte, brüllte der Hauswart: «Oh, die
Schweinehunde !»
Die Lymphknoten waren noch dicker, hart und holzig anzufühlen. Die Frau des Hauswarts war
verzweifelt.
«Wachen Sie bei ihm», sagte der Arzt zu ihr, «und rufen Sie mich, wenn es nötig ist.»
Am nächsten Tag, dem 30. April, wehte ein leichter, lauer Wind vom feuchtblauen Himmel. Er brachte
Blumenduft aus den fernsten Gärten der Umgebung mit sich. Die morgendlichen Geräusche auf der
Straße schienen lebhafter, fröhlicher als sonst. Unser ganzes Städtchen, erlöst von der dumpfen Furcht
der vergangenen Woche, feierte diesen Tag wie einen Neubeginn. Auch Rieux, der einen beruhigenden
Brief von seiner Frau erhalten hatte, stieg leichten Herzens zum Hauswart hinunter. Tatsächlich war das
Fieber gegen Morgen auf 38 Grad gefallen. Der geschwächte Kranke lächelte in seinem Bett.
«Es geht besser, nicht wahr, Herr Doktor?» fragte seine Frau.
«Warten wir ab.»
Am Mittag schnellte das Fieber plötzlich wieder auf 40 Grad, der Patient delirierte unablässig und mußte
sich von neuem erbrechen. Die Halsdrüsen schmerzten bei der Berührung, und der Hauswart schien
seinen Kopf möglichst weit vom Körper entfernt halten zu wollen. Seine Frau saß am Fußende des
Bettes, ihre Hände lagen auf der Decke und hielten sanft die Füße des Kranken. Sie blickte Rieux an.
Dieser sagte: «Wir müssen ihn absondern und eine Spezialbehandlung versuchen. Ich telefoniere ins
Spital, wir werden ihn im Krankenwagen hinbringen.»
Zwei Stunden später beugten sich in der Ambulanz der Arzt und die Frau über den Kranken. Aus seinem
von schwammigen Wucherungen verschwollenen Mund drangen Wortfetzen. «Die Ratten!» sagte er. Mit
grünverfärbtem Gesicht, wachsbleichen Lippen, bleiernen Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den
Lymphknoten gemartert, lag er tief in seiner Matratze, als wollte er sich darin einschließen oder als riefe
ihn ohne Unterlaß eine Stimme aus der Tiefe der Erde: so erstickte der Hauswart unter einem
unsichtbaren Gewicht.
Die Frau weinte.
«Ist keine Hoffnung mehr, Herr Doktor? »
«Er ist tot», sagte Rieux.
Man kann sagen, daß der Tod des Hauswarts das Ende jener ersten, von verwirrenden Zeichen erfüllten
Zeit bedeutete und den Beginn einer neuen, verhältnismäßig schwierigeren, während der die anfängliche
Überraschung allmählich in Panik überging. Unsere Mitbürger merkten nun, daß sie nie auf den
Gedanken gekommen wären, daß die Ratten unsere kleine Stadt besonders geeignet finden könnten, um
hier an der Sonne zu sterben, und daß die Hauswarte ausgerechnet bei uns an seltsamen Krankheiten
zugrunde gehen sollten. Mit dieser Ansicht befanden sie sich eigentlich im Irrtum und mußten ihre
Vorstellungen deshalb berichtigen. Wenn damit alles sein Bewenden gehabt hätte, so wäre die Macht der
Gewohnheit sicher stärker gewesen. Doch mußten andere Mitbürger, die nicht alle arm oder Hauswart
waren, Herrn Michel auf dem Weg folgen, den er als erster gegangen war. In diesem Augenblick begann
die Angst und mit ihr das Nachdenken.
Ehe der Erzähler jedoch diese Ereignisse im einzelnen schildert, hält er es für notwendig, die Ansichten
mitzuteilen, die ein anderer Zeuge über den beschriebenen Zeitabschnitt äußert. Jean Tarrou, dem wir
schon zu Beginn dieses Berichts begegnet sind, hatte sich seit einigen Wochen in Oran niedergelassen
und wohnte in einem großen Hotel der Innenstadt. Er schien offenbar wohlhabend genug, um von seinen
Einkünften leben zu können. Aber obwohl die Stadt sich allmählich an ihn gewöhnt hatte, konnte
niemand sagen, woher er kam oder weshalb er hier war. Er war auf allen öffentlichen Plätzen zu treffen.
Seit dem Frühlingsanfang wurde er viel am Strand gesehen, wo er häufig und mit sichtlichem Vergnügen
schwamm. Gutmütig und immer lächelnd, schien er alle natürlichen Freuden zu schätzen, ohne ihnen
hörig zu sein. Die einzige wirkliche Gewohnheit, von der man wußte, war sein reger Verkehr mit den in
unserer Stadt ziemlich zahlreichen spanischen Tänzern und Musikanten.
Seine Aufzeichnungen bilden jedenfalls auch eine Art Chronik dieser schweren Zeit. Doch ist es eine
ganz besondere Chronik, die sich scheinbar absichtlich an das Unbedeutende hält. Auf den ersten Blick
könnte man glauben, Tarrou sei darauf bedacht gewesen, die Menschen und Dinge durch eine Art
Verkleinerungsglas zu betrachten. Kurz, er bemühte sich, in der allgemeinen Verwirrung die Geschichte
dessen zu schreiben, was keine Geschichte hat. Diese vorgefaßte Absicht kann man gewiß bedauern und
darin Herzlosigkeit vermuten. Das hindert aber nicht, daß diese Tagebuchblätter zu einer Chronik jener
Zeit eine große Zahl nebensächlicher Einzelheiten beitragen können, die immerhin ihre Bedeutung haben
und deren Absonderlichkeit einen davor bewahren wird, voreilig über diese interessante Gestalt zu
urteilen.
Jean Tarrous erste Aufzeichnungen gehen auf seine Ankunft in Oran zurück. Von Anfang an zeigt sich
darin eine seltsame Befriedigung über den Aufenthalt in einer an sich so häßlichen Stadt. Sie enthalten
die ausführliche Beschreibung der beiden Bronzelöwen, die das Rathaus zieren, wohlwollende
Betrachtungen über das Fehlen von Bäumen, die unschönen Häuser und die widersinnige Anlage der
Stadt. Tarrou streut noch ein paar Gespräche ein, die er in der Straßenbahn oder auf der Straße auffing,
jedoch ohne eigene Bemerkungen hinzuzufügen, außer etwas später bei einem Gespräch, das einen
gewissen Camps betraf. Tarrou hatte der Unterhaltung zweier Schaffner beigewohnt.
«Du hast doch Camps gekannt», sagte der eine.
«Camps? Ein großer mit einem dichten schwarzen Schnurrbart?»
«Jawohl. Er war Weichensteller.»
«Natürlich kenne ich ihn.»
«Also, der ist gestorben.»
«Nein! Wann denn?»
«Nach der Rattengeschichte.»
«So, so! Und was hatte er denn?»
«Ich weiß nicht, Fieber. Er war übrigens nicht sehr kräftig. Er hatte Geschwüre unter den Armen. Er hat
es nicht überlebt.»
«Dabei war ihm doch gar nichts anzusehen.»
«Doch, er war schwach auf der Brust, und er spielte in der städtischen Blasmusik. Immer das Horn
blasen, greift einen an.»
«Eben!» schloß der zweite. «Wenn man krank ist, soll man nicht das Horn blasen.»
Nach diesen wenigen Angaben fragte sich Tarrou, warum Camps wohl so gegen sein eigenstes Interesse
in die städtische Blasmusik eingetreten sei und welche tieferen Gründe ihn dazu bewegen haben
mochten, sein Leben für sonntägliche Umzüge aufs Spiel zu setzen.
Im weiteren schien Tarrou einen angenehmen Eindruck von einem Vorgang zu haben, der sich häufig auf
dem Balkon gegenüber seinem Fenster abspielte. Sein Zimmer ging gerade auf eine kleine Seitenstraße,
in deren Mauerschatten Katzen schliefen. Aber jeden Tag erschien nach dem Mittagessen, wenn die
ganze Stadt in der Hitze döste, ein kleines altes Männchen auf einem Balkon jenseits der Straße. Seine
Haare waren weiß und sorgfältig gekämmt, seine Haltung aufrecht und streng, seine Kleidung von
militärischem Schnitt. Er lockte die Katzen mit einem «Mieze, Mieze!», das zugleich von oben herab und
sanft ertönte. Die Katzen hoben ihre schlaftrunkenen Augen, ohne sich stören zu lassen. Der Alte zerriß
über der Straße Papier in kleine Fetzen; angezogen von diesem Regen weißer Schmetterlinge näherten
sich die Tiere der Straßenmitte und streckten zögernd eine Pfote nach den letzten Schnitzeln aus. In
diesem Augenblick spuckte der Alte mit Kraft und Genauigkeit auf die Katzen. Wenn er sein Ziel traf,
lachte er.
Schließlich wurde Tarrou offenbar endgültig für die Stadt eingenommen, weil sie so auf den Handel
eingestellt war, daß ihr Aussehen, ihr Leben und sogar ihre Vergnügen von geschäftlichen
Notwendigkeiten beherrscht schienen. Diese Eigenheit (so bezeichnet es Tarrou in seinem Tagebuch)
fand seinen Beifall, und eine seiner lobenden Bemerkungen schloß sogar mit dem Ausruf «Endlich!».
Dies sind die einzigen Stellen aus jener Zeit, in denen die Aufzeichnungen des Reisenden persönliche
Anteilnahme zu verraten scheinen. Es ist sehr schwierig, ihre Bedeutung und Ernsthaftigkeit richtig
einzuschätzen. So erzählte Tarrou zum Beispiel, wie die Entdeckung einer toten Ratte den Kassierer des
Hotels zu einem Fehler in seiner Rechnung verleitet hatte, und fügte in Schriftzügen, die weniger klar
erschienen als sonst, die Bemerkung hinzu: «Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort:
sie in ihrer ganzen Länge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer
eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vorträge anhören in
einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die längsten und umständlichsten Strecken
fahren, selbstverständlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theaters Schlange stehen und keine
Karte lösen usw. usw.»
Aber unmittelbar nach diesen sprachlichen oder gedanklichen Seitensprüngen bringt das Tagebuch eine
eingehende Beschreibung der städtischen Straßenbahnen, ihres nachenartigen Baues, ihrer
unbestimmbaren Farbe, ihrer üblichen Unsauberkeit; diese Betrachtungen schließen mit einem «Es ist
bemerkenswert», das nichts erklärt.
Auf alle Fälle folgen jetzt die Angaben Tarrous, die sich auf die Rattengeschichte beziehen:
«Heute ist das Männchen von gegenüber ganz verblüfft. Es gibt keine Katzen mehr. Sie sind tatsächlich
verschwunden; die toten Ratten, die man in großer Zahl auf der Straße findet, haben sie aufgeregt.
Meiner Meinung nach kommt es nicht in Frage, daß Katzen tote Ratten fressen. Ich erinnere mich, daß
meine das verabscheuten. Dennoch rennen sie wohl in den Kellern umher, und der Alte ist fassungslos.
Er ist weniger sorgfältig gekämmt, sieht weniger kräftig aus. Man spürt seine Beunruhigung. Er ist nach
kurzer Zeit wieder hineingegangen. Aber einmal hat er doch gespuckt, ins Leere.
In der Stadt hat man heute einen Wagen der Straßenbahn angehalten, weil eine tote Ratte entdeckt wurde,
die auf unbekannte Weise dort hineingelangt war. Zwei oder drei Frauen sind ausgestiegen. Die Ratte
wurde entfernt. Der Wagen ist weitergefahren.
Der Nachtportier des Hotels, ein vertrauenswürdiger Mann, hat mir gesagt, mit all diesen Ratten mache
er sich auf ein Unglück gefaßt. Ich habe ihm geantwortet,
daß es für die Schiffe stimmen könne, daß man es aber bei Städten noch nie nachgeprüft habe. Er bleibt
jedoch bei seiner Überzeugung. Ich habe ihn gefragt, was für ein Unglück seiner Meinung nach denn
bevorstehe. Er wußte es nicht, man könne es nicht vorhersagen. Aber er würde sich nicht wundern, wenn
es ein Erdbeben wäre. Ich habe diese Möglichkeit zugegeben, und er hat mich gefragt, ob mich das nicht
beunruhige.
Ich habe geantwortet: Er hat
mich vollkommen begriffen.
Im Speisesaal des Hotels ißt eine ganze Familie, die Beachtung verdient. Der Vater ist groß und mager,
trägt schwarze Kleidung und einen steifen Kragen. In der Mitte des Schädels hat er eine Glatze, rechts
und links ein graues Haarbüschel. Seine kleinen, runden und harten Augen, seine schmale Nase, sein
waagrechter Mund verleihen ihm das Aussehen einer gut erzogenen Schleiereule. Er findet sich immer
als erster an der Tür des Speisesaals ein, tritt beiseite, um seine Frau, eine kleine graue Maus,
durchzulassen; dann folgt er und hinter ihm drein ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen, die wie
abgerichtete Pudel angezogen sind. Am Tisch wartet er, bis seine Frau Platz genommen hat, setzt sich
dann, und schließlich dürfen auch die beiden Hündchen auf ihre Stühle klettern. Er teilt seiner Frau
höfliche Bosheiten aus und richtet an die Nachkommen Worte, die keinen Widerspruch dulden.
Und das kleine Mädchen ist den Tränen nahe. Wie es sich
gehört.
Heute morgen war der Junge ganz aufgeregt wegen der Rattengeschichte. Er wollte bei Tisch davon
anfangen.
, sagte die graue Maus.
Die beiden Pudel steckten ihre Nasen in den Teller, und die Schleiereule bedankt sich mit einem
nichtssagenden Kopfnicken.
Trotz dieses schönen Beispiels redet man in der Stadt viel von der Rattengeschichte. Die Zeitungen
haben sich eingemischt. Die lokale Chronik, die für gewöhnlich sehr abwechslungsreich ist, beschäftigt
sich jetzt ausschließlich mit einem Feldzug gegen die Stadtbehörden. Der Hoteldirektor kann von nichts
anderem mehr sprechen. Das kommt auch daher, daß er sich ärgert. Es ist ihm unfaßlich, daß man Ratten
im Aufzug eines anständigen Hotels finden kann. Um ihn zu trösten, sagte ich ihm: , antwortete er, Er hat mir von den ersten Fällen
jenes merkwürdigen Fiebers erzählt, über das man sich aufzuhalten beginnt. Eines der Zimmermädchen
ist davon befallen.
, hob er mit Nachdruck hervor.
Ich sagte ihm, das sei mir gleich.
Ich hatte nichts dergleichen behauptet, und übrigens
bin ich nicht Fatalist. Ich habe es ihm gesagt ...»
Von diesem Augenblick an erzählen Tarrous Aufzeichnungen mit einigen Einzelheiten von dem
unbekannten Fieber, das in der Öffentlichkeit schon mit Besorgnis verfolgt wurde. Tarrou berichtet, daß
der kleine Alte nach dem Verschwinden der Ratten seine Katzen endlich wiedergefunden habe und seine
Zielübungen geduldig vervollkommne, und fügt hinzu, daß man bereits etwa zehn Fälle dieses Fiebers
zähle, von denen die meisten tödlich verlaufen seien.
Der Vollständigkeit halber kann man noch das Bild hinzufügen, das Tarrou von Dr. Rieux entwirft.
Soweit der Erzähler es beurteilen kann, ist das Porträt ziemlich naturgetreu: «Scheint
fünfunddreißigjährig. Mittelgroß. Breite Schultern. Beinahe rechteckiges Gesicht. Dunkle, offene Augen,
hervorstechende Backenknochen. Die Nase ist groß und gerade. Schwarze, ganz kurz geschnittene Haare.
Der Mund ist gewölbt, die Lippen sind voll und beinahe immer zusammengepreßt. Mit seiner
verbrannten Haut, seinem schwarzen Haar, den immer dunklen, aber gutsitzenden Anzügen sieht er ein
bißchen aus wie ein sizilianischer Bauer.
Er geht rasch. Er verläßt das Trottoir, ohne seinen Gang zu verlangsamen, macht aber zumeist einen
kleinen Satz, wenn er das gegenüberliegende Trottoir betritt. Am Steuer seines Autos ist er zerstreut und
läßt oft den Richtungszeiger draußen, wenn er schon um die Ecke gebogen ist. Immer barhäuptig.
Wissende Miene.»
Tarrous Zahlen stimmten. Dr. Rieux wußte Bescheid. Er hatte die Leiche des Hauswarts absondern
lassen und dann Richard angerufen, um ihn über das von Leistenschwellung begleitete Fieber
auszufragen.
«Ich begreife das nicht», hatte Richard gesagt. «Zwei Todesfälle, der eine innerhalb 48 Stunden, der
andere nach drei Tagen. Der zweite schien ganz auf dem Weg zur Besserung, als ich ihn am letzten
Montag verließ.»
«Benachrichtigen Sie mich, wenn Ihnen weitere Fälle vorkommen», sagte Rieux.
Er rief noch ein paar andere Ärzte an. Seine so geführten Nachforschungen ergaben über zwanzig
ähnliche Fälle innerhalb von wenigen Tagen. Fast alle waren tödlich verlaufen.
Darauf verlangte er von Richard, der Sekretär des Ärzteverbandes war, daß alle Neuerkrankten sofort
abgesondert würden.
«Aber dazu habe ich keine Befugnis», erwiderte Richard. «Dazu sind Maßnahmen des Präfekten nötig.
Und überhaupt, wer sagt denn, daß Ansteckungsgefahr besteht?»
«Ich habe keine Beweise dafür, aber die Symptome sind unheimlich.»
Dennoch fand Richard, «er sei nicht dazu berufen». Er könne einzig mit dem Präfekten darüber sprechen.
Aber während man hin und her redete, schlug das Wetter um. Am Tag nach dem Tod des Hauswarts
bedeckten dichte Dunstwolken den Himmel. Sintflutartige, aber kurze Regenfälle strömten auf die Stadt
herab; diesem Platzregen folgte eine gewittrige Schwüle. Selbst das Meer hatte sein tiefes Blau verloren
und blitzte unter dem verhangenen Himmel auf wie Silber oder Stahl, so daß die Augen bei seinem
Anblick schmerzten. Die feuchte Hitze dieses Frühlings ließ einen die Glut des Sommers herbeisehnen.
In der wie ein Schneckenhaus auf ihrer Anhöhe gebauten Stadt, die sich kaum gegen das Meer öffnet,
herrschte dumpfe Betäubung. Zwischen den langen, verputzten Mauern, in den Straßen mit ihren
verstaubten Schaufenstern, in den schmutziggelben Wagen der Straßenbahn fühlte man sich ein wenig
als Gefangener des Himmels. Einzig Rieux' alter Patient überwand sein Asthma vor Freude über dieses
Wetter.
«Es brennt», sagte er, «das ist gut für die Bronchien.»
Es brannte tatsächlich, aber nicht mehr und nicht weniger als ein Fieber. Die ganze Stadt lag im Fieber.
Dr. Rieux wenigstens wurde diesen Eindruck nicht los, als er sich eines Morgens in die Rue Faidherbe
begab, um der Untersuchung über Cottards Selbstmordversuch beizuwohnen. Doch dünkte ihn dieses
Gefühl unvernünftig. Er schrieb es der Übermüdung und den vielen Sorgen zu, die auf ihn einstürmten,
und fand es dringend notwendig, seine Gedanken ein bißchen in Ordnung zu bringen.
Als er ankam, war der Polizeikommissar noch nicht da. Grand wartete auf dem Treppenabsatz, und sie
beschlossen, zuerst bei ihm einzutreten und die Tür offen zu lassen. Der Angestellte der Stadtverwaltung
bewohnte zwei nur dürftig möblierte Zimmer. Man bemerkte bloß ein Büchergestell aus rohem Holz, auf
dem zwei oder drei Wörterbücher standen, und eine schwarze Wandtafel, auf der man noch die
halbverwischten Worte «blühende Alleen» lesen konnte. Nach Grands Angaben hatte Cottard eine gute
Nacht verbracht. Nur war er am Morgen mit Kopfschmerzen und völlig teilnahmslos erwacht. Grand
schien müde und erregt. Er ging im Zimmer auf und ab, öffnete und schloß eine große Mappe, die auf
dem Tisch lag und mit beschriebenen Blättern gefüllt war.
Indessen erzählte er dem Arzt, daß er Cottard schlecht kenne, jedoch vermute, er habe ein kleines
Vermögen. Cottard sei ein Sonderling. Lange Zeit hätten sich ihre Beziehungen auf das Grüßen im
Treppenhaus beschränkt.
«Ich habe mich nur zweimal mit ihm unterhalten. Vor ein paar Tagen habe ich im Gang eine Schachtel
Kreide fallen lassen, die ich nach Hause brachte. Es waren rote und blaue dabei. In diesem Augenblick
ist Cottard auf den Flur getreten und hat mir geholfen, sie aufzulesen. Er hat mich gefragt, wozu man
diese verschiedenfarbigen Kreiden brauche.»
Grand hatte ihm erklärt, er versuche, sein Latein wieder ein bißchen aufzufrischen. Seit dem Gymnasium
habe er viel verlernt.
«Nicht wahr», sagte er zum Arzt, «man hat mir versichert, es helfe einem, den Sinn der französischen
Wörter besser zu verstehen.»
Also schrieb er lateinische Wörter auf seine Wandtafel. Mit blauer Kreide malte er den je nach
Deklination oder Konjugation wechselnden Teil des Wortes, mit roter Kreide den unveränderlichen.
«Ich weiß nicht, ob Cottard es begriffen hat, auf alle Fälle schien er sich zu interessieren, und er bat mich
um eine rote Kreide. Das überraschte mich ein wenig, aber schließlich . . . Ich konnte natürlich nicht
ahnen, daß dies seinem Plan zustatten kommen würde.»
Rieux fragte, worüber sie bei der zweiten Unterhaltung gesprochen hätten. Aber da erschien der
Kommissar in Begleitung seines Schreibers und wollte zuerst Grands Aussagen hören. Es fiel dem Arzt
auf, daß Grand von Cottard immer als «Der Verzweifelte» sprach. Einmal brauchte er sogar den
Ausdruck «unseliger Entschluß». Sie erörterten den Grund des Selbstmords, und Grand zeigte sich
außerordentlich heikel in der Wortwahl. Schließlich einigte man sich auf «seelischen Kummer». Der
Polizeibeamte fragte, ob Cottards Haltung in nichts «seine Entschließung», wie er es nannte, habe
voraussehen lassen.
«Er hat gestern an meine Tür geklopft», erzählte Grand, «um mich um Streichhölzer zu bitten. Ich habe
sie ihm gegeben. Er hat sich entschuldigt, weil wir doch Nachbarn seien . . . Dann hat er versprochen, die
Schachtel zurückzubringen. Ich habe ihm gesagt, er solle sie behalten.»
Der Beamte fragte, ob Cottard ihm nicht merkwürdig vorgekommen sei.
«Was mir merkwürdig vorkam war sein augenscheinlicher Wunsch, eine Unterhaltung anzufangen. Aber
ich war an der Arbeit.»
Grand wandte sich Rieux zu und fügte verlegen hinzu: «Eine persönliche Arbeit.»
Nun wollte der Kommissar den Kranken sehen. Aber Rieux fand es besser, Cottard erst auf diesen
Besuch vorzubereiten. Beim Betreten des Zimmers sah er, wie der nur mit grauem Flanell bekleidete
Kranke aufrecht im Bett saß und angstvoll nach der Tür blickte.
«Die Polizei, nicht?»
«Ja», sagte Rieux, «regen Sie sich nicht auf. Zwei oder drei Formalitäten, und dann haben Sie Ruhe.»
Aber Cottard antwortete, das sei überflüssig, und er habe die Polizei nicht gern. Rieux zeigte seine
Ungeduld.
«Ich finde sie auch nicht gerade angenehm. Sie müssen ihre Fragen nur schnell und richtig beantworten,
dann sind Sie sie ein für allemal los.»
Cottard schwieg, und der Arzt wandte sich der Tür zu. Aber der kleine Mann rief ihm nach und ergriff
seine Hände, als er am Bett stand.
«Nicht wahr, Herr Doktor, einem Kranken, einem Mann, der sich aufgehängt hat, kann man doch nichts
anhaben ? » Rieux betrachtete ihn einen Augenblick und beschwichtigte ihn dann, es sei von nichts
Derartigem die Rede gewesen, und schließlich sei er auch noch da, um seinen Patienten zu schützen.
Cottard schien sich zu beruhigen, und Rieux ließ den Polizeibeamten eintreten.
Man las Cottard Grands Aussagen vor und fragte ihn, ob er seine Beweggründe nicht genauer darlegen
könne. Ohne den Polizisten anzusehen, antwortete er, «seelischer Kummer» sei schon recht. Der Beamte
wollte unbedingt wissen, ob er Verlangen habe, es nochmals zu versuchen. Cottard wurde lebhafter,
verneinte und betonte, er möchte bloß in Frieden gelassen werden.
Etwas gereizt erwiderte der Kommissar: «Ich bitte Sie zu beachten, daß Sie es sind, der gegenwärtig den
Frieden stört.»
Aber auf ein Zeichen von Rieux hin hatte es damit sein Bewenden.
«Sie können sich denken, daß wir andere Sorgen haben, seitdem von diesem Fieber gesprochen wird»,
seufzte der Beamte beim Hinausgehen.
Er fragte den Arzt, ob die Krankheit ernst zu nehmen sei, und Rieux antwortete, er wisse es nicht.
«Es ist ganz einfach das Wetter», schloß der Polizist.
Es war zweifellos das Wetter. Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr klebte alles an den Händen, und
Rieux fühlte, wie bei jedem Krankenbesuch seine Bangigkeit wuchs. Am Abend dieses selben Tages
preßte ein Nachbar des alten Patienten in der Vorstadt vom Delirium gepackt die Hände auf die
Leistengegend und erbrach sich. Die Lymphdrüsen waren noch dicker geschwollen als bei dem
Hauswart. Einer dieser Knoten begann zu eitern und brach bald auf wie eine faule Frucht. Zu Hause
angekommen, setzte sich Rieux mit der Apothekerzentrale in Verbindung. Seine beruflichen
Aufzeichnungen vermerken an diesem Tag nur «negativer Bescheid». Und schon wurde er zu ähnlichen
Fällen anderswohin gerufen. Bestimmt mußten die Geschwüre geöffnet werden. Zwei kreuzweise
Schnitte mit dem Messer, und aus den Lymphknoten entleerte sich eine mit Blut untermischte, breiige
Flüssigkeit. Die zerfleischten Kranken bluteten. Aber am Bauch und an den Beinen erschienen Flecken,
ein Knoten hörte auf zu eitern und füllte sich dann wieder. Meistens starb der Kranke in entsetzlichem
Gestank.
Die Zeitungen, die so viel über die Ratten geschrieben hatten, schwiegen sich aus. Die Ratten sterben
eben auf der Straße und die Menschen im Zimmer. Und die Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.
Aber die Präfektur und die Stadtbehörden begannen unruhig zu werden. Solange jeder Arzt nur von zwei
oder drei Fällen wußte, war es niemandem in den Sinn gekommen, etwas zu unternehmen. Aber
schließlich genügte es, daß einer ans Zusammenzählen dachte. Das Ergebnis war beängstigend. In kaum
ein paar Tagen vervielfältigten sich die tödlich verlaufenden Fälle, und denen, die sich mit dieser
merkwürdigen Krankheit befaßten, wurde es ganz klar, daß es sich um eine regelrechte Epidemie
handelte. Diesen Augenblick wählte Castel, ein sehr viel älterer Kollege, um Rieux zu besuchen.
«Sie wissen natürlich, was es ist, Rieux?» fragte er ihn.
«Ich warte noch auf das Ergebnis der Analyse.»
«Ich weiß es. Und ich brauche keine Analysen. Ich habe einen Teil meines Lebens in China zugebracht,
und vor etwa zwanzig Jahren habe ich in Paris ein paar Fälle gesehen. Nur wagte niemand, das Kind
gleich beim Namen zu nennen. Die öffentliche Meinung ist heilig: nur keine Aufregung, um Himmels
willen keine Aufregung. Und dann, wie ein Kollege sagte: Jawohl, außer den Toten wußten es alle. Keine Ausflüchte,
Rieux, Sie wissen gerade so gut wie ich, was es ist.»
Rieux überlegte. Durch das Fenster seines Arbeitszimmers schaute er auf die steinige Schulter der
Klippen, die in der Ferne die Bucht umschlossen. Der Himmel war blau, hatte aber einen trüben Glanz,
der im Verlauf des Nachmittags langsam milder wurde.
«Ja, Castel», sagte er, «es ist kaum zu glauben. Aber es scheint wirklich, daß es die Pest ist.»
Castel erhob sich und ging auf die Tür zu.
«Sie wissen, was man uns zur Antwort geben wird», sagte der alte Arzt: «Sie ist seit Jahren aus den
gemäßigten Zonen verschwunden.»
«Was heißt verschwunden?» antwortete Rieux.
«Ja. Und vergessen Sie nicht: vor beinahe zwanzig Jahren noch in Paris.»
«Gut. Hoffen wir, es sei heute nicht schlimmer als damals. Aber es ist wirklich nicht zu glauben.»
Das Wort «Pest» war eben zum erstenmal ausgesprochen worden. Es sei dem Erzähler vergönnt, an
diesem Punkt des Berichts, während Bernard Rieux an seinem Fenster steht, die Unsicherheit und
Überraschung des Arztes zu rechtfertigen, weil seine Reaktion sich nur geringfügig von der der meisten
Mitbürger unterschied. Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen gleich an, aber es ist schwer, an
sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Erde ebenso viele Pestseuchen gegeben
wie Kriege. Und doch finden Pest und Krieg die Menschen immer gleich wehrlos. Dr. Rieux stand der
Pest ebenso unvorbereitet gegenüber wie unsere übrigen Mitbürger, und so muß man sein Zögern
verstehen. So muß man auch begreifen, daß er zwischen Besorgnis und Vertrauen hin und her gerissen
wurde. Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: «Er kann nicht lange dauern, es ist zu unsinnig.» Und
ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, lange zu dauern.
Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt
wäre. In dieser Beziehung waren unsere Mitbürger wie alle Leute, sie dachten an sich, oder anders
ausgedrückt, sie waren Menschenfreunde: sie glaubten nicht an Heimsuchungen. Weil die Plage das Maß
des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde.
Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen, und die
Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben. Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger
als andere, sie vergaßen nur die Bescheidenheit und dachten, daß ihnen noch alle Möglichkeiten
offenblieben, was aber voraussetzt, daß Heimsuchungen unmöglich sind. Sie schlossen auch weiterhin
Geschäfte ab, bereiteten Reisen vor und hatten eine Meinung. Wie hätten sie da an die Pest denken
sollen, die der Zukunft, dem Reisen und dem Gedankenaustausch ein Ende macht? Sie glaubten sich frei,
und keiner wird je frei sein, solange es Geißeln der Menschheit gibt.
Und selbst nachdem Dr. Rieux vor seinem Freund zugegeben hatte, daß eine Handvoll verstreuter
Kranker ohne Warnung an der Pest gestorben war, blieb die Gefahr für ihn unwirklich. Bloß hat man als
Arzt einen Begriff vom Schmerz und eine etwas lebhaftere Phantasie. Wenn Rieux durch das Fenster auf
seine unveränderte Stadt blickte, spürte er, wie in ihm unmerklich jenes leichte Ekelgefühl vor der
Zukunft aufstieg, das man Unruhe nennt. Er versuchte im Geist alles zusammenzufassen, was er von
dieser Krankheit wußte. Zahlen schwirrten ihm durch das Gedächtnis, und er sagte sich, daß die etwa
dreißig großen Pestepidemien der Geschichte an die hundert Millionen Tote gefordert hatten. Aber was
bedeuten hundert Millionen Tote? Wer den Krieg mitgemacht hat, weiß kaum noch, was ein Toter ist.
Und da ein toter Mensch dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über
die Geschichte verstreute Leichen nichts als Rauch in der Einbildung. Der Arzt erinnerte sich an die Pest
von Konstantinopel, der nach Prokop an einem Tag zehntausend Menschen zum Opfer gefallen waren.
Zehntausend Tote, das macht fünfmal die Zahl der Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man tun.
Man faßt die Besucher von fünf Kinos an den Ausgängen zusammen, führt sie auf einen Platz in der
Stadt und läßt sie dort alle miteinander sterben, damit man wieder ein bißchen klarer sieht. Dann könnte
man wenigstens ein paar bekannte Gesichter auf diesen namenlosen Haufen stecken. Aber das ist
natürlich undurchführbar. Und wer kennt schließlich zehntausend Gesichter? Übrigens ist ja bekannt, daß
Leute wie Prokop gar nicht zählen konnten. Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an
der Pest gestorben, ehe die Seuche sich mit den Menschen befaßte. Aber 1871 gab es keine Möglichkeit,
die Ratten zu zählen. Man berechnete annähernd, summarisch. Die Wahrscheinlichkeit eines
Rechenfehlers war groß. Wenn jedoch eine Ratte dreißig Zentimeter lang ist, ergäben vierzigtausend
Ratten aneinandergereiht . . .
Aber der Doktor wurde ungeduldig. Er ließ sich gehen, und das durfte er nicht. Vereinzelte Fälle machen
noch keine Epidemie, und es genügt, wenn Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Man mußte sich an
das halten, was man sicher wußte: die Erstarrung und die Entkräftung, die geröteten Augen, die
schmierig belegte Zunge, die Kopfschmerzen, die Beulen, die innerliche Zerfleischung, und am Ende
von alldem . . . Am Ende von alldem kam Dr. Rieux ein Satz in den Sinn, jener Satz, der in seinem
Handbuch die Aufzählung der Krankheitszeichen abschloß: «Der Puls wird fadenförmig, und der Tod
tritt bei irgendeiner unbedeutenden Bewegung ein.» Ja, am Ende von alldem hing man an einem Faden,
und drei Viertel der Leute waren ungeduldig genug, um die unmerkliche Bewegung zu machen, die sie
hinabstürzte.
Der Arzt blickte noch immer aus dem Fenster. Jenseits der Scheiben der frische Frühlingshimmel, und
diesseits das Wort, das noch im Zimmer nachhallte: die Pest. Das Wort enthielt nicht nur den Sinn, den
die Wissenschaft hineinzulegen beliebte, sondern eine lange Folge außerordentlicher Bilder, die nicht
passen wollten zu dieser gelben und grauen Stadt, die um diese Zeit nur mäßig belebt war, mehr dumpf
summend als lärmend, eigentlich glücklich, wenn es möglich ist, glücklich und glanzlos zugleich zu sein.
Und eine so friedliche und teilnahmslose Ruhe strafte fast mühelos die alten Vorstellungen Lügen, die
man von den Geißeln hegt: Das verseuchte und von den Vögeln verlassene Athen, die mit stummen
Sterbenden erfüllten Städte Chinas, die Sträflinge aus Marseille, die die sich in Fäulnis auflösenden
Leichen in Löchern aufeinanderwarfen, die große Mauer, die in der Provence erbaut wurde, um den
wütenden Pestwind aufzuhalten, Jaffa und seine widerlichen Bettler, die feuchten, fauligen Betten, die im
Spital von Konstantinopel am Lehmboden kleben, die Kranken, die an Haken herumgeschleppt werden,
die Fastnacht der vermummten Ärzte während der schwarzen Pest, die Paarung der Lebenden in den
Friedhöfen von Mailand, die Totenkarren im verstörten London, und die Tage und die Nächte, die überall
und immerdar vom endlosen Schrei der Menschen erfüllt sind. Nein, das alles zusammen war noch nicht
stark genug, um den Frieden dieses Tages zu töten. Jenseits der Scheiben ertönte plötzlich die Glocke
einer unsichtbaren Straßenbahn und verdrängte mit einem Schlag die Grausamkeit und den Schmerz.
Einzig das Meer hinter dem glanzlosen Schachbrett der Häuser zeugte von dem beklemmenden und ewig
ruhelosen Teil der Welt. Und Dr. Rieux, der den Golf betrachtete, dachte an jene Scheiterhaufen, von
denen Lukrez spricht, die die Athener am Meer aufrichteten, wenn die Krankheit sie heimsuchte. Dorthin
wurden des Nachts die Toten gebracht, aber es fehlte an Raum, und die Lebenden bekriegten sich mit
ihren Fackeln, um den Verstorbenen, die ihnen teuer waren, einen Platz zu sichern; und lieber standen sie
blutige Schlägereien durch, als daß sie ihre Leichen im Stich gelassen hätten. Man konnte sich die
glühenden Scheiterhaufen vor dem ruhigen dunklen Wasser vorstellen, die Fackelkämpfe in
funkensprühender Nacht, und die dicken, giftigen Dämpfe, die zum aufmerksamen Himmel
emporstiegen. Man konnte befürchten . . .
Aber diese schwindelerregenden Vorstellungen hielten der Vernunft nicht stand. Es stimmte, daß das
Wort «Pest» ausgesprochen worden war. Es stimmte, daß in derselben Minute die Seuche ein oder zwei
Opfer schüttelte und niederwarf. Aber was bedeutete das schon? Das konnte ja aufhören. Was jetzt not
tat, war, klar zu erkennen, was erkannt werden mußte, die unnützen Schatten endlich wegzujagen und die
notwendigen Maßnahmen zu treffen. Dann würde die Pest innehalten, weil man sich die Pest nicht oder
nur falsch vorstellen konnte. Wenn sie aufhörte, und das war das Wahrscheinlichste, dann würde alles
gutgehen. Andernfalls wußte man, was sie war und ob es nicht eine Möglichkeit gab, sich zunächst mit
ihr abzufinden, um sie dann zu besiegen.
Der Arzt öffnete das Fenster, und der Lärm der Stadt schwoll plötzlich an. Aus einer nahen Werkstatt
drang das kurze, sich ständig wiederholende Kreischen einer Bandsäge. Rieux riß sich zusammen. Hier,
in der täglichen Arbeit, war die Gewißheit. Das übrige hing an Fäden und unbedeutenden Bewegungen,
dabei konnte man sich nicht aufhalten. Ausschlaggebend war, daß man seiner Pflicht gewissenhaft
nachkam.
So weit war Dr. Rieux mit seinen Betrachtungen gekommen, als ihm Joseph Grand gemeldet wurde. Da
dieser im Rathaus angestellt war, verwendete man ihn trotz seiner vielseitigen Aufgaben von Zeit zu Zeit
auch auf der statistischen Abteilung des Standesamtes. So mußte er zum Beispiel die Zahl der Todesfälle
zusammenrechnen. Und da er dienstfertig war, hatte er eingewilligt, selbst eine Abschrift seiner
Ergebnisse zu Rieux zu bringen. Der Arzt sah Grand mit seinem Nachbarn Cottard eintreten. Der
Angestellte schwenkte ein Blatt Papier.
«Die Ziffern steigen, Herr Doktor», verkündete er, «elf Tote in 48 Stunden.»
Rieux begrüßte Cottard und fragte ihn, wie er sich fühle. Grand erklärte, Cottard habe dem Arzt danken
und sich für die Mühe entschuldigen wollen, die er ihm verursacht habe. Aber Rieux betrachtete die
statistischen Angaben.
«Schön», sagte er, «jetzt muß man sich vielleicht doch dazu entschließen, diese Krankheit bei ihrem
Namen zu nennen. Bis jetzt haben wir uns kaum gerührt. Aber begleiten Sie mich doch, ich muß ins
Laboratorium.»
«Ja, ja», sagte Grand, während er hinter dem Arzt die Treppe hinunterstieg. «Man muß die Dinge beim
Namen nennen. Aber bei welchen Namen?»
«Ich darf es Ihnen nicht sagen, und übrigens würde es Ihnen nichts nützen.»
«Sehen Sie», lächelte Grand. «Es ist nicht so einfach.»
Sie lenkten ihre Schritte zum Waffenplatz. Cottard schwieg immer noch. Die Straßen begannen sich zu
bevölkern. Die hierzulande kurze Dämmerung wich bereits der Nacht, und die ersten Sterne erschienen
am noch klaren Horizont. Ein paar Sekunden später verdunkelten die Straßenlaternen mit ihrem Licht
den Himmel, und das Stimmengewirr schien um einen Ton anzuschwellen.
«Entschuldigen Sie mich bitte», sagte Grand an der Ecke des Waffenplatzes, «aber ich muß meine
Straßenbahn nehmen. Meine Abende sind mir heilig. Wie man in meiner Heimat sagt: » Rieux hatte schon früher bemerkt, daß Grand die Eigenheit hatte, Redensarten
seiner Heimat - er kam von Montelimar - anzuführen und dann irgendeinen nichtssagenden Gemeinplatz
anzuhängen, wie «ein traumhaftes Wetter» oder «eine feenhafte Beleuchtung».
«O ja!» sagte Cottard. «Das stimmt. Nach dem Abendessen ist er nicht mehr aus seiner Klause zu
bringen.»
Rieux fragte Grand, ob er für das Rathaus arbeite. Grand verneinte, er arbeite für sich.
«Ach», sagte der Arzt, «und kommen Sie gut voran?»
«Ich muß wohl, da ich seit Jahren daran arbeite. Obwohl ich andererseits keine großen Fortschritte
mache.»
«Aber worum handelt es sich eigentlich?» fragte der Arzt und blieb stehen.
Grand stammelte etwas Unverständliches und rückte seine Melone auf seinen großen Ohren zurecht. Und
Rieux begriff dunkel, daß es sich irgendwie um den Aufschwung einer Persönlichkeit handeln mußte.
Aber der Angestellte hatte sie schon verlassen und verschwand mit schnellen kleinen Schritten unter den
Feigenbäumen des Boulevard de la Marne. An der Tür des Laboratoriums sagte Cottard zum Arzt, er
möchte gern mit ihm sprechen und ihn um Rat fragen. Rieux fingerte in seiner Tasche an der Statistik
herum und bat Cottard, er möge in die Sprechstunde kommen, besann sich dann eines Besseren und
sagte, er werde am folgenden Tag in seinem Quartier sein und ihn gegen Abend besuchen.
Als Rieux sich von Cottard verabschiedet hatte, merkte er, daß er an Grand dachte. Er stellte sich ihn
mitten in einer Pest vor, nicht in dieser, die war sicher nicht ernst zu nehmen, sondern in einer der großen
Pestepidemien der Geschichte. «Er gehört zu der Art Mensch, die in solchen Fällen davonkommt.» Er
erinnerte sich, gelesen zu haben, daß die Pest die Schwachen verschone und hauptsächlich die Kräftigen
dahinraffe. Als er länger daran dachte, schien ihm der Angestellte irgendwie geheimnisvoll.
Auf den ersten Blick war Joseph Grand allerdings nichts anderes, als was er schien: ein kleiner
Rathausangestellter. Er war groß und mager, schwamm immer in viel zu weiten Kleidern, die er in der
Hoffnung kaufte, sie würden länger halten. Er besaß noch fast alle unteren Zähne, hatte aber dafür alle
oberen verloren. Sein Lächeln, bei dem er hauptsächlich die Oberlippe hochzog, ließ seinen Mund
deshalb als dunklen Schatten erscheinen. Um das Bild zu vervollständigen, wären noch hinzuzufügen:
der Seminaristengang, die Kunst, an den Mauern entlangzustreichen und sich in Hauseingänge zu
drücken, ein Geruch von Keller und Rauch, alle Züge der Nichtigkeit, und man wird zugeben, daß man
sich Grand nirgends anders denken konnte als hinter einem Pult, fleißig bemüht, die Preise der
städtischen Brausebäder durchzusehen oder im Auftrag eines jungen Vorgesetzten die Grundlagen zu
einem Bericht über die neue Gebühr für die Müllabfuhr zusammenzutragen. Auch einem
unvoreingenommenen Geist mochte es scheinen, er sei in die Welt gesetzt worden, um die bescheidenen,
aber unvermeidlichen Aufgaben eines städtischen provisorischen Hilfsangestellten zu 62 Francs 30 am
Tag zu erfüllen.
Das war in der Tat die Bezeichnung, die er auf den Formularen nach dem Wort «Anstellungsverhältnis»
angab. Als er vor 22 Jahren nach einer ersten Prüfung aus Geldmangel seine Studien nicht hatte
fortsetzen können und diese Beschäftigung annahm, machte man ihm Hoffnung auf eine baldige feste
Anstellung, so sagte er. Er müsse nur während einiger Zeit beweisen, daß er von den heiklen Aufgaben
unserer Stadtverwaltung etwas verstehe. Es wurde ihm versichert, daß er dann unfehlbar zum
Schriftführer aufsteigen und ein gutes Auskommen finden werde. Es war sicher nicht Ehrgeiz, was
Joseph Grand bewegte, dafür bürgte er mit einem traurigen Lächeln. Aber die Aussicht auf ein ehrlich
verdientes, gesichertes Leben und damit auf die Möglichkeit, sich ohne Gewissensbisse seinen
Lieblingsbeschäftigungen widmen zu können, verlockte ihn sehr. Wenn er das Angebot, das man ihm
machte, annahm, so geschah es aus ehrenwerten Gründen und aus Treue zu einem Ideal, wenn man so
sagen darf.
Dieser vorläufige Zustand dauerte nun seit vielen Jahren, die Lebenskosten waren ungeheuer gestiegen,
und Grands Gehalt war trotz einigen allgemeinen Aufbesserungen immer noch lächerlich gering. Er hatte
sich bei Rieux darüber beklagt, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Hier zeigt sich Grands
Eigentümlichkeit oder wenigstens eines ihrer Merkmale. Er hätte ja, wenn nicht seine Rechte, deren er
nicht gewiß war, doch wenigstens die Zusicherungen geltend machen können, die man ihm seinerzeit
gegeben hatte. Aber erstens war der Vorgesetzte, der ihn angestellt hatte, seit langem tot, und zudem
erinnerte er sich nicht an den genauen Wortlaut des Versprechens. Und zweitens und hauptsächlich fand
Joseph Grand seine Worte nicht.
Wie Rieux feststellen konnte, kennzeichnete diese Eigenheit unseren Mitbürger am besten. Sie machte es
ihm immer unmöglich, den Beschwerdebrief zu schreiben, an dem er herumsann, oder den Schritt zu tun,
den die Umstände erforderten. Wie er erzählte, fühlte er sich besonders gehemmt, das Wort «Recht» zu
gebrauchen, weil er nicht sicher war, und das Wort «Versprechungen», das ausgedrückt hätte, er verlange
etwas, das man ihm schuldig sei. Diese Verwegenheit hätte schlecht zu dem bescheidenen Amt gepaßt,
das er versah. Andererseits wollte er die Ausdrücke «Wohlwollen», «Bitten», «Dankbarkeit» nicht
gebrauchen, da er fand, sie vertrügen sich nicht mit seiner persönlichen Würde. So kam es, daß unser
Mitbürger bis in ein vorgerücktes Alter hinein weiterhin seiner ruhmlosen Beschäftigung nachging, weil
er das rechte Wort nicht fand. Und übrigens, so berichtete er Dr. Rieux, merkte er mit der Zeit, daß sein
Auskommen auf jeden Fall gesichert war, da er im Grunde nur seine Bedürfnisse den Einnahmen
anzupassen brauchte. Er anerkannte damit die Richtigkeit eines Lieblingsausspruchs des Bürgermeisters,
eines Großindustriellen unserer Stadt, der eindringlich versicherte, letzten Endes (er betonte das Wort,
auf dem das ganze Gewicht seiner Überlegung ruhte), letzten Endes also, habe man noch nie jemand
Hungers sterben sehen. Auf jeden Fall hatte das sozusagen mönchische Leben, das Joseph Grand rührte,
ihn letzten Endes in der Tat von allen derartigen Sorgen befreit. Er suchte weiterhin seine Worte.
In gewissem Sinn ist wohl zu sagen, daß sein Leben vorbildlich war. Er gehörte zu den bei uns überall
seltenen Menschen, die immer den Mut haben, zu ihren edlen Gefühlen zu stehen. Das Wenige, was er
im Vertrauen über sich aussagte, zeugte tatsächlich von einer Güte und Anhänglichkeit, die heutzutage
keiner mehr einzugestehen wagt. Er schämte sich nicht, zuzugeben, daß er seine Neffen und seine
Schwester liebte; sie waren die einzigen Verwandten, die er noch hatte, und er besuchte sie alle zwei
Jahre in Frankreich. Er bekannte, daß die Erinnerung an seine Eltern, die gestorben waren, als er noch
klein war, ihn schmerzte. Er gab gerne zu, daß er in seinem Quartier eine bestimmte Glocke besonders
liebte, die gegen fünf Uhr abends weich erklang. Aber jedes Wort, das er brauchte, um so einfache
Gefühle wiederzugeben, kostete ihn tausend Mühen. Diese Schwierigkeit war seine größte Sorge. «Ach,
Herr Doktor», pflegte er zu sagen, «ich möchte so gerne lernen, mich auszudrücken.» Jedesmal, wenn er
Rieux begegnete, sprach er davon.
Als der Arzt an jenem Abend den Angestellten weggehen sah, verstand er plötzlich, was Grand hatte
sagen wollen: er schrieb sicher ein Buch oder etwas Derartiges. Das beruhigte Rieux noch im
Laboratorium, das er endlich aufsuchte. Er wußte, daß dieser Eindruck dumm war, aber er konnte sich
einfach nicht vorstellen, daß die Pest wirklich eine Stadt heimsuchen könnte, in der es bescheidene
Beamte gab, die ehrenwerte Steckenpferde ritten. Genaugenommen konnte er sich nicht denken, wie
diese Steckenpferde sich in die Pest einordnen sollten, und deshalb war er der Ansicht, die Pest könne in
unserer Stadt wirklich keine Zukunft haben.
Am folgenden Tag erreichte Rieux durch sein Drängen, das man unangebracht fand, die Einberufung
einer Gesundheitskommission auf der Präfektur.
«Es stimmt, daß die Leute unruhig werden», hatte Richard zugegeben. «Und dann übertreibt das Gerede
alles. Der Präfekt hat mir gesagt: Er ist übrigens
überzeugt, daß es sich um einen falschen Alarm handelt.»
Bernard Rieux brachte Castel in seinem Wagen zur Präfektur.
«Wissen Sie, daß das Departement kein Serum besitzt?» fragte ihn der alte Arzt.
«Ja. Ich habe das Lager angerufen. Der Direktor ist aus allen Wolken gefallen. Man muß es von Paris
kommen lassen.»
«Hoffentlich geht es nicht zu lang.»
«Ich habe schon telegrafiert», antwortete Rieux.
Der Präfekt war liebenswürdig, aber aufgeregt.
«Wir wollen anfangen, meine Herren», sagte er. «Soll ich die Lage zusammenfassen?»
Richard fand es überflüssig. Die Ärzte kannten die Lage. Die Frage sei nur, welche Maßnahmen zu
ergreifen seien.
«Die Frage ist, ob es sich um die Pest handelt oder nicht», platzte der alte Castel heraus.
Zwei oder drei Ärzte fuhren auf. Die anderen schienen zu zögern. Der Präfekt sprang auf und wandte
sich unwillkürlich zur Tür, als wollte er sich vergewissern, daß sie diese Ungeheuerlichkeit daran
hinderte, in die Gänge hinauszudringen. Richard erklärte, daß man sich seiner Meinung nach nicht ins
Bockshorn jagen lassen dürfe: es handle sich um ein Fieber mit Komplikationen in den Leisten, das sei
alles, was man sagen könne, da in der Wissenschaft wie im täglichen Leben alle unbegründeten
Annahmen gefährlich seien. Der alte Castel, der bedächtig seinen gelben Schnurrbart kaute, blickte mit
seinen hellen Augen Rieux an. Dann schaute er wohlwollend auf die Versammlung und bemerkte, er
wisse ganz genau, daß es die Pest sei, aber daß natürlich eine amtliche Feststellung unerbittliche
Maßnahmen zur Folge hätte. Er wisse, daß seine Kollegen sich aus diesem Grunde sträubten, und er
wolle deshalb ihrer Seelenruhe zuliebe gerne zugeben, es sei nicht die Pest. Der Präfekt regte sich auf
und erklärte, auf alle Fälle dürften keine solchen Schlüsse gezogen werden.
«Es kommt nicht darauf an, ob diese Art Folgerung richtig ist oder nicht, sondern ob sie zum Denken
zwingt», sagte Castel.
Da Rieux schwieg, wurde er um seine Meinung gebeten.
«Es handelt sich um ein typhoides Fieber, das aber von Beulen und Erbrechen begleitet ist. Ich habe die
Beulen aufgeschnitten. So konnte ich Untersuchungen anstellen lassen, bei denen das Laboratorium den
gedrungenen Pestbazillus zu erkennen glaubt. Um vollständig zu sein, ist allerdings zu sagen, daß
gewisse besondere Abweichungen der Mikroben nicht mit der klassischen Beschreibung
übereinstimmen.»
Richard unterstrich, wie sehr dadurch das Zögern gerechtfertigt werde und daß zumindest das statistische
Ergebnis der ganzen Reihe von Untersuchungen, die seit ein paar Tagen gemacht wurden, abgewartet
werden müsse.
Nach kurzem Schweigen sagte Rieux: «Wenn eine Mikrobe imstande ist, in der Zeit von drei Tagen den
Umfang der Milz zu vervierfachen, den Lymphdrüsen des Unterleibs die Größe einer Orange und die
Festigkeit eines Breis zu verleihen, dann ist eben kein Zögern mehr gestattet. Die Ansteckungsherde
nehmen ständig zu. Wenn wir die Krankheit nicht aufhalten, laufen wir bei der Geschwindigkeit, mit der
sie um sich greift, Gefahr, daß sie die halbe Stadt getötet hat, bevor zwei Monate um sind. Folglich ist es
ganz unwichtig, ob Sie sie Pest oder Wachstumsfieber nennen, wichtig ist nur, daß Sie sie hindern, die
halbe Stadt zu töten.»
Richard fand, man dürfe nicht zu schwarz sehen, und überdies sei die Ansteckung nicht erwiesen, da die
Verwandten seiner Patientin noch gesund seien.
«Aber andere sind gestorben», bemerkte Rieux. «Und wohlverstanden ist die Ansteckung nie absolut,
sonst liefe es auf eine unendliche mathematische Progression und eine jähe Entvölkerung hinaus. Es
handelt sich darum, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.»
Richard glaubte indessen, die Lage zusammenzufassen, wenn er daran erinnerte, daß man, falls die
Krankheit nicht von selbst innehalte, die schwerwiegenden Vorkehrungen anordnen müsse, die das
Gesetz vorsehe; daß man, um das tun zu können, amtlich erklären müsse, es handle sich um die Pest; daß
man in dieser Hinsicht seiner Sache nicht unbedingt sicher sei und daß man es infolgedessen reiflich
überlegen müsse.
«Die Frage ist nicht, ob die vom Gesetz vorgesehenen Maßnahmen schwerwiegend sind, sondern ob sie
nötig sind, um zu verhindern, daß die halbe Stadt getötet wird», beharrte Rieux. «Der Rest ist Sache der
Verwaltung, und unsere Verfassung sieht einen Präfekten vor, der gerade solche Fragen zu regeln hat.»
«Zweifellos», sagte der Präfekt, «aber es ist nötig, daß Sie offiziell bestätigen, daß es sich um eine
Pestepidemie handelt.»
«Auch wenn wir das nicht bestätigen, laufen wir Gefahr, daß sie die halbe Stadt tötet», erwiderte Rieux.
Richard ergriff mit einiger Erregung das Wort: «In Wirklichkeit ist es so, daß unser Kollege an die Pest
glaubt; seine Beschreibung des Krankheitsbildes beweist das.»
Rieux entgegnete, er habe nicht ein Krankheitsbild beschrieben, sondern das, was er gesehen habe. Und
was er gesehen habe, seien Beulen, Flecken, Delirium und der Tod innerhalb von 48 Stunden. Konnte es
Herr Dr. Richard verantworten, zu erklären, die Seuche werde auch ohne strenge
Vorbeugungsmaßnahmen zum Stillstand kommen?
Richard zögerte und schaute Rieux an.
«Sagen Sie mir aufrichtig, sind Sie überzeugt, daß es die Pest ist?»
«Sie stellen die Frage falsch. Es ist nicht eine Frage der Bezeichnung, es ist eine Frage der Zeit.»
«Sie finden also», sagte der Präfekt, «daß, selbst wenn es sich nicht um die Pest handelt, man trotzdem
die Maßnahmen ergreifen sollte, die für Pestzeiten vorgesehen sind?»
«Wenn ich unbedingt etwas finden soll, dann ist es das.»
Die Ärzte berieten sich untereinander, und schließlich sagte Richard: «Wir müssen also die
Verantwortung übernehmen und so handeln, als wäre diese Krankheitserscheinung eine Seuche.»
Dieser Formulierung wurde warm beigepflichtet.
«Sind Sie auch dieser Meinung, lieber Kollege?» fragte Richard.
«Die Formulierung ist mir gleichgültig», sagte Rieux. «Sagen wir einfach, daß wir uns nicht benehmen
dürfen, als liefe nicht die halbe Stadt Gefahr, getötet zu werden, denn sonst wird sie es.»
Mitten aus dieser allgemeinen Gereiztheit ging Rieux fort.
Ein paar Augenblicke später wandte sich in der nach Fisch und Urin riechenden Vorstadt eine Frau mit
blutenden Leisten ihm zu und schrie in Todesangst.
Am Tag nach der Besprechung griff das Fieber noch weiter um sich. Es kam sogar in die Zeitungen;
allerdings unter einer gutartigen Form, da man sich mit Andeutungen begnügte. Am übernächsten Tag
konnte Rieux jedenfalls kleine weiße Anschläge lesen, die die Präfektur eilig in den verstohlensten
Winkeln der Stadt hatte anbringen lassen. Es war schwierig, in dieser Bekanntmachung den Beweis dafür
zu sehen, daß die Behörden der Lage ins Auge blickten. Es gab keine drakonischen Maßnahmen, und
man schien dem Wunsch, die öffentliche Meinung nicht zu beunruhigen, große Opfer gebracht zu haben.
Der Erlaß begann nämlich mit der Erklärung, daß in der Gemeinde von Oran einige Fälle eines
bösartigen Fiebers festgestellt worden seien, von dem noch nicht gesagt werden könne, ob es ansteckend
sei. Diese Fälle seien nicht ausgeprägt genug, um wirklich Besorgnis zu erregen, und die Bevölkerung
werde ohne Zweifel ihre Kaltblütigkeit bewahren. Doch werde jedermann einsehen, daß der Präfekt
trotzdem, und nur um alle Vorsicht walten zu lassen, einige vorbeugende Maßnahmen treffe. Richtig
verstanden und angewendet, würden diese Maßnahmen genügen, um jegliche Gefahr einer Epidemie von
vornherein zu bannen. Der Präfekt zweifle folglich keinen Augenblick daran, daß die Bevölkerung ihn in
seiner eigenen Anstrengung mit aller Hingabe unterstützen werde.
Der Anschlag verkündete dann ein paar allgemeine Verordnungen, wie eine wissenschaftlich
durchgeführte Entrattung durch Zerstäubung giftiger Gase in den Abwasserkanälen und eine sorgfältige
Überwachung der Wasserverteilung. Er ermahnte die Einwohnerschaft zu peinlichster Sauberkeit und
forderte die Leute, die Flöhe hatten, auf, sich in den städtischen Polikliniken einzufinden. Andererseits
wurden die Familien dazu verpflichtet, die vom Arzt festgestellten Fälle anzumelden und ihre Kranken in
besondere Säle des Spitals bringen zu lassen. Diese Säle seien übrigens so eingerichtet, daß die Kranken
in kürzester Zeit und mit den größten Heilungsaussichten gepflegt werden könnten. Einige zusätzliche
Bestimmungen befahlen die Desinfektion des Krankenzimmers und des Krankenwagens. Im übrigen
beschränkte man sich darauf, den Angehörigen zu empfehlen, ihre Gesundheit ärztlich überwachen zu
lassen.
Dr. Rieux wandte sich heftig von dem Aufruf ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Joseph
Grand erwartete ihn und erhob wieder die Arme, als er seiner ansichtig wurde.
«Ja», sagte Rieux, «ich weiß, die Ziffern steigen.»
Am Vortag waren ungefähr zehn Kranke in der Stadt gestorben. Der Arzt sagte, daß er Grand vielleicht
am Abend noch sehen werde, da er Cottard besuchen wolle.
«Sie haben recht», erwiderte Grand. «Sie werden ihm gut tun, denn ich finde ihn verändert.»
«Wie meinen Sie das?»
«Er ist höflich geworden.»
«War er das denn früher nicht?»
Grand zögerte. Er konnte nicht behaupten, Cottard sei unhöflich gewesen, der Ausdruck wäre
unzutreffend. Er war ein verschlossener, schweigsamer Mensch, der ein wenig einem Eber glich. Sein
Zimmer, eine bescheidene Speisewirtschaft und ziemlich geheimnisvolle Gänge, das war Cottards ganzes
Leben. Er galt als Vertreter in Weinen und Spirituosen. Hie und da empfing er den Besuch von zwei oder
drei Männern, die seine Kunden sein mochten. Abends ging er manchmal ins Kino, das dem Haus
gegenüber lag. Der Angestellte hatte sogar bemerkt, daß Cottard mit Vorliebe Verbrecherfilme
anzusehen schien. Immer und überall blieb der Vertreter ein mißtrauischer Einzelgänger.
Nach Grands Aussagen hatte sich das alles beträchtlich geändert.
«Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber sehen Sie, ich habe den Eindruck, daß er sich die
Leute zu versöhnen sucht, daß er alle auf seiner Seite haben will. Er spricht oft mit mir, er fordert mich
auf, mit ihm auszugehen, was ich ihm nicht immer abschlagen mag. Abgesehen davon interessiert er
mich, und schließlich habe ich ihm das Leben gerettet.»
Seit seinem Selbstmordversuch hatte Cottard keinerlei Besuch mehr empfangen. Auf der Straße, in den
Läden suchte er das Wohlwollen aller zu gewinnen. Nie hatte er mit mehr Freundlichkeit mit dem
Krämer gesprochen, mit mehr Anteilnahme einer Tabakhändlerin zugehört.
«Diese Tabakhändlerin ist eine ausgemachte Schlange», bemerkte Grand. «Ich habe es Cottard gesagt,
aber er hat mir geantwortet, daß ich mich täuschte: sie habe ihre guten Seiten, man müsse sie nur zu
finden wissen.»
Schließlich hatte Cottard Grand zwei- oder dreimal in die vornehmen Gaststätten und Cafés der Stadt
mitgenommen, in denen er jetzt verkehrte.
«Man fühlt sich wohl dort», pflegte er zu sagen, «und ist zudem in guter Gesellschaft.»
Es war Grand aufgefallen, mit welch ausgesuchter Zuvorkommenheit die Kellner den Vertreter
behandelten; er verstand die Gründe, als er die fürstlichen Trinkgelder bemerkte, die jener austeilte.
Cottard schien äußerst empfänglich für die Liebenswürdigkeiten, mit denen er deshalb bedacht wurde.
Als der Ober eines Tages Cottard zur Tür begleitet und ihm in den Mantel geholfen hatte, sagte dieser zu
Grand: «Ein netter Kerl, der kann es bezeugen.»
«Was bezeugen?»
Cottard zögerte.
«Nun, daß ich kein schlechter Mensch bin.»
Er hatte übrigens Launen. Einmal war der Krämer weniger freundlich als sonst, und Cottard war in einem
Zustand maßloser Wut heimgekommen.
«Er hält es mit den andern, der Hund!» wiederholte er.
«Mit welchen andern?»
«Mit allen.»
Grand hatte sogar einem seltsamen Vorgang bei der Tabakhändlerin beigewohnt. Im Verlauf einer
angeregten Unterhaltung hatte sie von einer Verhaftung gesprochen, die vor kurzer Zeit in Algier
Aufsehen erregt hatte. Es handelte sich um einen jungen kaufmännischen Angestellten, der am Strand
einen Araber getötet hatte.
«Wenn das ganze Lumpenpack ins Gefängnis gesteckt würde», sagte die Händlerin, «dann könnten die
anständigen Leute aufatmen.»
Aber sie hatte abbrechen müssen, weil Cottard in plötzlicher Aufregung ohne ein Wort der
Entschuldigung aus dem Laden stürzte. Grand und die Händlerin schauten ihm sprachlos nach.
In der Folge hatte Grand Rieux noch über weitere Änderungen in Cottards Wesen zu berichten. Er hatte
sich zum Beispiel in seinen Ansichten immer sehr freisinnig gezeigt. Sein Lieblingssatz «Die Großen
fressen immer die Kleinen auf» bewies das zur Genüge. Aber seit einiger Zeit kaufte er nur noch das
bürgerliche Blatt von Oran, und man konnte nicht umhin, zu glauben, daß er es mit einer gewissen
Absicht besonders gern in der Öffentlichkeit las. Desgleichen hatte er wenige Tage, nachdem er zum
erstenmal wieder aufgestanden war, Grand um die Freundlichkeit gebeten, wenn er doch gerade zur Post
gehe, für ihn die 100 Francs einzuzahlen, die er jeden Monat an eine ferne Schwester sandte. Aber als
Grand gehen wollte, fügte Cottard hinzu: «Schicken Sie ihr 200 Francs, das wird eine freudige
Überraschung für sie sein. Sie meint, ich dächte nie an sie, aber in Wirklichkeit liebe ich sie sehr.»
Schließlich hatte er mit Grand eine seltsame Unterhaltung. Cottard war auf die kleine Arbeit neugierig
geworden, der Grand sich jeden Abend widmete, und hatte diesen gezwungen, seine Fragen zu
beantworten.
«Also», hatte Cottard gesagt, «Sie schreiben ein Buch.»
«Sozusagen; aber die Sache ist viel verwickelter.»
«Ach!» hatte Cottard ausgerufen. «So etwas möchte ich auch gern machen.»
Grand hatte seine Verwunderung gezeigt, und Cottard hatte gestammelt, Künstler zu sein müsse doch
vieles erleichtern.
«Weshalb?» hatte Grand gefragt.
«Nun, weil bekanntlich ein Künstler mehr Rechte hat als die anderen Leute. Man läßt ihm mehr
durchgehen.»
«Ach was», sagte Rieux zu Grand an dem Morgen, da die Verordnung erschien. «Die Rattengeschichte
hat ihm wie vielen anderen den Kopf verdreht, sonst nichts. Oder vielleicht hat er Angst vor dem
Fieber.»
Grand erwiderte: «Ich glaube kaum, Herr Doktor, und wenn Sie meine Ansicht wissen wollen ...»
Der Wagen des Entrattungsdienstes fuhr mit großem Gepolter unter ihrem Fenster vorbei. Rieux
schwieg, bis er sich wieder verständlich machen konnte und bat den Angestellten dann zerstreut um seine
Meinung. Der blickte ihn tiefernst an und erklärte: «Er ist ein Mensch, der sich etwas vorzuwerfen hat.»
Der Arzt zuckte die Achseln. Wie der Polizeibeamte gesagt hatte, gab es größere Sorgen.
Am Nachmittag hatte Rieux eine Besprechung mit Castel. Der Impfstoff traf nicht ein.
«Und würde er überhaupt etwas nützen?» fragte Rieux. «Dieser Bazillus ist so merkwürdig.»
«Oh!» gab Castel zurück. «Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Diese Viecher scheinen immer etwas
Besonderes zu sein, aber im Grunde genommen ist es doch dasselbe.»
«Sie vermuten es wenigstens. In Wirklichkeit wissen wir nichts darüber.»
«Natürlich vermute ich das, aber in dieser Hinsicht geht es uns allen gleich.»
Während des ganzen Tages spürte der Arzt, wie das leise Schwindelgefühl wuchs, das ihn jedesmal
ergriff, wenn er an die Pest dachte. Schließlich erkannte er, daß er Angst hatte. Zweimal betrat er ein
überfülltes Café. Wie Cottard hatte auch er ein Bedürfnis nach menschlicher Wärme. Rieux fand das
stumpfsinnig, aber es erinnerte ihn daran, daß er dem Vertreter einen Besuch versprochen hatte.
Am Abend fand der Doktor Cottard im Eßzimmer an seinem Tisch. Als er eintrat, lag ein Kriminalroman
aufgeschlagen auf dem Tisch. Aber es war schon spät und gewiß kaum mehr möglich, in der
beginnenden Dämmerung zu lesen. Vielmehr hatte Cottard noch vor einer Minute dasitzen und im
Halbdunkel nachsinnen müssen. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Cottard setzte sich und brummte, es
gehe ihm gut, und es ginge ihm noch besser, wenn er sicher sein könnte, daß sich niemand um ihn
kümmere. Rieux gab ihm zu bedenken, daß man nicht immer allein bleiben könne.
«Oh, ich meine nicht das. Ich spreche von den Leuten, die sich darum kümmern, einem Verdruß zu
bereiten.»
Rieux schwieg.
«Wohlverstanden, ich spreche nicht von mir. Aber ich las in diesem Roman. Da ist so ein armer Kerl, der
wird eines Morgens einfach verhaftet. Man kümmerte sich um ihn, und er wußte nichts davon. Man
sprach von ihm in den Amtsstuben, man schrieb seinen Namen auf Zettel. Finden Sie das gerecht?
Finden Sie, daß man das Recht hat, einem Menschen so etwas anzutun?»
«Das kommt darauf an», erwiderte Rieux. «In gewisser Hinsicht hat man sicher nie das Recht dazu. Aber
das alles ist nebensächlich. Sie dürfen nicht zu lange abgeschlossen leben. Sie müssen ausgehen.»
Cottard schien sich aufzuregen und erklärte, er mache ja nichts anderes, und nötigenfalls könne das
ganze Viertel für ihn zeugen. Selbst über sein Viertel hinaus fehle es ihm nicht an Beziehungen.
«Kennen Sie Herrn Rigaud, den Architekten? Er ist ein Freund von mir.»
Die Schatten im Zimmer verdichteten sich. Draußen belebte sich die Vorstadtstraße, und ein dumpfer
Ausruf der Erleichterung begrüßte das Aufflammen der Straßenlaternen. Rieux trat auf den Balkon
hinaus, und Cottard folgte ihm.
Wie jeden Abend brachte die leichte Brise aus allen umliegenden Stadtvierteln Gemurmel, Bratenduft,
das ganze fröhliche und würzige Summen der Freiheit, das allmählich die Straßen erfüllte, in die nun
eine lärmende Jugend strömte. Die Nacht, das langgezogene Tuten der unsichtbaren Schiffe, das
Rauschen des Meeres und der Menge, das auf und ab schwoll, die Tageszeit, die Rieux so vertraut und
einst lieb war, schienen ihm heute bedrückend, weil er wußte.
«Können wir anzünden?» fragte er Cottard.
Als das Licht brannte, betrachtete ihn der kleine Mann mit blinzelnden Augen.
«Sagen Sie mir, Herr Doktor, würden Sie mich in Ihrer Abteilung aufnehmen, falls ich eines Tages krank
würde?»
«Warum nicht?»
Darauf erkundigte sich Cottard, ob es schon einmal vorgekommen sei, daß man einen Kranken im Spital
verhaftet habe.
Rieux gab zur Antwort, daß sich solches wohl schon ereignet habe, daß es aber ganz auf den Zustand des
Kranken ankomme.
«Ich habe Vertrauen zu Ihnen», sagte Cottard.
Dann bat er den Arzt, ihn in seinem Wagen in die Stadt mitzunehmen. In der Innenstadt waren die
Straßen schon weniger belebt und die Lichter seltener. Kinder spielten noch vor den Häusern. Auf
Cottards Wunsch hielt der Arzt seinen Wagen vor einem Trüpplein Kinder an. Sie spielten kreischend
das Himmel-und-Hölle-Spiel. Nur ein Knabe mit schwarzem, dicht anliegendem, sorgfältig
gescheiteltem Haar und schmutzigem Gesicht betrachtete Rieux unablässig mit seinen hellen,
einschüchternden Augen. Der Arzt wandte seinen Blick ab. Cottard stand auf dem Trottoir und schüttelte
ihm die Hand.
Der Vertreter sprach stoßweise, mit rauher Stimme. Zwei- oder dreimal schaute er sich um.
«Die Leute reden von einer Seuche. Stimmt das, Herr Doktor?»
«Die Leute reden immer. Das ist so ihre Art», antwortete Rieux.
«Da haben Sie recht. Und wenn wir ein Dutzend Tote haben, wird das als Weltende betrachtet. Nein, das
ist nicht, was wir brauchen.»
Der Motor brummte schon. Rieux hatte die Hand auf dem Ganghebel . Aber er schaute wieder das Kind
an, das ihn die ganze Zeit ernst und ruhig gemustert hatte. Und plötzlich, ohne Überlegung, lächelte ihm
der Junge strahlend zu.
«Was brauchen wir denn?» fragte der Arzt und lächelte zurück.
Da umklammerte Cottard auf einmal den Wagenschlag, und er schrie mit tränenerstickter, wuterfüllter
Stimme: «Ein Erdbeben. Ein richtiges !»
Dann stürzte er davon.
Es gab kein Erdbeben, und für Rieux brachte der ganze folgende Tag nichts als Besuche an allen Ecken
und Enden der Stadt, Besprechungen mit den Angehörigen der Kranken und Erörterungen mit den
Kranken selber. Noch nie war Rieux sein Beruf so beschwerlich erschienen. Bisher hatten ihm die
Kranken seine Aufgabe erleichtert, sie hatten sich ihm überlassen. Nun fand der Arzt sie zum erstenmal
widerstrebend, mit mißtrauischem Erstaunen ganz in ihre Krankheit geflüchtet. Er war dieses Ringen
noch nicht gewohnt. Und als er gegen zehn Uhr abends seinen Wagen vor dem Haus des alten
Asthmatikers anhielt, den er immer zuletzt besuchte, konnte er sich nur mit Mühe von seinem Sitz
losreißen. Er hielt sich damit auf, die dunkle Straße und die Sterne zu betrachten, die am Nachthimmel
aufleuchteten und verschwanden. Der alte Asthmatiker saß aufrecht in seinem Bett. Er schien leichter zu
atmen und zählte die Kichererbsen, die er von einem Topf in den andern füllte. Er empfing den Arzt mit
fröhlichem Gesicht.
«Nun, Herr Doktor, ist es die Cholera?»
«Woher haben Sie das ? »
«Aus der Zeitung. Und im Rundfunk haben sie es auch gesagt.»
«Nein, es ist nicht die Cholera.»
Äußerst aufgeregt stellte der Alte fest: «Jedenfalls fahren sie grobes Geschütz auf, die hohen Herren!»
«Glauben Sie das nicht», erwiderte Rieux.
Er hatte den Alten untersucht und saß jetzt in der Mitte des armseligen Eßzimmers. Ja, er hatte Angst. Er
wußte, daß ihn allein in dieser Vorstadt am nächsten Morgen ein Dutzend Kranke erwarten würden, alle
über ihre Geschwüre gebeugt. Nur in zwei oder drei Fällen hätte das Aufschneiden der Beulen eine
Besserung herbeigeführt. Aber für die meisten würde es nichts geben als das Spital, und er wußte, was
das Spital für die Armen bedeutete. «Ich will nicht, daß er ihnen als Versuchskaninchen dient», hatte ihm
die Frau eines Kranken gesagt. Er würde ihnen nicht als Versuchskaninchen dienen, er würde ganz
einfach sterben. Die Maßnahmen waren offensichtlich unzureichend. Was die «besonders dafür
eingerichteten» Säle betraf, so wußte er hinlänglich Bescheid: zwei kleine Gebäude, aus denen in aller
Eile die anderen Kranken entfernt worden waren. Die Fenster waren abgedichtet worden und das Ganze
ringsum durch den Gesundheitsdienst abgesperrt. Wenn die Epidemie nicht von selbst aufhörte, konnten
die von den Behörden ausgedachten Vorkehrungen sie nicht eindämmen.
Die amtlichen Abendnachrichten blieben indessen zuversichtlich. Am nächsten Tag meldete die Agentur
Ransdoc, die Vorschriften des Präfekten seien mit Ruhe aufgenommen worden und über dreißig Kranke
hätten sich bereits gemeldet. Castel hatte Rieux angerufen.
«Wieviel Betten enthalten eigentlich die beiden Hilfsspitäler?»
«Achtzig.»
«Es gibt doch sicher dreißig Fälle in der Stadt?»
«Die einen haben Angst und die anderen, die meisten, haben keine Zeit gehabt.»
«Werden die Beerdigungen überwacht?»
«Nein. Ich habe Richard am Telefon erklärt, daß durchgreifende Maßnahmen erforderlich sind, nicht
Phrasen, und daß man eine richtige Mauer vor der Epidemie aufrichten oder gar nichts unternehmen
soll.»
«Und dann?»
«Er hat geantwortet, er habe keine Befugnis. Ich glaube, daß sie zunehmen wird.»
Nach drei Tagen waren die beiden Hilfsgebäude tatsächlich voll. Richard glaubte zu wissen, daß eine
Schule geräumt und ein Hilfsspital eingerichtet werde. Rieux wartete auf den Impfstoff und schnitt die
Beulen auf. Castel kehrte zu seinen alten Büchern zurück und verbrachte oft lange Zeit in der Bibliothek.
«Die Ratten sind an der Pest gestorben oder an einer äußerst ähnlichen Krankheit», so lautete seine
Schlußfolgerung. «Sie haben Zehntausende von Flöhen ausgesät, die die Ansteckung nach den Gesetzen
einer geometrischen Reihe übertragen werden, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird.»
Rieux schwieg.
Das schöne Wetter schien jetzt andauern zu wollen. Die Sonne saugte die Pfützen der letzten Regenfälle
auf. Ein wunderbar blauer, von goldenem Licht überfließender Himmel, Flugzeugbrummen in der ersten
Hitze, alles, die ganze Jahreszeit, lud zum Frohsinn ein. Indessen machte das Fieber in vier Tagen vier
überraschende Sprünge: erst 16, dann 24, 28 und 32 Tote. Am vierten Tag wurde die Eröffnung des
Hilfsspitals in einem Kindergarten angekündigt. Unsere Mitbürger, die bisher ihre Besorgnis immer noch
hinter Scherzworten verborgen hatten, erschienen nun auf der Straße niedergeschlagener und
schweigsamer. Rieux entschloß sich, den Präfekten anzurufen.
«Die Maßnahmen sind unzulänglich.»
«Ja», erwiderte der Präfekt, «ich habe die Ziffern vor mir, sie sind wirklich beunruhigend.»
«Sie sind mehr als beunruhigend, sie sind eindeutig.»
«Ich werde die Landesregierung um Befehle bitten.»
Rieux hängte ein und sagte zu Castel: «Befehle? Phantasie brauchte man.»
«Und der Impfstoff?»
«Er wird im Laufe der Woche eintreffen.»
Durch Richard ließ die Präfektur Rieux beauftragen, ein Gutachten abzufassen, das in die Hauptstadt der
Kolonie geschickt werden und als Grundlage für die verlangten Befehle dienen sollte. Rieux gab eine
klinische Beschreibung und Zahlen. An demselben Tag verzeichnete man über vierzig Tote. Der Präfekt
nahm es auf sich, wie er sich ausdrückte, die Vorschriften vom nächsten Tag an zu verschärfen. Der
Meldezwang und die Absonderung wurden beibehalten. Die Häuser der Erkrankten mußten geschlossen
und desinfiziert werden, die Angehörigen wurden einer vorsorglichen Quarantäne unterworfen, die
Beerdigung von der Stadt organisiert; wie, wird man noch sehen. Einen Tag später traf der Impfstoff mit
dem Flugzeug ein. Er mochte für die Behandlung der schon bekannten Fälle ausreichen. Er war aber
ungenügend, wenn die Epidemie sich ausdehnen sollte. Auf sein Telegramm erhielt Rieux zur Antwort,
die Vorräte seien erschöpft und die Neuherstellung habe begonnen.
Unterdessen strömte aus der ganzen Umgegend der Frühling auf den Markt. In den Körben der Händler
am Rande der Straßen verblühten die Rosen zu Tausenden, und ihr süßer Duft durchzog die ganze Stadt.
Nichts schien verändert. Die Straßenbahnen waren zu den Stoßzeiten noch immer überfüllt, tagsüber leer
und schmutzig. Tarrou beobachtete den kleinen Alten, und der kleine Alte spuckte auf die Katzen. Grand
kehrte Abend für Abend zu seiner geheimnisvollen Arbeit nach Hause zurück. Cottard strich herum, und
Herr Othon, der Untersuchungsrichter, leitete weiter seinen Zirkus. Der alte Asthmatiker füllte seine
Erbsen um, und manchmal begegnete man dem ruhigen, teilnehmenden Gesicht des Journalisten
Rambert. Die gleiche Volksmenge erfüllte am Abend die Straßen, und vor den Kinos wurden die
Schlangen länger. Die Seuche schien übrigens zurückzugehen, und während einiger Tage wurden kaum
mehr als zehn Tote gezählt. Dann schnellte sie plötzlich wieder in die Höhe. An dem Tag, da die
Todesfälle wieder auf über dreißig gestiegen waren, las Bernard Rieux die amtliche Depesche, die der
Präfekt ihm mit den Worten hinstreckte: «Sie haben Angst gekriegt.» Das Telegramm lautete:
«Pestzustand erklären, Stadt schließen.»
2
Man kann sagen, daß von diesem Augenblick an die Pest uns alle betraf. Bis jetzt war jeder Bürger trotz
der Überraschung und der Besorgnis, die diese merkwürdigen Ereignisse mit sich brachten, an seinem
gewohnten Platz seiner Arbeit nachgegangen, so gut er konnte. Und das mußte zweifellos so bleiben.
Aber als nun die Tore geschlossen waren, merkten sie, daß sie alle, auch der Erzähler, in der gleichen
Falle saßen und daß sie sich damit abfinden mußten. So geschah es zum Beispiel, daß ein so
urpersönliches Gefühl wie das der Trennung von einem geliebten Menschen plötzlich, und schon in den
ersten Wochen, ein ganzes Volk erfüllte und zusammen mit der Angst das größte Leid dieser langen Zeit
der Verbannung bildete.
Eine der auffälligsten Folgen der geschlossenen Tore war in der Tat die jähe Trennung, die die Leute
unvorbereitet traf. Mütter und Kinder, Ehegatten, Liebespaare, die sich vor wenigen Tagen auf kurze Zeit
getrennt, die sich auf dem Bahnsteig mit zwei oder drei Ermahnungen verabschiedet hatten, in der
Gewißheit, daß sie sich in ein paar Tagen oder Wochen wiedersehen würden, die sich, erfüllt vom
blinden Vertrauen der Menschen, durch diese Abreise kaum von ihren gewohnten Gedankengängen
ablenken ließen, sie alle waren mit einem Schlag hoffnungslos weit entfernt voneinander, unfähig,
zusammenzukommen oder miteinander zu verkehren. Denn die Tore waren ein paar Stunden vor der
Bekanntmachung des Präfekten geschlossen worden, und es war natürlich unmöglich, auf Einzelfälle
Rücksicht zu nehmen. Man kann sagen, daß die erste Folge dieses schonungslosen Einbruchs der
Krankheit unsere Mitbürger zu handeln zwang, als hätten sie keine persönlichen Gefühle. Während der
ersten Stunden nach dem Inkrafttreten der Verordnung wurde die Präfektur von einem Heer von
Bittstellern belagert, die telefonisch oder persönlich ihren Fall auseinandersetzten, der bei allen gleich
dringlich war und gleich unberücksichtigt bleiben mußte. Wir brauchten wirklich einige Tage, ehe uns
klarwurde, daß wir uns in einer ausweglosen Lage befanden, in der die Wörter «verhandeln», «Gunst»,
«Ausnahme» keinen Sinn mehr hatten.
Sogar die leichte Befriedigung des Schreibens wurde uns versagt. Einerseits war die Stadt tatsächlich
nicht mehr durch die gewöhnlichen Verkehrsmittel mit dem übrigen Land verbunden, und andererseits
untersagte eine neue Verordnung jeglichen Briefwechsel, um zu verhüten, daß die Briefe zu
Infektionsträgern würden. Am Anfang konnten sich einige Bevorzugte an den Stadttoren mit den
Wachtposten verständigen, die einwilligten, Botschaften hinauszubefördern. Aber das war in den ersten
Tagen der Seuche, in einem Augenblick, da es die Wachen natürlich fanden, einem Gefühl des Mitleids
nachzugeben. Als jedoch nach einiger Zeit diese gleichen Wachen fest vom Ernst der Lage überzeugt
waren, weigerten sie sich, eine Verantwortung zu übernehmen, deren Tragweite sie nicht absehen
konnten. Die Ferngespräche, die anfänglich erlaubt waren, hatten eine solche Überlastung der Leitungen
und der öffentlichen Sprechstellen zur Folge, daß sie nach einigen Tagen gänzlich verboten und nachher
streng auf die sogenannten dringlichen Fälle wie Tod, Geburt und Hochzeit beschränkt wurden. Die
Telegramme blieben nun unser einziger Ausweg. Menschen, die geistig, seelisch und körperlich
verbunden waren, mußten die Zeichen dieser alten Gemeinschaft in den Druckbuchstaben einer
Depesche von zehn Worten zusammensuchen. Und da die Wendungen, die in einem Telegramm zu
gebrauchen sind, schnell erschöpft werden, verdichteten sich lange, gemeinsam durchlebte Jahre oder
schmerzliche Leidenschaften rasch zu einem regelmäßigen Austausch stehender Redensarten wie: «Bin
gesund. Denke an Dich. Alles Liebe.»
Einige unter uns versteiften sich indessen aufs Schreiben; um mit der Außenwelt in Verbindung zu
treten, ersannen sie unablässig Mittel und Wege, die sich zum Schluß jedoch immer als trügerisch
erwiesen. Auch wenn einige dieser Wege zum Ziel führten, wußten wir nichts davon, da wir keine
Antwort erhielten. Wochenlang waren wir also gezwungen, unaufhörlich denselben Brief neu
anzufangen, dieselben Nachrichten und dieselben Hilferufe abzuschreiben, so daß nach einiger Zeit die
Worte, die zuerst mit unserem Herzblut geschrieben waren, ihren Sinn verloren. Nun wiederholten wir
sie automatisch und versuchten, mit Hilfe dieser toten Sätze ein Bild unseres schweren Lebens zu
zeichnen. Und schließlich schien uns ein Telegramm mit seinem überlieferten Gruß noch besser als
dieses unfruchtbare und beharrliche Selbstgespräch, diese öde Unterhaltung mit einer Wand.
Als es übrigens nach einigen Tagen feststand, daß es niemandem gelingen werde, die Stadt zu verlassen,
warf man die Frage auf, ob es nicht möglich wäre, denjenigen die Rückkehr zu gestatten, die vor der
Seuche weggegangen waren. Nach ein paar Tagen der Überlegung antwortete die Präfektur mit ja. Aber
es wurde betont, daß die Heimkehrer auf gar keinen Fall wieder aus der Stadt hinaus dürften, daß es
ihnen wohl freistehe zu kommen, aber nicht, wieder zu gehen. Auch jetzt nahmen ein paar wenige
Familien die Angelegenheit noch auf die leichte Schulter; da ihnen der Wunsch, ihre Verwandten
wiederzusehen, über alles ging, forderten sie sie auf, die Gelegenheit zu nutzen. Aber die Gefangenen der
Pest begriffen sehr schnell, welcher Gefahr sie ihre Angehörigen aussetzten, und nahmen es auf sich, die
Trennung zu erdulden. Als die Krankheit am schlimmsten wütete, gab es nur einen einzigen Fall, wo die
menschlichen Gefühle stärker waren als die Angst vor einem qualvollen Tod. Und es handelte sich nicht,
wie man eigentlich erwartet hätte, um ein Liebespaar, das die Leidenschaft über alles Elend hinweg
zueinandertrieb. Es betraf den alten Dr. Castel und seine Frau, die seit vielen Jahren verheiratet waren.
Einige Tage vor der Epidemie hatte sich Frau Castel in eine benachbarte Stadt begeben. Die beiden
führten nicht einmal eine jener Ehen, die der Welt das Muster eines vorbildlichen Glücks vor Augen
führten, und der Erzähler darf sogar sagen, daß diese Eheleute sehr wahrscheinlich früher gar nicht sicher
waren, ob ihre Ehe sie befriedigte. Aber diese plötzliche und lange Trennung hatte ihnen klargemacht,
daß sie nicht ohne einander leben konnten und daß neben dieser unvermutet entdeckten Wahrheit die
Pest wenig Bedeutung hatte.
Das war eine Ausnahme. In den meisten Fällen sollte augenscheinlich die Trennung erst mit der
Epidemie ein Ende nehmen. Und das Gefühl, das unser Leben ausmachte und das wir so gut zu kennen
vermeinten (die Oraner haben, wie gesagt, ungekünstelte Leidenschaften), bekam für uns alle ein neues
Gesicht. Ehemänner und Liebhaber, die das größte Vertrauen in ihre Gefährtin hatten, merkten plötzlich,
daß sie eifersüchtig waren. Männer, die glaubten, sie seien unbeständig, entdeckten ihre Treue. Söhne,
die bei ihrer Mutter gelebt und sie kaum angesehen hatten, legten ihre ganze Besorgnis und Reue in eine
Falte ihres Gesichts, das sie in der Erinnerung verfolgte. Diese grausame Trennung ohne absehbare
Zukunft brachte uns aus der Fassung und lieferte uns wehrlos den Erinnerungen an jene noch so greifbar
nahe und doch so ferne Gegenwart aus, die nun unsere Tage erfüllten. In Wirklichkeit litten wir doppelt -
zuerst an unserem eigenen Schmerz und dann, indem wir uns in die Abwesenden hineinversetzten, in den
Sohn, die Gattin oder die Geliebte.
Unter anderen Umständen hätten unsere Mitbürger übrigens in einem äußerlicheren und tätigeren Leben
einen Ausweg gefunden. Aber die Pest überließ sie auch dem Müßiggang, zwang sie, sich in der trüben
Stadt im Kreis zu bewegen und Tag für Tag die Beute der enttäuschenden Spiele der Erinnerung zu
werden. Denn ihre ziellosen Spaziergänge führten sie immer wieder durch dieselben Straßen, und da die
Stadt klein ist, waren es meistens Wege, die sie zu einer anderen Zeit mit dem Abwesenden gegangen
waren.
So brachte die Pest unseren Mitbürgern als erstes die Verbannung. Und der Erzähler ist überzeugt, daß er
hier im Namen aller berichten darf, was er selber damals empfand, da er es mit vielen unserer Mitbürger
zugleich erlebte. Denn das war wirklich das Gefühl der Verbannung, jene Leere, die wir unablässig in
uns trugen, diese besondere innere Unruhe, der unvernünftige Wunsch, in die Vergangenheit
zurückzukehren oder im Gegenteil die Zeit vorwärts zu treiben, diese brennenden Pfeile der Erinnerung.
Wenn wir uns manchmal gehen ließen und uns vorstellten, nun werde bald ein Klingeln oder ein
vertrauter Schritt im Treppenhaus die Rückkehr verkünden, wenn wir uns in diesen Augenblicken
erlaubten, zu vergessen, daß keine Züge fuhren, wenn wir es so einrichteten, daß wir um die Zeit zu
Hause waren, da die Reisenden des Nachtschnellzugs in unserem Viertel anlangen mochten, so konnten
diese Spielereien selbstverständlich nicht lange dauern. Es kam immer der Augenblick, in dem wir uns
klar bewußt wurden, daß keine Züge ankamen. Dann wußten wir, daß unsere Trennung andauern würde
und daß wir versuchen mußten, mit der Zeit fertig zu werden. Damit traten wir wieder in die Reihe der
Gefangenen zurück, wir waren einzig auf die Vergangenheit angewiesen, und wenn auch einige unter uns
versucht waren, in der Zukunft zu leben, so verzichteten sie doch schnell darauf, wenigstens so gut sie
konnten, als sie die Wunden spürten, die die Einbildung schließlich denen zufügt, die sich ihr
anvertrauen.
Insbesondere verzichteten alle unsere Mitbürger sehr schnell auch in der Öffentlichkeit auf die
Gewohnheit, die Dauer ihrer Trennung abzuschätzen. Warum ? Wenn die größten Schwarzseher sie auf -
sagen wir sechs Monate festgesetzt hatten, wenn sie im voraus die ganze Bitterkeit dieser kommenden
Monate ausgekostet, ihren Mut mit großer Mühe auf die Höhe dieser Prüfung geschraubt und ihre letzten
Kräfte angespannt hatten, um, ohne zu verzagen, diesem auf so viele Tage ausgedehnten Leiden
gewachsen zu sein, dann kamen sie manchmal durch einen Zufallsbekannten, durch eine
Zeitungsmeinung, durch einen flüchtigen Argwohn oder eine plötzliche Einsicht auf den Gedanken,
schließlich sei kein Grund vorhanden, warum die Krankheit nicht länger als sechs Monate dauern sollte,
vielleicht ein Jahr, vielleicht noch länger.
In diesem Augenblick war der Zusammenbruch ihres Mutes, ihres Willens und ihrer Geduld so jäh, daß
es ihnen schien, sie könnten nie mehr aus diesem tiefen Brunnen herauskommen. Deshalb zwangen sie
sich, nie an den Zeitpunkt ihrer Erlösung zu denken, nicht mehr in die Zukunft zu schauen und sozusagen
mit niedergeschlagenen Augen zu leben. Aber diese Vorsicht, diese Art, den Schmerz zu überlisten, in
Deckung zu gehen, um dem Kampf auszuweichen, wurden natürlich schlecht gelohnt. Sie vermieden
zwar den Zusammenbruch, dem sie um jeden Preis vorbeugen wollten, aber gleichzeitig beraubten sie
sich auch der eigentlich recht häufigen Augenblicke, da sie in den Bildern ihrer kommenden Vereinigung
die Pest vergessen konnten. Und so scheiterten sie zwischen Abgrund und Gipfel, schwankten mehr als
sie lebten, richtungslosen Tagen und unfruchtbaren Erinnerungen preisgegeben, irrenden Schatten gleich,
und hätten nur Kraft schöpfen können, wenn sie eingewilligt hätten, im Erdreich ihres Schmerzes Wurzel
zu fassen.
Sie empfanden so das tiefe Leiden aller Gefangenen und aller Ausgestoßenen, die mit unnützen
Erinnerungen leben müssen. Selbst die Vergangenheit, an die sie ohne Unterlaß dachten, hatte nur den
Geschmack der Reue. Sie hätten ihr alles hinzufügen wollen, was sie zu ihrem Leidwesen versäumt
hatten, als sie es noch mit dem- oder derjenigen tun konnten, auf die sie jetzt warteten - so wie sie den
Abwesenden mit allen, auch den verhältnismäßig glücklichen, Umständen ihres Gefangenenlebens
verbanden und rückblickend mit sich selbst unzufrieden waren. Der Gegenwart überdrüssig, der
Vergangenheit feind und ohne Zukunft, so glichen wir wahrhaft denen, die die Gerechtigkeit oder der
Haß der Menschen hinter Gitterstäbe zwingt. Um dieser unerträglichen Leere zu entrinnen, blieb einem
schließlich nur ein einziges Mittel: in Gedanken die Züge wieder fahren zu lassen und die Stunden immer
wieder mit dem Glockenspiel einer Klingel zu erfüllen, die doch beharrlich schwieg.
Aber wenn es auch die Verbannung war, so war es doch in den meisten Fällen die Verbannung bei sich
zu Hause. Und obwohl der Erzähler nur diese allgemeine Verbannung erlebt hat, darf er doch die Leute
wie den Journalisten Rambert und andere nicht vergessen, für die die Leiden der Trennung sich
vervielfachten, weil sie auf der Reise von der Pest überrascht worden waren und nun in der Stadt
festgehalten wurden und auf diese Weise von dem Menschen, mit dem sie sich nicht vereinigen konnten,
und von ihrer Heimat abgeschnitten blieben. In der allgemeinen Verbannung waren sie am meisten
verbannt, denn wenn die Zeit bei ihnen wie bei allen anderen auch die Beklemmung hervorrief, die ihr
eigen ist, so waren sie zudem noch an den Raum gebunden und stießen unablässig an die Mauern, die
ihren verpesteten Aufenthaltsort von ihrer Heimat schieden. Zweifellos waren sie es, die man zu allen
Tageszeiten in der staubigen Stadt herumirren sah, wo sie wortlos ihnen allein bekannte Abende und die
Morgen ihres Landes heraufbeschworen. Sie nährten ihr Heimweh mit ungreifbaren Zeichen und
verwirrenden Botschaften, einem Schwalbenflug, einem Abendtau oder jenen seltsamen Strahlen, die die
Sonne manchmal in den verödeten Straßen zurückläßt. Jene äußere Welt, die immer vor allem erretten
kann, wollte sie nicht mehr sehen; mit der gleichen Verbohrtheit hegten sie ihre allzu wirklichen
Hirngespinste, jagten mit ihrer ganzen Kraft den Bildern einer Erde nach, wo ein bestimmtes Licht, zwei
oder drei Hügel, der Lieblingsbaum und Frauenantlitze ein für sie unersetzliches Ganzes schufen.
Um endlich noch ausdrücklich von den Liebesleuten zu sprechen, die am anziehendsten sind und von
denen zu berichten der Erzähler vielleicht besser in der Lage ist, so wurden sie noch von anderen Qualen
bedrängt, unter denen man die Gewissensbisse hervorheben muß. Diese Verhältnisse erlaubten ihnen
nämlich, ihre Gefühle mit einer Art fieberhafter Unvoreingenommenheit zu betrachten. Und es kam
selten vor, daß ihre eigenen Fehler und Mängel ihnen bei diesem Anlaß nicht klar erschienen wären. Die
erste Gelegenheit dazu fanden sie in der Mühe, die sie hatten, sich die Handlungen und Gebärden des
Abwesenden genau vorzustellen. Da beklagten sie, daß sie seinen Tageslauf nicht kannten; sie machten
sich ihren Leichtsinn zum Vorwurf, weil sie es versäumt hatten, sich danach zu erkundigen und
vorgegeben hatten, nicht zu wissen, daß für einen Liebenden die Zeiteinteilung des geliebten Menschen
die Quelle aller Freuden ist. Von dem Augenblick an war es leicht für sie, den Weg ihrer Liebe
zurückzugehen und ihre Unvollkommenheiten zu prüfen. In gewöhnlichen Zeiten empfanden wir alle,
bewußt oder unbewußt, daß es keine Liebe gibt, die sich nicht noch steigern kann, und doch ließen wir es
mehr oder weniger gleichmütig zu, daß die unsere mittelmäßig blieb. Aber die Erinnerung ist
anspruchsvoller. Und das Unglück, das von außen kam und eine ganze Stadt traf, brachte uns sehr
folgerichtig mehr als nur ein ungerechtes Leiden, über das wir uns hätten empören können. Es trieb uns
auch an, uns selber leiden zu machen und so in den Schmerz einzuwilligen. Das war eine der Arten, auf
welche die Krankheit die Aufmerksamkeit ablenkte und Verwirrung stiftete.
So mußte jeder sich darein fügen, in den Tag hinein zu leben, allein im Angesicht des Himmels. Die
allgemeine Verlassenheit, die mit der Zeit die Persönlichkeiten stählen konnte, machte sie zunächst
oberflächlich. Einige unserer Mitbürger wurden zum Beispiel damals Sklaven im Dienste der Sonne und
des Regens. Ihrem Verhalten nach schienen sie zum erstenmal den unmittelbaren Eindruck des Wetters
zu empfangen. Bei einem einfachen Strahl goldenen Lichtes erhellte sich ihr Gesicht, während sich an
Regentagen ein dichter Schleier über ihr Antlitz und ihre Gedanken legte. Noch vor wenigen Wochen
entgingen sie dieser Schwäche und dieser unvernünftigen Knechtschaft, weil sie der Welt nicht allein
gegenüberstanden und sich in gewissem Maß der Mensch, mit dem sie lebten, vor ihr Universum stellte.
Von nun an waren sie im Gegenteil den Launen des Himmels ausgeliefert, das heißt, daß sie ohne Grund
litten und hofften.
In dieser äußersten Einsamkeit konnte niemand auf die Hilfe des Nachbarn zählen, und jeder blieb mit
seinen Gedanken allein. Wenn einer von uns zufällig versuchte, aus sich herauszugehen und etwas von
seinen Gefühlen zu verraten, so war die Antwort, die er erhielt, fast stets verletzend, gleichgültig, wie
immer sie ausfiel. Er merkte dann, daß sie aneinander vorbeiredeten. Er wollte nämlich ausdrücken, was
in endlosen Tagen des Grübeins und Leidens in ihm gereift war, und das Bild, das er zu vermitteln
suchte, war lange im Feuer des Wartens und der Leidenschaft geglüht worden. Der andere indessen
stellte sich eine der üblichen Empfindungen vor, den Schmerz, wie man ihn auf dem Markt verkauft, eine
schablonenhafte Schwermut. Die Antwort mochte wohlwollend oder feindselig ausfallen, sie traf immer
daneben, man mußte darauf verzichten. Die aber das Schweigen nicht ertrugen, fügten sich wenigstens
darein, die Marktsprache zu gebrauchen, da die anderen die wahre Sprache des Herzens nicht fanden,
und nun verwendeten auch sie die herkömmlichen Redensarten, die Sprache der einfachen
Berichterstattung und der vermischten Nachrichten, der täglichen Chronik gewissermaßen. Die zutiefst
gefühlten Schmerzen wurden meistens in den nichtssagenden Ausdrucksformeln der Unterhaltung
wiedergegeben. Nur so erlangten die Gefangenen der Pest das Mitgefühl des Hauswarts oder die
Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer.
So schmerzlich diese Bedrängnis auch war, so schwer das doch leere Herz auch sein mochte, so ist es
dennoch sehr wichtig, zu sagen, daß in dieser ersten Periode der Pest diese Verbannten noch Bevorzugte
waren. Denn im Augenblick, da die Bevölkerung anfing, die Beherrschung zu verlieren, waren ihre
Gedanken ausschließlich auf den Menschen gerichtet, den sie erwarteten. In der allgemeinen
Verzweiflung schützte sie die Selbstsucht der Liebe: wenn sie an die Pest dachten, so geschah es immer
nur in dem Maße, als sie mit der Trennung auf ewig drohte. So boten sie auch inmitten der Seuche ein
Bild heilsamer Zerstreutheit, und man war versucht, sie als Kaltblütigkeit anzusehen. Ihre
Hoffnungslosigkeit rettete sie vor der Panik, ihr Unglück hatte auch sein Gutes. Wenn einer von ihnen
zum Beispiel von der Krankheit dahingerafft wurde, so geschah es fast immer, ohne daß er Zeit hatte, es
zu merken. Ohne Übergang wurde er aus diesem langen, inneren Gespräch mit einem Schatten
herausgerissen und in das tiefe Schweigen der Erde geworfen. Er hatte zu nichts mehr Zeit gehabt.
Während unsere Mitbürger versuchten, sich an die plötzliche Verbannung zu gewöhnen, stellte die Pest
Wachen an die Tore und leitete die Schiffe, die Oran anlaufen wollten, nach anderen Häfen um. Seit die
Stadt geschlossen wurde, war kein einziges Fahrzeug mehr hereingekommen. Von diesem Tag an hatte
man den Eindruck, die Autos begännen im Kreis herumzufahren. Auch der Hafen bot denen, die ihn von
den Boulevards aus betrachteten, ein seltsames Bild. Die gewohnte Belebtheit, die ihn zu einem der
wichtigsten Häfen der Küste machte, war mit einem Schlag erloschen. Man sah nur noch ein paar
Schiffe, die in Quarantäne lagen. Aber in den Hafenanlagen zeugten die verlassenen Krane, die auf die
Seite gestürzten Kippwagen, die Stapel Fässer oder Säcke davon, daß auch der Handel an der Pest
gestorben war.
Trotz dieses ungewohnten Schauspiels hatten unsere Mitbürger offenkundig Mühe zu begreifen, was
ihnen zustieß. Es gab wohl gemeinsame Gefühle, wie die Trennung oder die Angst, doch wurden auch
weiterhin die eigenen Angelegenheiten am wichtigsten genommen. Noch niemand hatte die Krankheit
wirklich anerkannt. Die meisten waren hauptsächlich empfindlich für alles, was sie in ihren
Gewohnheiten störte oder ihren Vorteil bedrohte. Dadurch wurden sie gereizt oder aufgebracht, und das
sind keine Gefühle, die man der Pest entgegenhalten könnte. So war zum Beispiel ihr erster Gedanke, die
Verwaltung zu beschuldigen. Diese von der Presse aufgegriffenen Kritiken («Könnte man keine
Lockerung der vorgesehenen Maßnahmen vorsehen?») erhielten vom Präfekten eine recht unerwartete
Antwort. Bisher waren die Statistiken weder den Zeitungen noch der Agentur Ransdoc amtlich mitgeteilt
worden. Nun übermittelte sie der Präfekt Tag für Tag an die Agentur mit der Bitte um wöchentliche
Bekanntgabe.
Jedoch auch jetzt war keine unmittelbare Wirkung auf die Öffentlichkeit festzustellen. Die Meldung, daß
die dritte Pestwoche 302 Tote gekostet habe, sprach die Einbildungskraft nicht an. Einerseits waren
vielleicht gar nicht alle an der Pest gestorben, und andererseits wußte in der Stadt niemand genau,
wieviel Leute in gewöhnlichen Zeiten jede Woche starben. Die Stadt hatte zweihunderttausend
Einwohner. Niemand wußte, ob diese Anzahl Todesfälle den normalen Verhältnissen entsprach. Das
gehört gerade zu jener Art genauer Feststellungen, um die man sich nie kümmert, obwohl sie von
offensichtlicher Bedeutung sind. Irgendwie fehlte es den Leuten an Vergleichsmöglichkeiten. Die
Wahrheit wurde der öffentlichen Meinung nur langsam bewußt, während sie die Vermehrung der
Todesfälle feststellte. In der fünften Woche betrug die Zahl der Toten nämlich 321 und in der sechsten
345. Diese Zunahme redete wenigstens eine deutliche Sprache. Aber sie war nicht stark genug, unsere
Mitbürger daran zu hindern, mitten in ihrer Besorgnis den Eindruck zu bewahren, daß es sich um einen
zweifellos ärgerlichen, aber schließlich doch nur vorübergehenden Zwischenfall handle.
Also fuhren sie fort, in den Straßen zu verkehren und sich an den Tischen vor den Cafés niederzulassen.
Im allgemeinen waren sie nicht feige, wechselten mehr Scherzworte als Klagen und gaben vor, die
Unannehmlichkeiten, die ja nur von kurzer Dauer sein konnten, mit gutem Humor zu ertragen. Der
Schein blieb gewahrt. Gegen Ende des Monats jedoch, ungefähr während der Betwoche, von der später
die Rede sein wird, veränderten tiefergreifende Wandlungen das Aussehen unserer Stadt. Zunächst traf
der Präfekt Maßnahmen, die den Fahrzeugverkehr und die Ernährung betrafen. Die Lebensmittel und der
Treibstoff wurden rationiert. Es wurden sogar Einsparungen im Elektrizitätsverbrauch vorgeschrieben.
Nur die unentbehrlichsten Güter gelangten auf dem Land- und Luftwege nach Oran. So sah man, wie der
Verkehr abnahm und allmählich fast völlig aufhörte, wie Luxusgeschäfte ihre Pforten von einem Tag auf
den andern schlössen. Wieder andere Läden stellten in ihren Auslagen Listen der fehlenden Waren auf,
während die Käufer vor den Eingängen Schlange standen.
Das verlieh Oran ein seltsames Aussehen. Die Zahl der Fußgänger stieg beträchtlich, und selbst während
der ruhigsten Tageszeit belebten viele Leute die Straßen und Cafés, weil sie durch die Schließung der
Läden oder einzelner Betriebe zur Untätigkeit gezwungen wurden. Für den Augenblick waren sie noch
nicht arbeitslos, sondern im Urlaub. Damals erweckte Oran zum Beispiel nachmittags gegen drei Uhr
und bei schönem Wetter den trügerischen Eindruck einer Stadt, die ein Fest begeht, die den Verkehr
angehalten und die Läden geschlossen hat, um eine öffentliche Kundgebung zu ermöglichen, während
die Einwohner sich auf die Straße begeben, um an den Festlichkeiten teilzunehmen.
Selbstverständlich schlugen die Kinos Vorteil aus diesen allgemeinen Ferien und machten große
Geschäfte. Aber der Kreislauf, den die Filme innerhalb des Departements einzuhalten pflegten, war
unterbrochen. Nach zwei Wochen waren die Unternehmer gezwungen, ihre Programme untereinander
auszutauschen, und einige Zeit später führte jedes Kino ständig den gleichen Film vor. Trotzdem gingen
die Einnahmen nicht zurück.
Die Cafés schließlich konnten die Gäste weiterhin bedienen, weil die Vorräte in einer hauptsächlich auf
Wein- und Spirituosenhandel eingestellten Stadt beträchtlich waren. Um die Wahrheit zu sagen: man
trank viel. Nachdem eine Weinstube angeschlagen hatte: «Der edlen Reben Saft bricht der Mikroben
Kraft», verstärkte sich die allgemeine, den Leuten schon längst vertraute Auffassung, daß der Alkohol
vor ansteckenden Krankheiten schütze. Jede Nacht, gegen zwei Uhr morgens, wurde ein beträchtlicher
Schwarm Betrunkener aus den Weinstuben geworfen und ergoß sich unter optimistischen Bemerkungen
in die Straßen.
Aber in gewissem Sinne waren alle diese Veränderungen so außergewöhnlich und so plötzlich
eingetreten, daß es nicht leicht fiel, sie als normal und dauerhaft zu betrachten. Das Ergebnis war, daß
wir fortfuhren, unsere persönlichen Empfindungen in den Vordergrund zu stellen.
Zwei Tage, nachdem die Stadt geschlossen worden war, stieß Dr. Rieux beim Verlassen des Spitals auf
Cottard, dessen Gesicht vor Zufriedenheit glänzte. Rieux beglückwünschte ihn zu seinem guten
Aussehen, und der kleine Mann sagte: «Ja, es geht mir ganz ausgezeichnet. Ja, Herr Doktor, diese
verfluchte Pest! Es scheint wirklich ernst zu werden.»
Der Arzt gab das zu. Und der andere stellte mit einer gewissen Heiterkeit fest: «Ich sehe keinen Grund,
warum sie jetzt aufhören sollte. Alles wird drunter und drüber gehen.»
Sie gingen ein Weilchen Seite an Seite. Cottard erzählte, ein reicher Delikatessenhändler seines Viertels
habe Lager von Lebensmitteln angelegt, um sie zu überhöhten Preisen zu verkaufen, und es seien
Konservenbüchsen unter seinem Bett gefunden worden, als man ihn ins Spital holte. «Dort ist er
gestorben. Die Pest, die macht sich nicht bezahlt.» Cottard wußte zahllose wahre und erfundene
Geschichten über die Pest zu erzählen. Man sagte zum Beispiel, eines Morgens sei in der Innenstadt ein
von der Krankheit gezeichneter Mann im Delirium auf die Straße gestürzt, habe sich auf die erste beste
Frau geworfen, sie umarmt und dazu geschrien, er habe die Pest.
«Schön», bemerkte Cottard, «wir werden noch alle verrückt, das ist sicher.»
Und sein freundlicher Ton paßte gar nicht zu seiner Behauptung.
Desgleichen, noch am selben Nachmittag, hatte Grand sich dazu entschlossen, sich Dr. Rieux
anzuvertrauen. Er hatte auf dem Schreibtisch eine Fotografie von Frau Rieux bemerkt und den Arzt
fragend angeschaut. Rieux antwortete, seine Frau weile außerhalb der Stadt zur Kur, und Grand sagte:
«In gewisser Hinsicht ist das ein Glück.»
Der Doktor erwiderte, es sei sicher ein Glück, und man müsse nur hoffen, daß seine Frau gesund werde.
«Ah», sagte Grand, «ich verstehe.»
Und zum erstenmal, seit Rieux ihn kannte, begann er ausführlich zu erzählen. Obwohl er auch jetzt noch
seine Worte suchen mußte, gelang es ihm fast immer, sie zu finden, als habe er schon seit langem über
das nachgedacht, was er jetzt vorbrachte.
Er hatte sich sehr früh mit einem blutjungen, armen Mädchen aus seiner Nachbarschaft verheiratet. Um
zu heiraten, hatte er sogar seine Studien abgebrochen und eine Stelle angenommen. Jeanne und er
entfernten sich nie aus ihrem Viertel. Er besuchte Jeanne bei ihren Eltern, die sich ein wenig über diesen
schweigsamen, linkischen Bewerber lustig machten. Der Vater war Eisenbahner. Während seiner Freizeit
pflegte er still in einer Ecke am Fenster zu sitzen und nachdenklich das Treiben auf der Straße zu
betrachten, während er seine riesigen Hände auf die Schenkel stützte. Die Mutter war ständig mit der
Haushaltung beschäftigt, und Jeanne half ihr dabei. Das junge Mädchen war so zart, daß Grand sie nie
ohne ein Gefühl der Angst die Straße überqueren sah. Die Fahrzeuge erschienen ihm dann immer
ungeheuer groß. Einmal standen sie vor einem weihnachtlichen Schaufenster. Jeanne hatte mit
staunender Bewunderung die Auslagen betrachtet, sich ihm plötzlich zugeneigt und gesagt: «Wie
wunderbar!» Er hatte ihr Handgelenk gedrückt. So war die Heirat beschlossen worden.
Nach Grands Bericht war der Schluß der Geschichte sehr einfach. Es geht allen Leuten gleich: man
heiratet, man liebt noch ein wenig, man arbeitet. Man arbeitet so viel, daß man das Lieben darüber
vergißt. Jeanne arbeitete ebenfalls, da die Versprechen des Vorgesetzten nicht eingehalten worden waren.
Hier mußte man die Phantasie ein bißchen zu Hilfe nehmen, um zu verstehen, was Grand sagen wollte.
Unter der Einwirkung der Müdigkeit hatte er sich gehenlassen, sich mehr und mehr ausgeschwiegen und
seine junge Frau nicht in ihrem Glauben bestärkt, daß sie geliebt werde. Ein Mann, der arbeitet, die
Armut, die sich langsam verschließende Zukunft, das Schweigen der Abende am Familientisch - in solch
einer Welt war kein Platz für die Leidenschaft. Wahrscheinlich hatte Jeanne gelitten. Dennoch war sie
geblieben: es kommt vor, daß man lange leidet, ohne es zu wissen. Jahre waren verflossen. Später war sie
fortgegangen. Natürlich nicht allein. «Ich habe Dich sehr geliebt, aber nun bin ich müde ... Es macht
mich nicht glücklich, fortzugehen, aber man braucht ja nicht glücklich zu sein, um neu anzufangen.» So
ungefähr hatte sie ihm geschrieben.
Joseph Grand hatte seinerseits gelitten. Er hätte neu anfangen können, wie Rieux es ihm riet. Aber er
hatte nun einmal kein Vertrauen.
Ganz einfach, weil er immer noch an sie dachte. Er hätte ihr einen Brief schreiben wollen, um sich zu
rechtfertigen. «Aber das ist schwer», sagte er. «Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken. Solange
wir uns liebhatten, verstanden wir uns ohne Worte. Aber man hat sich nicht ewig lieb. Der Augenblick
kam, da ich das Wort hätte finden sollen, das sie zurückgehalten hätte. Aber ich habe es nicht vermocht.»
Grand schneuzte sich in ein kariertes Tuch. Dann wischte er sich den Schnurrbart ab. Rieux betrachtete
ihn.
«Entschuldigen Sie mich, Herr Doktor», sagte der Alte. «Aber wie soll ich sagen . . .? Ich habe Vertrauen
zu Ihnen. Mit Ihnen kann ich reden. Das bewegt mich dann innerlich.»
Grand war mit seinen Gedanken offensichtlich tausend Meilen von der Pest entfernt.
Am Abend telegrafierte Rieux seiner Frau, die Stadt sei geschlossen, es gehe ihm gut, sie müsse weiter
für ihre Gesundheit Sorge tragen, und er denke an sie.
Drei Wochen nach der Abriegelung der Stadt traf Rieux am Ausgang des Spitals einen jungen Mann, der
auf ihn wartete und ihn mit den Worten ansprach: «Ich vermute, daß Sie mich wiedererkennen.»
Rieux glaubte ihn zu kennen, doch zögerte er.
«Ich bin vor diesen Ereignissen zu Ihnen gekommen», fing der andere wieder an, «um Sie über die
Lebensbedingungen der Araber um Auskunft zu bitten. Mein Name ist Raymond Rambert.»
«Ach natürlich!» sagte Rieux. «Nun, jetzt haben Sie ja ein schönes Thema für einen Bericht.»
Der andere schien erregt. Er erklärte, es handle sich nicht darum, sondern er sei gekommen, um Dr.
Rieux um einen Gefallen zu bitten. Und er fügte hinzu: «Es tut mir leid, aber ich kenne niemand in dieser
Stadt, und der hiesige Mitarbeiter meiner Zeitung hat das Unglück, schwachsinnig zu sein.»
Rieux schlug vor, er solle ihn bis zu einer Poliklinik der Innenstadt begleiten, da er dort ein paar
Anordnungen treffen müsse. Sie gingen die Gassen des Negerviertels hinab. Der Abend nahte. Aber die
früher um diese Zeit so laute Stadt erschien seltsam verlassen. Ein paar Trompetenstöße unter dem noch
goldenen Himmel zeugten allein davon, daß die Soldaten vorgaben, sie gingen ihrem Beruf nach.
Während sie durch die steilen Straßen zwischen den blauen, braungelben und violetten Wänden der
maurischen Häuser dahinschritten, sprach Rambert in großer Erregung. Er hatte seine Frau in Paris
gelassen. Das heißt, sie war eigentlich nicht seine Frau, aber es kam auf das gleiche heraus. Er hatte ihr
sofort gekabelt, als die Stadt geschlossen wurde. Zuerst hatte er geglaubt, es handle sich um ein
vorübergehendes Ereignis, und hatte nur versucht, schriftlich mit ihr in Verbindung zu bleiben. Seine
Kollegen in Oran hatten ihm zu verstehen gegeben, daß sie nichts unternehmen könnten. Die Post hatte
ihn abgewiesen, und eine Sekretärin auf der Präfektur hatte ihn rundweg ausgelacht. Nach
zweistündigem Schlangestehen hatte er es schließlich erreicht, daß ein Telegramm angenommen wurde,
in dem er schrieb: «Alles in Ordnung. Bis bald.»
Aber am Morgen beim Aufstehen war ihm plötzlich eingefallen, daß er ja eigentlich gar nicht wußte, wie
lange das dauern konnte. Er hatte beschlossen, abzureisen. Da er gute Empfehlungen hatte (in seinem
Beruf genießt man Erleichterungen), konnte er an einen Abteilungsvorsteher der Präfektur gelangen und
ihm klarmachen, daß er keine Beziehung zu Oran habe, nicht hier zu bleiben gedenke, nur zufällig
hierhergeraten sei, und daß es deshalb nur gerecht wäre, wenn man ihm erlaubte, fortzugehen, selbst
wenn er sich nach Verlassen der Stadt einer Quarantäne unterziehen müßte. Der Vorsteher hatte ihm
versichert, er begreife ihn sehr gut, doch könne man keine Ausnahmen machen. Er werde sich seiner
annehmen, aber die Lage sei eben sehr ernst, und man könne nichts mit Bestimmtheit sagen.
«Aber», hatte Rambert eingeworfen, «schließlich bin ich doch fremd in dieser Stadt.»
«Gewiß, aber wir wollen nur hoffen, daß die Seuche nicht lange dauert.»
Endlich hatte er versucht, Rambert zu trösten, indem er ihm vor Augen hielt, daß er in Oran den Stoff zu
einer Anzahl spannender Berichte finden könne und daß, genaugenommen, jedes Geschehen auch sein
Gutes habe. Rambert zuckte die Achseln. Sie erreichten die Innenstadt.
«Es ist stumpfsinnig, verstehen Sie, Herr Doktor? Ich bin nicht in die Welt gesetzt worden, um Berichte
zu schreiben. Aber vielleicht bin ich in die Welt gesetzt worden, um mit einer Frau zu leben. Ist das nicht
natürlich?»
Rieux sagte, daß es auf jeden Fall vernünftig scheine.
Auf den Boulevards der Innenstadt sah man nicht die gewöhnliche Menschenmenge. Einige Fußgänger
strebten in großer Eile fernen Behausungen zu. Keiner lächelte. Rieux dachte, dies sei die Folge der
Ransdoc-Meldung, die an diesem Tag erschienen war. Nach 24 Stunden begannen unsere Mitbürger
immer wieder zu hoffen. Aber am Tag selber hafteten die Zahlen noch zu frisch im Gedächtnis.
Unvermittelt fing Rambert wieder an.
«Es ist nämlich so, daß wir uns erst seit kurzem kennen und uns gut verstehen.»
Rieux schwieg.
«Aber ich langweile Sie», fuhr Rambert fort. «Ich wollte Sie bloß fragen, ob Sie mir nicht bescheinigen
könnten, daß ich diese verdammte Krankheit nicht habe. Ich glaube, das würde mir nützen.»
Rieux nickte zustimmend. Er fing einen kleinen Jungen auf, der ihm vor die Beine gelaufen war, und
stellte ihn sorgfältig wieder auf die Füße. Sie gingen weiter und gelangten auf den Waffenplatz. Grau,
staubbedeckt und unbeweglich hingen die Zweige der Feigenbäume und Palmen um ein verstaubtes,
schmutziges Standbild der Republik. Unter dem Denkmal blieben sie stehen. Rieux klopfte seine
weißlich überzogenen Schuhe am Boden ab. Er blickte Rambert an. Mit seinem leicht ins Genick
geschobenen Filzhut, dem unter der Halsbinde aufgeknöpften Hemd und dem unrasierten Bart sah der
Zeitungsmann eigensinnig und verdrossen aus.
«Ich versichere Ihnen, daß ich Sie verstehe», sagte Rieux schließlich. «Aber Ihre Überlegungen sind
unrichtig. Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht
weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir sogar in diesem Fall unmöglich wäre, zu
bestätigen, daß Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur
Präfektur gehen. Und selbst wenn ...»
«Und selbst wenn?» fragte Rambert.
«Und selbst wenn ich Ihnen dies Zeugnis gäbe, würde es Ihnen nichts helfen.»
«Warum nicht?»
«Weil in dieser Stadt Tausende in Ihrer Lage sind und man sie doch nicht fortgehen lassen kann.»
«Aber wenn sie selbst die Pest nicht haben?»
«Das ist kein genügender Grund. Ich weiß wohl, daß diese Geschichte unsinnig ist, aber sie betrifft uns
alle. Man muß sie nehmen, wie sie ist.»
«Aber ich bin doch nicht von hier!»
«Leider werden Sie von jetzt an von hier sein wie alle anderen auch.»
Rambert eiferte: «Ich schwöre Ihnen, es ist eine Frage der Menschlichkeit. Vielleicht machen Sie sich
nicht klar, was eine Trennung wie die gegenwärtige für zwei Menschen bedeutet, die sich gut verstehen.»
Rieux antwortete nicht sogleich. Dann sagte er, er glaube, sich darüber klar zu sein. Er wünsche von
ganzem Herzen, daß Rambert seine Frau wiederfinde und daß alle Liebenden vereint würden; aber es
gebe Erlasse und Gesetze, es gebe die Pest; seine Aufgabe bestehe darin, zu tun, was notwendig sei.
«Nein», sagte Rambert bitter, «Sie können nicht verstehen. Sie reden die Sprache der Vernunft, Sie sind
in der Abstraktion.»
Der Arzt hob die Augen zur Republik und sagte, er wisse nicht, ob er die Sprache der Vernunft rede,
doch sei es wohl die Sprache der Tatsachen, und das sei nicht unbedingt das gleiche.
Der Journalist rückte seinen Schlips zurecht und antwortete: «Das heißt also, daß ich mich anders
durchschlagen muß? Jedenfalls werde ich diese Stadt verlassen», fügte er fast herausfordernd hinzu.
Der Arzt sagte, er verstehe auch das, aber es gehe ihn nichts an.
«Doch, es geht Sie an», erklärte Rambert mit plötzlicher Heftigkeit. «Ich bin zu Ihnen gekommen, weil
mir gesagt wurde, daß Sie die Verordnungen weitgehend mitbestimmt haben. Da habe ich gedacht, daß
Sie wenigstens für einmal das lösen könnten, was Sie knüpfen halfen. Aber das ist Ihnen gleichgültig. Sie
haben an niemand gedacht. Sie haben nicht mit denen gerechnet, die getrennt waren.»
Rieux gab zu, daß dies in gewissem Sinne wahr sei, er habe nicht damit rechnen wollen.
«Aha», sagte Rambert, «ich verstehe. Sie wollen vom Dienst an der Öffentlichkeit sprechen. Aber das
Wohl des Volkes setzt sich aus dem Glück der einzelnen Bürger zusammen.»
«Hören Sie», sagte der Arzt, der aus seiner Gedankenverlorenheit zu erwachen schien, «es gibt außerdem
noch etwas anderes. Man darf nicht richten. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie böse werden. Wenn Sie
aus dieser Sache herauskommen, werde ich sehr glücklich sein. Nur gibt es eben Dinge, die mein Amt
mir untersagt.»
Der andere schüttelte ungeduldig den Kopf.
«Gewiß, ich habe unrecht, mich zu ärgern. Und zudem habe ich Sie gerade lange genug aufgehalten.»
Rieux bat, er möge ihn über seine Schritte auf dem laufenden halten und keinen Groll gegen ihn hegen.
Es gebe sicher eine Ebene, auf der sie sich finden könnten. Rambert schien betroffen und sagte nach
einem Schweigen: «Ich glaube es, ja, ich glaube es, ohne es zu wollen und trotz allem, was Sie mir
gesagt haben.» Er zögerte: «Aber ich kann Ihnen nicht beipflichten.»
Er drückte seinen Hut in die Stirn und entfernte sich mit raschen Schritten. Rieux sah ihn das Hotel
betreten, das Jean Tarrou bewohnte.
Nach einem Augenblick schüttelte der Arzt den Kopf. Rambert hatte recht mit seinem ungeduldigen
Verlangen nach Glück. Aber hatte er auch recht, wenn er ihn anklagte? «Sie leben in der Abstraktion.»
War das wirklich die Abstraktion, all die Tage, die er im Spital verbrachte, wo die Pest immer gefräßiger
wurde und jede Woche durchschnittlich fünfhundert Opfer forderte ? Ja, es gab in dem Elend einen Teil
Abstraktion und Unwirklichkeit. Aber wenn die Abstraktion anfängt, einen zu töten, dann muß man sich
wohl oder übel mit ihr beschäftigen. Und Rieux wußte nur, daß es nicht leicht war. Es war zum Beispiel
nicht leicht, das Hilfsspital (es gab jetzt deren drei) zu leiten, das ihm unterstellt worden war. Er hatte
einen Raum, der an das Untersuchungszimmer grenzte, als Aufnahmezimmer einrichten lassen. Auf dem
ausgehobenen Boden bildete die Kresollösung einen See, in dessen Mitte sich eine kleine Backsteininsel
befand. Der Kranke wurde auf seine Insel getragen und rasch ausgezogen, während seine Kleider ins
Wasser fielen. Dann wurde er gewaschen, abgetrocknet, mit dem groben Spitalhemd bekleidet, von
Rieux übernommen und schließlich in einen der Säle gebracht. Man hatte sich gezwungen gesehen, die
Nebengebäude einer Schule zu verwenden; sie enthielten nun insgesamt fünfhundert Betten, die fast alle
belegt waren. Am Morgen leitete Rieux selbst die Aufnahme der Kranken, impfte sie, schnitt die Beulen
auf, überprüfte noch die Statistik und empfing dann am Nachmittag die Patienten, die ihn aufsuchten.
Am Abend machte er schließlich seine Besuche und kehrte spät in der Nacht zurück. Am Vorabend hatte
Dr. Rieux' Mutter ihm ein Telegramm seiner Frau hingestreckt und dabei bemerkt, wie seine Hände
zitterten.
«Ja», sagte er, «aber wenn ich nicht nachgebe, werde ich weniger nervös.»
Er war kräftig und widerstandsfähig. Und er war auch tatsächlich noch nicht ermüdet. Aber diese
Besuche zum Beispiel, die wurden ihm unerträglich. Das Pestfieber feststellen hieß, den Kranken rasch
abholen lassen. Dann begann allerdings die Abstraktion und die Schwierigkeit, denn die Angehörigen
wußten, daß sie den Kranken nur geheilt oder tot wiedersehen würden. «Erbarmen, Herr Doktor!» sagte
Frau Loret, die Mutter des Zimmermädchens aus Tarrous Hotel. Was hieß das? Natürlich hatte er
Erbarmen. Aber das brachte niemand weiter. Man mußte telefonieren. Bald darauf ertönte das Bimmeln
des Krankenwagens. Im Anfang öffneten die Nachbarn ihre Fenster und schauten zu. Später schlossen sie
sie hastig. Dann begannen die Kämpfe, die Tränen, die Überredung, mit einem Wort: die Abstraktion. In
diesen von Fieber und Todesangst überhitzten Wohnungen spielten sich Szenen des Irrsinns ab. Aber der
Kranke wurde fortgetragen. Rieux konnte gehen.
Die ersten Male hatte er sich auf das Bestellen des Krankenwagens beschränkt und war, ohne auf ihn zu
warten, zu anderen Kranken geeilt. Aber die Angehörigen hatten inzwischen die Tür verschlossen und
zogen die Nähe der Pest einer Trennung vor, deren Ausgang sie jetzt kannten. Schreie, ausdrückliche
Befehle, Eingreifen der Polizei und später der Soldaten, der Kranke wurde im Sturm genommen.
Während der ersten Wochen war Rieux gezwungen, bis zum Eintreffen des Krankenwagens dazubleiben.
Dann, als jeder Arzt auf seinen Besuchen von einem freiwilligen Aufsichtsbeamten begleitet wurde,
konnte Rieux wieder von einem Kranken zum andern eilen. Aber in der ersten Zeit war jeder Abend wie
jener, an dem er die kleine, mit Fächern und künstlichen Blumen geschmückte Wohnung von Frau Loret
betrat, die ihn gezwungen lächelnd mit den Worten empfing: «Ich hoffe sehr, daß es nicht das Fieber ist,
von dem alle Leute sprechen.»
Er aber schlug Bettuch und Hemd zurück und betrachtete schweigend die roten Flecken auf Bauch und
Schenkeln und die Schwellungen der Lymphdrüsen. Die Mutter schaute auf die Innenflächen der Beine
ihrer Tochter und schrie auf, ohne sich beherrschen zu können. Jeden Abend heulten Mütter so, mit
abwesender Miene, vor Körpern, die sich mit all ihren Todesmalen darboten; jeden Abend wurden Rieux'
Arme umklammert, überstürzten sich nutzlose Worte, Versprechen, Weinen; jeden Abend lösten die
Glocken der Krankenwagen Anfälle aus, die gleich vergeblich waren wie jeder Schmerz. Und nach
dieser langen Folge stets gleicher Abende konnte Rieux nichts anderes erhoffen als eine lange Folge
derselben Auftritte, die sich unendlich oft wiederholen würden. Ja, die Pest war eintönig wie die
Abstraktion. Es gab vielleicht nur etwas, das sich änderte: Rieux selbst. Er empfand dies an jenem Abend
am Fuße des Standbildes der Republik; er war sich nur noch jener schwer erringbaren Gleichgültigkeit
bewußt, die ihn zu erfüllen begann, während er unverwandt auf den Hoteleingang starrte, in dem
Rambert verschwunden war.
Nach diesen aufreibenden Wochen, nach all den Abenddämmerungen, da die Stadt in die Straßen
strömte, um sich dort im Kreis zu bewegen, verstand Rieux, daß er sich nicht mehr gegen das Mitleid
wehren mußte. Man wird des Mitleids müde, wenn das Mitleid nutzlos ist. Zu fühlen, wie sein Herz sich
allmählich in sich selbst verschloß, brachte Dr. Rieux während jener erdrückenden Tage die einzige
Linderung. Er wußte, daß ihm dadurch seine Aufgabe erleichtert wurde. Deshalb freute er sich darüber.
Als Rieux' Mutter ihn um zwei Uhr morgens empfing und über die Leere seines Blicks betrübt war,
beklagte sie ausgerechnet die einzige Hilfe, die ihm in diesem Augenblick zuteil werden konnte. Um
gegen die Abstraktion kämpfen zu können, muß man ihr ein wenig gleichen. Aber wie hätte Rambert das
nachfühlen sollen? Für Rambert war alles Abstraktion, was sich seinem Glück in den Weg stellte. Und in
Wahrheit wußte Rieux, daß der Journalist in gewissem Sinne recht hatte. Er wußte aber auch, daß die
Abstraktion sich manchmal stärker zeigt als das Glück und daß man dann, und nur dann, mit ihr rechnen
muß. Das sollte auch Rambert erfahren, und der Arzt konnte es in allen Einzelheiten aus dem entnehmen,
was ihm Rambert später anvertraute. So konnte er auf einem neuen Gebiet den trostlosen Kampf
verfolgen, der zwischen dem Glück jedes einzelnen Menschen und den Abstraktionen der Pest
ausgetragen wurde und der während dieser langen Zeit das ganze Leben unserer Stadt ausmachte.
Aber da, wo die einen Abstraktion sahen, sahen die anderen Wahrheit. Das Ende des ersten Pestmonats
wurde nämlich verdüstert durch eine deutliche Verschlimmerung der Seuche und eine heftige Predigt des
Jesuitenpaters Paneloux, der damals dem alten Michel beim Ausbruch seiner Krankheit beigestanden
war. Pater Paneloux hatte sich durch seine häufige Mitarbeit an der Zeitschrift der geographischen
Gesellschaft von Oran ausgezeichnet, in der seine Rekonstruktionen von Inschriften hohes Ansehen
genossen. Er hatte sich jedoch mit einer Reihe von Vorträgen über den modernen Individualismus eine
größere Zuhörerschaft erworben, als sie ein Spezialist gewöhnlich findet. Er hatte leidenschaftlich ein
anspruchsvolles Christentum gefordert, das von der modernen Freidenkerei so entfernt sein sollte wie
vom Obskurantismus der vergangenen Jahrhunderte. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich nicht gescheut,
seinen Zuhörern einige bittere Wahrheiten zu sagen. Daher sein Ruf.
Nun beschlossen gegen Ende dieses Monats die Kirchenbehörden unserer Stadt, mit ihren Mitteln gegen
die Pest zu kämpfen und eine Woche des gemeinschaftlichen Gebetes durchzuführen. Diese
Kundgebungen der öffentlichen Frömmigkeit sollten am Sonntag mit einer feierlichen Messe zu Ehren
des Pestheiligen St. Rochus ihren Abschluß finden. Man hatte Pater Paneloux gebeten, bei diesem Anlaß
das Wort zu ergreifen. Seit vierzehn Tagen hatte sich dieser von seinen Arbeiten über Augustinus und die
afrikanische Kirche losgerissen, dank denen er in seinem Orden eine Sonderstellung einnahm. Heftig und
leidenschaftlich, wie er war, hatte er die ihm übertragene Aufgabe entschlossen angenommen. Schon
lange vorher wurde in der Stadt von jener Predigt gesprochen, die auf ihre Weise einen wichtigen Tag in
der Geschichte dieser Zeit bedeutete.
Die Gebetswoche wurde von vielen Leuten besucht. Nicht etwa, daß für gewöhnlich die Einwohner von
Oran besonders fromm gewesen wären. Am Sonntagmorgen zum Beispiel machten die Meerbäder der
Messe ernsthaft Konkurrenz. Es war auch nicht so, daß eine plötzliche Bekehrung sie erleuchtet hätte.
Aber einerseits war die Stadt geschlossen und der Hafen verboten und damit das Baden unmöglich, und
andererseits befanden sie sich in einem ganz besonderen Geisteszustand, in dem sie genau spürten, daß
sich etwas verändert hatte, obwohl sie sich im innersten Herzen die überraschenden Ereignisse, die sie
trafen, noch nicht eingestanden. Viele hofften indessen, die Seuche werde aufhören und sie und die ihren
verschonen. Infolgedessen fühlten sie sich noch zu nichts verpflichtet. Die Pest war für sie bloß ein
unangenehmer Besuch, der eines Tages auch wieder fortgehen mußte, wie er gekommen war. Sie waren
erschreckt, aber nicht verzweifelt, und der Zeitpunkt war noch nicht erreicht, da sie in der Pest ihre
eigentliche Lebensform erblicken und ihr bisheriges Dasein vergessen würden. Kurz, sie warteten.
Hinsichtlich der Religion wie vieler anderer Probleme flößte die Pest ihnen eine merkwürdige
Geisteshaltung ein, die weder Gleichgültigkeit noch Leidenschaft kannte und die sehr gut mit dem Wort
«Unvoreingenommenheit» bezeichnet werden kann. Von den Leuten, die die Gebetswoche mitmachten,
hätten zum Beispiel die meisten dem Gedanken beigestimmt, den ein Gläubiger Dr. Rieux gegenüber
äußerte: «Auf jeden Fall schadet es nicht.» Tarrou verzeichnete in seinem Tagebuch zuerst, daß die
Chinesen bei einer solchen Gelegenheit vor dem Genius der Pest Tamburin spielen und bemerkte dann,
man könne ganz unmöglich wissen, ob das Tamburin wirksamer sei als die Vorbeugungsmaßnahmen. Er
fügte nur hinzu: um das zu entscheiden, müßte man die Gewißheit haben, daß es einen Pestgenius gebe,
und unsere Ungewißheit in diesem Punkt machte jede Erörterung unfruchtbar.
Auf alle Fälle war unsere Kathedrale während der ganzen Woche beinahe voll besetzt. In den ersten
Tagen blieben noch viele Bewohner in den Anlagen von Palmen und Granatbäumen, die an den Vorhof
grenzen, um von dort aus der Brandung der Anrufungen und Gebete zuzuhören, die bis auf die Straße
hinausdrangen. Nach und nach entschlossen sich die gleichen Zuhörer, dem Beispiel der anderen zu
folgen, einzutreten und schüchtern in den Antwortgesang der Gemeinde einzustimmen. Und am Sonntag
füllte eine beträchtliche Menschenmenge das Kirchenschiff, drang bis in den Vorhof und stand noch auf
den obersten Treppenstufen. Seit dem Vorabend hatte sich der Himmel überzogen, und es regnete in
Strömen. Die draußen Stehenden hatten die Regenschirme aufgespannt. Ein Geruch von Weihrauch und
feuchtem Stoff schwebte in der Kirche, als Pater Paneloux die Kanzel bestieg.
Er war mittelgroß, aber stämmig. Als er sich auf die Brüstung der Kanzel stützte und mit seinen derben
Händen das Holz umschloß, sah man nur seine massige schwarze Gestalt, aus der seine hochroten
Wangen unter einer Stahlbrille wie zwei Farbflecke hervorstachen. Er hatte eine kräftige,
leidenschaftliche, weittragende Stimme, und die Gemeinde wurde bis auf den Vorhof hinaus von einem
Schauer durchdrungen, als er sie mit einem einzigen, heftigen, hämmernden Satz ansprach: «Meine
Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient.»
Was folgte, schien logisch nicht zu diesem pathetischen Anfang zu passen. Erst im weiteren Verlauf
begriffen unsere Mitbürger, daß der Pater mit einem geschickten rednerischen Vorgehen in einem Satz
wie mit einem Keulenschlag das Thema der ganzen Predigt ausgedrückt hatte. Paneloux las nämlich
sogleich nach diesem Anfang den Text über den Auszug aus dem von der Pest heimgesuchten Ägypten
und sagte: «Das erste Mal erscheint diese Geißel in der Geschichte, um die Feinde Gottes zu strafen.
Pharao widersetzt sich den Absichten des Ewigen, und die Pest zwingt ihn in die Knie. Seit allem Anfang
der Geschichte wirft die Geißel Gottes die Hochmütigen und die Verblendeten zu seinen Füßen nieder.
Bedenket das und fallt auf die Knie.»
Draußen strömte der Regen mit erneuter Heftigkeit nieder, und das Prasseln an den Fenstern verstärkte
noch das Schweigen, in das dieser letzte Satz hineinfiel; er ertönte mit solchem Widerhall, daß nach einer
Sekunde des Zögerns einige Zuhörer sich vom Stuhl auf den Betschemel gleiten ließen. Andere glaubten,
sie müßten ihrem Beispiel folgen, so daß, ohne ein anderes Geräusch als das Krachen einiger Stühle, bald
die ganze Gemeinde kniete. Da richtete sich Paneloux auf, atmete tief und fuhr immer eindringlicher fort:
«Wenn euch heute die Pest anschaut, so deshalb, weil der Augenblick des Nachdenkens gekommen ist.
Die Gerechten brauchen sich nicht davor zu fürchten, aber die Bösen haben Ursache zu zittern. In der
unermeßlichen Scheuer des Weltalls wird der unerbittliche Dreschflegel das menschliche Korn dreschen,
bis die Spreu vom Weizen geschieden ist. Es wird mehr Spreu geben als Weizen, mehr Berufene als
Auserwählte, und dieses Unglück ist nicht von Gott gewollt. Zu lange hat diese Welt sich mit dem Bösen
vertragen, zu lange hat sie sich auf das göttliche Erbarmen verlassen. Man mußte nur bereuen, dann war
alles erlaubt. Und jeder war seiner Reue sicher. Wenn es darauf ankam, würde man sie gewiß empfinden.
Bis dahin war es am einfachsten, wenn man sich gehen ließ, das Göttliche Erbarmen würde schon für das
Übrige sorgen. Nun, das konnte nicht so weitergehen. Gott hat so lange sein Antlitz des Mitleids den
Menschen dieser Stadt zugekehrt; jetzt hat er, des Wartens müde, enttäuscht in seiner ewigen Hoffnung,
seinen Blick abgewandt. Des göttlichen Lichtes beraubt, sind wir jetzt für lange Zeit in die Finsternis der
Pest gestürzt!»
Jemand schnaubte wie ein ungeduldiges Pferd. Nach einer kurzen Pause fuhr der Pater leiser fort: «In der
Goldenen Legende steht, daß zur Zeit des Königs Humbert die Lombardei von einer so heftigen Pest
verwüstet wurde, daß es kaum genug Lebende gab, um die Toten zu bestatten; und diese Pest wütete
hauptsächlich in Rom und in Pavia, und ein guter Engel erschien sichtbarlich und gab dem bösen Engel,
der einen Jagdspieß trug, Anweisungen und befahl ihm, an die Häuser zu schlagen, und so viele Schläge
ein Haus erhielt, so viele Tote wurden hinausgetragen.»
Hier streckte Paneloux seine beiden kurzen Arme zum Vorhof aus, als zeige er auf etwas hinter dem
schwanken Vorhang des Regens. «Liebe Brüder», sagte er kraftvoll, «heute wird die gleiche tödliche
Jagd in unseren Straßen gejagt. Schaut ihn, diesen Pestengel, schön wie Luzifer und strahlend wie das
Böse selber. Er steht über euren Dächern, seine Rechte hält den roten Spieß erhoben, und mit der Linken
deutet er auf eines eurer Häuser. Vielleicht reckt er den Finger in diesem Augenblick gegen eure Tür, der
Spieß erdröhnt auf dem Holz; in dem Augenblick tritt die Pest bei euch ein, setzt sich in euer Zimmer
und wartet auf eure Rückkehr. Da sitzt sie, aufmerksam und geduldig, so sicher wie die Ordnung der
Welt. Keine Macht der Erde und, merkt es wohl, nicht einmal die eitle Wissenschaft der Menschen kann
verhüten, daß ihr die Hand ergreift, die sie euch hinhält. Und auf der blutigen Tenne des Schmerzes
gedroschen, werdet ihr zur Spreu geworfen werden.»
An dieser Stelle nahm der Pater das pathetische Bild des Dreschflegels wieder auf und malte es noch
weiter aus. Er zeichnete das ungeheure Stück Holz, das über der Stadt wirbelte, blind zuschlug und
blutbefleckt weiterdrehte und endlich das Blut und den Schmerz der Menschen ausstreute «für Saaten,
die die Ernte der Wahrheit vorbereiten».
Nach diesem langen Teil hielt Pater Paneloux inne; die Haare fielen ihm in die Stirn, das Zittern seines
Körpers pflanzte sich in die Hände und in die Kanzel fort; dumpfer, aber in anklagendem Ton fuhr er
fort: «Ja, die Zeit der Besinnung ist gekommen. Ihr habt geglaubt, wenn ihr Gott am Sonntag einen
Besuch machtet, genüge das, um die übrigen Tage frei zu sein. Ihr habt gedacht, ein paar Kniebeugen
entschädigten ihn wohl für eure verbrecherische Sorglosigkeit. Aber Gott ist nicht lau. Diese seltenen
Bezeigungen waren nicht genug für seine verzehrende Liebe. Er wollte euch länger sehen; das ist seine
Art, euch zu lieben, und in Wahrheit ist es die einzige Art zu lieben. Nun ist er es müde geworden, auf
euer Kommen zu warten, darum läßt er die Geißel euch heimsuchen, wie er alle sündigen Städte
heimgesucht hat, seitdem die Menschen eine Geschichte haben. Ihr wißt jetzt, was die Sünde ist, wie
Kain und seine Söhne es gewußt haben, wie die Menschen vor der Sintflut, wie die in Sodom und
Gomorra, wie Pharao und wie Hiob und auch wie alle Verdammten. Und wie alle diese schaut ihr mit
neuen Augen auf die Menschen und die Dinge seit dem Tag, da diese Stadt ihre Mauern um euch und die
Heimsuchung geschlossen hat. Jetzt endlich wißt ihr, daß es um das Letzte geht.»
Ein feuchter Wind fing sich nun im Kirchenschiff, und die Kerzenflammen neigten sich knisternd. Ein
dichter Wachsgeruch, Husten, Niesen stiegen zu Pater Paneloux empor; dieser kam mit einer von vielen
geschätzten Eleganz auf seine Ausführungen zurück: «Ich weiß, daß viele unter euch sich fragen, wo ich
hinaus will. Ich will euch zur Wahrheit bringen und euch lehren, euch zu freuen, trotz allem, was ich
gesagt habe. Die Zeit ist vorüber, da gute Ratschläge oder eine brüderliche Hand die Mittel waren, mit
denen ihr auf den rechten Weg zu führen seid. Heute ist die Wahrheit ein Befehl. Und ein roter Spieß
zeigt euch den Weg des Heils und stößt euch darauf. Hier, liebe Brüder, wird endlich das göttliche
Erbarmen offenbar, das in jedes Ding das Gute und das Böse legt, den Zorn und das Mitleid, die Pest und
das Heil. Sogar die Geißel, die euch martert, erhebt euch noch und zeigt euch den Weg.
Vor langer Zeit sahen die Christen Abessiniens in der Pest ein wirksames, gottgesandtes Mittel, um in die
Ewigkeit zu gelangen. Diejenigen, die nicht angesteckt waren, wickelten sich in die Bettlaken der
Pestkranken, um ganz sicher zu sterben. Zweifellos ist diese Heilssucht nicht zu empfehlen. Sie verrät
eine bedauerliche Überstürzung, die an Hochmut grenzt. Man darf es nicht eiliger haben als Gott, und
alles, was die unveränderliche Ordnung, die er ein für allemal festgesetzt hat, beschleunigen will, führt
zur Ketzerei. Aber dieses Beispiel birgt wenigstens eine Lehre. Für uns, die wir klarer sehen, läßt es
einfach jenen wunderbaren Schein der Ewigkeit hervortreten, der auf dem Grund jedes Leides ruht.
Dieser Schein erhellt die dämmerigen Wege, die zur Erlösung führen. Er offenbart den göttlichen Willen,
der ohne Unterlaß das Böse in Gutes verwandelt. Auch heute noch führt er uns auf diesen Pfaden von
Tod, Angst und Gezeter der letzten Stille und dem Urquell allen Lebens entgegen. Liebe Brüder, darin
liegt der unermeßliche Trost, den ich euch bringen wollte, damit ihr nicht nur Züchtigung von hinnen
traget, sondern auch ein Wort der Linderung.» Man spürte, daß Paneloux geendet hatte. Draußen hatte
der Regen aufgehört. Ein Himmel aus Wasser und Sonne verströmte ein verjüngtes Licht auf den Platz.
Auf der Straße ertönten Stimmenlärm, das Gleiten von Fahrzeugen, alle Geräusche einer erwachenden
Stadt. Mit gedämpfter Unruhe rafften die Zuhörer verstohlen ihre Siebensachen zusammen. Der Pater
ergriff jedoch das Wort noch einmal und sagte, nachdem er den göttlichen Ursprung der Pest und die
strafende Absicht der Heimsuchung aufgezeigt habe, sei er fertig und wolle in einer so tragischen
Angelegenheit keine unangebrachte Beredsamkeit entfalten. Es scheine ihm, es müsse allen alles klar
sein. Er erinnerte nur daran, daß anläßlich der großen Pest von Marseille der Chronist Matthias Marais
sich beklagt habe, er müsse in der Hölle leben, so ohne Hilfe und ohne Hoffnung. Nun gut! Matthias
Marais war blind! Pater Paneloux hatte im Gegenteil nie mehr als heute die göttliche Hilfe und die
christliche Hoffnung gespürt, die allen dargeboten wurden. Er hoffte gegen jede Hoffnung, daß trotz des
Entsetzens dieser Tage und der Schreie der Sterbenden unsere Mitbürger das einzige Wort an den
Himmel richten würden, das christlich und deshalb ein Wort der Liebe sei. Gott werde das übrige tun.
Ob diese Predigt unsere Mitbürger beeinflußte, ist schwer zu sagen. Der Untersuchungsrichter, Herr
Othon, erklärte Dr. Rieux, er habe die Ausführungen von Pater Paneloux «absolut unwiderlegbar»
gefunden. Aber nicht alle waren so entschiedener Meinung. Immerhin verhalf die Predigt einigen zur
Klärung des bisher verschwommenen Eindrucks, daß sie eines unbekannten Verbrechens wegen zu einer
unvorstellbaren Gefangenschaft verurteilt waren. Und während die einen ihr kleines Leben weiterlebten
und sich der Einkerkerung anpaßten, begann der Gedanke an Flucht aus diesem Gefängnis andere völlig
zu beherrschen. Zuerst hatten die Leute ihre Abschließung von der Außenwelt hingenommen, wie sie
jede andere vorübergehende Belästigung hingenommen hätten, die sie nur in einigen ihrer Gewohnheiten
störte. Aber plötzlich wurden sie sich einer Art Einsperrung bewußt, und unter der Glocke des Himmels,
in dem der Sommer zu knistern anfing, spürten sie verworren, daß diese Abgeschnittenheit ihr ganzes
Leben bedrohte. Die Willenskraft, die sie in der Abendkühle zurückgewannen, trieb sie manchmal zu
Verzweiflungstaten.
Zuallererst, sei es nun Zufall oder nicht, war von diesem Sonntag an eine Art Angst in unserer Stadt
ziemlich allgemein und so groß, daß man annehmen mußte, unsere Mitbürger würden sich nun wirklich
ihrer Lage bewußt. Von diesem Gesichtspunkt aus veränderte sich die Stimmung in der Stadt ein wenig.
Aber die Frage ist, ob diese Wandlung in Wahrheit nur die äußere Stimmung betraf oder ob sie sich in
den Herzen vollzog.
Ein paar Tage nach der Predigt war Rieux mit Grand unterwegs zur Vorstadt und besprach mit ihm
dieses Ereignis. In der Dunkelheit stieß er plötzlich an einen Mann, der vor ihnen herumschlenkerte,
ohne den Versuch zu machen, vorwärtszukommen. Im selben Augenblick erstrahlten plötzlich die
Straßenlampen, die man nun gern später anzündete. Die Laterne hinter den Spaziergängern beleuchtete
jäh den Mann, der lautlos mit geschlossenen Augen lachte. Auf seinem weißlichen Gesicht, das von
dieser stummen Heiterkeit verzerrt wurde, perlten große Schweißtropfen. Sie gingen vorüber.
«Ein Verrückter», sagte Grand.
Rieux, der den Arm des Angestellten ergriffen hatte, um ihn weiterzuziehen, fühlte, wie er vor
Aufregung zitterte. «Bald wird es in dieser Stadt überhaupt nur noch Verrückte geben», bemerkte Rieux.
Seine Müdigkeit trug dazu bei, daß er das Gefühl hatte, seine Kehle sei ausgetrocknet.
«Trinken wir etwas.»
In dem kleinen Café, das sie betraten und das von einer einzigen Lampe über dem Schanktisch erleuchtet
wurde, herrschte eine dicke, rötliche Luft, und die Leute sprachen ohne ersichtlichen Grund mit
unterdrückter Stimme. Zur Überraschung des Arztes bestellte Grand an der Theke einen Schnaps, den er
in einem Zug hinuntertrank und als stark bezeichnete. Dann wollte er gehen. Draußen schien es Rieux,
die Nacht sei von Stöhnen erfüllt. Ein dumpfes Pfeifen über den Laternen am schwarzen Himmel
erinnerte ihn an den unsichtbaren Dreschflegel, der unermüdlich die heiße Luft durchwirbelte.
«Zum Glück, zum Glück», sagte Grand.
Rieux fragte sich, was er wohl meine.
«Zum Glück», sagte der andere, «habe ich meine Arbeit.»
«Ja», sagte Rieux, «das ist ein Vorteil.»
Und entschlossen, nicht auf das Pfeifen zu hören, fragte er Grand, ob er von dieser Arbeit befriedigt sei.
«Nun, ich glaube, ich bin auf dem rechten Weg.»
«Bleibt Ihnen noch viel zu tun?»
Grand schien sich zu beleben, die Wärme des Alkohols verriet sich in seiner Stimme.
«Ich weiß nicht. Aber es handelt sich nicht darum, Herr Doktor, nein, darum handelt es sich nicht.»
Rieux erriet in der Finsternis, daß der andere die Arme heftig bewegte. Er schien etwas vorzubereiten,
das dann mit jäher Beredsamkeit aus ihm herausbrach: «Sehen Sie, Herr Doktor, was ich will ist
folgendes: am Tag, da das Manuskript zum Verleger kommt, soll der nach dem Lesen aufstehen und zu
seinen Mitarbeitern sagen: » Diese unverhoffte Erklärung überraschte Rieux. Es
war ihm, als mache sein Begleiter die Gebärde des Hutabnehmens: er hob die Hand zum Kopf und
streckte dann den Arm waagrecht aus. Das merkwürdige Pfeifen oben schien mit erneuter Kraft
anzuschwellen.
«Jawohl», sagte Grand, «vollkommen muß es sein.»
Obschon Rieux über die literarischen Gebräuche wenig Bescheid wußte, hatte er doch den Eindruck, es
gehe nicht so einfach zu, und die Verleger säßen zum Beispiel barhäuptig in ihren Arbeitsräumen. Aber
schließlich konnte man nie wissen, und Rieux zog es vor zu schweigen. Gegen seinen Willen horchte er
auf die geheimnisvollen Geräusche der Pest. Die beiden Männer näherten sich Grands Viertel, und da es
ein wenig höher lag, erfrischte sie eine leichte Brise, die gleichzeitig auch die Stadt von all ihrem Lärm
säuberte. Grand sprach indessen immer weiter, doch erfaßte Rieux nicht alles, was er sagte. Er verstand
bloß, daß das betreffende Werk schon zahlreiche Seiten umfaßte, daß es aber seinem Autor viel Mühe
und Schmerzen bereite, es zur Vollkommenheit zu erheben. «Ganze Abende, ganze Wochen für ein
einziges Wort . . . und manchmal ein einfaches Bindewort.» An dieser Stelle hielt Grand inne und packte
den Arzt bei einem Mantelknopf. Die Worte holperten aus seinem beinahe zahnlosen Mund. «Verstehen
Sie mich wohl, Herr Doktor. Zur Not ist es ziemlich leicht, zwischen und zu wählen.
Schwieriger wird es schon bei und . Und noch schlimmer ist es mit und .
Aber das allerschwerste ist ganz sicher, zu entscheiden, ob man setzen darf oder nicht.»
«Aha», sagte Rieux, «ich verstehe.»
Und er ging weiter. Der andere schien verwirrt und eilte ihm nach.
«Verzeihen Sie mir», stammelte er. «Ich weiß gar nicht, was heute abend mit mir los ist.»
Rieux klopfte ihm leicht auf die Schulter und sagte, er möchte ihm helfen, seine Geschichte interessiere
ihn sehr. Der andere schien wieder etwas erleichtert, und vor dem Haus angelangt, bat er den Arzt mit
leichtem Zögern, noch einen Augenblick hinaufzukommen. Rieux nahm an. Grand lud ihn ein, im
Eßzimmer am Tisch Platz zu nehmen, auf dem zahllose, mit winziger Schrift bedeckte Blätter lagen, auf
denen es von Streichungen wimmelte.
«Ja, das ist es», sagte Grand auf den fragenden Blick des Arztes. «Aber wollen Sie nicht etwas trinken?
Ich habe ein bißchen Wein.»
Rieux lehnte ab. Er schaute die Blätter an.
«Schauen Sie nicht hin», sagte Grand. «Das ist mein erster Satz. Er macht mir Mühe, viel Mühe.»
Er betrachtete ebenfalls all diese Blätter, und seine Hand schien unwiderstehlich von einem Papier
angezogen, das er schließlich vor die schirmlose elektrische Birne hielt. Das Blatt zitterte in seiner Hand.
Rieux bemerkte, daß die Stirn des Angestellten feucht war.
«Setzen Sie sich und lesen Sie mir vor», sagte er.
Der andere blickte auf und lächelte irgendwie dankbar.
«Ja», sagte er, «ich glaube, ich habe Lust dazu.»
Er wartete ein bißchen, schaute immer noch das Blatt an, dann setzte er sich. Rieux hörte gleichzeitig auf
eine Art verworrenes Brausen, das in der Stadt dem Pfeifen des Dreschflegels zu antworten schien. In
diesem Augenblick nahm er mit außerordentlicher Deutlichkeit die Stadt wahr, die sich zu seinen Füßen
ausdehnte; er sah die abgeschlossene Welt, die sie bildete, und er hörte die entsetzlichen Schreie, die sie
in der Nacht erstickte. Grands Stimme erhob sich gedämpft: «An einem schönen Morgen des Monats
Mai durchritt eine elegante Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois
de Boulogne.» Die Stille kam zurück und mit ihr der undeutliche Lärm der leidenden Stadt. Grand hatte
das Blatt niedergelegt und fuhr fort, es zu betrachten. Nach einer Weile hob er die Augen.
«Was halten Sie davon?»
Rieux antwortete, dieser Anfang mache ihn auf die Fortsetzung neugierig. Aber der andere sagte lebhaft,
das sei nicht der richtige Standpunkt. Er schlug mit der flachen Hand auf die Papiere.
«Das ist nur eine Andeutung. Wenn ich es fertiggebracht habe, das Bild, das mir vorschwebt,
vollkommen wiederzugeben, wenn mein Satz an sich die Gangart dieses Spazierrittes ausdrückt, eins
zwei drei, eins zwei drei, dann wird alles übrige leichter, und vor allem wird der Eindruck von Anfang an
so sein, daß man sagen kann: » Aber damit hatte es noch gute Weile. Nie würde er den Satz in
dieser Form dem Drucker überlassen. Denn er sei sich trotz der Befriedigung, die er ihm manchmal
gewähre, klar, daß er noch nicht an die Wirklichkeit herankomme. In gewissem Grad besitze dieser Satz
sogar einen zu leichten Ton, der zwar von ferne, aber doch, an eine Schablone erinnere. Das war
wenigstens der Sinn seiner Worte, als sie Menschen unter dem Fenster vorbeilaufen hörten. Rieux stand
auf.
«Sie werden sehen, was ich daraus mache», sagte Grand; und gegen das Fenster gewendet fügte er hinzu:
«Wenn das alles einmal fertig ist!»
Aber wieder ertönte der Lärm überstürzter Schritte. Rieux stieg schon die Treppe hinab, und als er auf
der Straße war, überholten ihn zwei Männer. Sie gingen offenbar in Richtung auf die Stadttore. Es hatten
nämlich einige unserer Mitbürger über der Hitze und der Pest den Kopf verloren, sich zu Gewalttaten
hinreißen lassen und versucht, die Aufmerksamkeit der Wachen zu täuschen, um aus der Stadt zu fliehen.
Andere, wie Rambert, versuchten ebenfalls, aus dieser Stimmung beginnender Panik zu entfliehen. Aber
sie taten es mit größerer Zähigkeit und mehr Geschick, wenn auch nicht mit mehr Erfolg. Rambert hatte
zunächst seine offiziellen Schritte fortgesetzt. Wie er sagte, hatte er immer gedacht, Beharrlichkeit führe
schließlich zum Ziel, und von einem gewissen Standpunkt aus war es sein Beruf, sich durchzuschlagen.
Er hatte also eine große Menge Beamte und andere Leute besucht, deren Zuständigkeit für gewöhnlich
unbestritten war. Aber im vorliegenden Fall nützte ihnen ihre Zuständigkeit nichts. Es waren meistens
Männer, die genaue und wohlgeordnete Kenntnisse hatten in allem, was das Bankwesen oder die Ausfuhr
oder die Südfrüchte oder den Weinhandel betraf; die unzweifelhaft in den Problemen der
Verwaltungsstreitigkeiten oder Versicherungen bewandert waren, ganz abgesehen von ihren gewichtigen
Diplomen und einem offensichtlichen guten Willen. Das war sogar bei allen am auffälligsten: dieser gute
Wille. Aber über die Pest wußten sie so gut wie nichts.
Dennoch hatte Rambert vor jedem von ihnen und jedesmal, wenn es möglich war, seine Sache vertreten.
Sein Hauptgrund war immer der, daß er fremd war in unserer Stadt und daß sein Fall deshalb gesondert
zu prüfen sei. Im allgemeinen gaben die Leute das gern zu. Aber meistens hielten sie ihm vor Augen, daß
sich noch einige andere Menschen in dieser Lage befänden und daß infolgedessen seine Angelegenheit
nicht so einzig dastehe, wie er es sich vorstelle. Rambert konnte erwidern, daß sich damit an seiner
Beweisführung nichts ändere, worauf er zur Antwort erhielt, es ändere aber etwas an den
verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die sich jeder Ausnahmebehandlung entgegenstellten, da man
Gefahr laufe, damit einen Präzedenzfall zu schaffen, und diesen Ausdruck gebrauchte man nur mit
großem Widerwillen. Nach der Einteilung, die Rambert Dr. Rieux vorschlug, gehörte diese Art Klügler
zu der Klasse der Formalisten. Außer ihnen gab es noch die Schönredner, die dem Bittsteller
versicherten, das alles könne nicht lange dauern, die, wenn man Entscheidungen verlangte, von guten
Ratschlägen troffen und Rambert mit der bündigen Erklärung trösteten, es handle sich nur um eine
vorübergehende Unannehmlichkeit. Dann gab es die Wichtigtuer, die den Besucher baten, seinen Fall
schriftlich zusammenzufassen und die ihm mitteilten, sie würden über eben diesen Fall beschließen; die
Leichtfertigen, die ihm Übernachtungsgutscheine oder Adressen billiger Pensionen anboten; die
Planmäßigen, die einen Zettel ausfüllen ließen, den sie nachher einordneten; die Überbeanspruchten, die
die Arme gen Himmel warfen, und jene Belästigten, die ihre Augen abwandten; schließlich traf man am
häufigsten die üblichen Beamten, die Rambert an ein anderes Büro wiesen oder ihm einen neuen Schritt
empfahlen.
So hatte sich der Journalist in Besuchen ausgegeben und eine richtige Vorstellung von dem bekommen,
was ein Rathaus oder eine Präfektur sein mochte; so lange hatte er auf Plüschbänken vor großen
Anschlägen warten müssen, die einen aufforderten, steuerfreie, gut verzinste Staatsanleihen zu zeichnen
oder sich in die Kolonialarmee anwerben zu lassen; so oft war er in Amtsräume eingetreten, wo
Angestellte saßen, deren Gesichter ebenso leicht vorauszusehen waren wie die Ordner und die Gestelle
von Aktenstöße. Rambert bemerkte mit einem Anflug von Bitterkeit zu Rieux, der einzige Vorteil sei
gewesen, daß ihm dies alles die wirkliche Lage verschleiert habe. Die Fortschritte der Pest entgingen ihm
fast ganz. Und außerdem verflogen die Tage so schneller, und bei den Verhältnissen, in denen sich die
ganze Stadt befand, konnte man sagen, daß jeder vergangene Tag jeden Menschen dem Ende seiner
Prüfung näher brachte, vorausgesetzt, daß er nicht vorher starb. Rieux mußte die Richtigkeit dieses
Standpunkts zugeben, fand aber, diese Wahrheit sei doch ein bißchen zu allgemein gefaßt.
Einmal schöpfte Rambert Hoffnung. Von der Präfektur hatte er einen Schein erhalten, mit der Bitte, ihn
genau auszufüllen. Dieses Formular fragte nach seinen Personalien, seinem Zivilstand, seinem früheren
und gegenwärtigen Einkommen und nach dem, was man sein curriculum vitae nannte. Er bekam den
Eindruck, es handle sich um eine Umfrage, die festzustellen suchte, wie viele Leute man an ihren
Wohnort zurückschicken könnte. Ein paar undeutliche Angaben bestätigten diesen Eindruck. Aber nach
einigen genauen Erkundigungen konnte er die Stelle herausfinden, die ihm den Zettel geschickt hatte,
und dort erklärte man ihm, man habe diese Angaben gebraucht «für den Fall».
«Für welchen Fall?» fragte Rambert.
Man setzte ihm auseinander, es sei für den Fall, daß er pestkrank werde und sterbe, damit man einerseits
seine Angehörigen benachrichtigen könne und andererseits wisse, ob die Stadt die Spitalkosten bezahlen
müsse oder ob mit einer Rückzahlung durch die Familie gerechnet werden könne. Das bewies natürlich,
daß er nicht vollständig von der Frau getrennt war, die auf ihn wartete, da die Gesellschaft sich immerhin
mit ihnen befaßte. Aber das war kein Trost. Bemerkenswerter, und Rambert bemerkte es infolgedessen,
war die Art, wie inmitten einer Katastrophe ein Amt seinen Dienst weiterhin versehen und oft ohne
Wissen der vorgesetzten Behörde Schritte aus einer anderen Zeit unternehmen konnte, aus dem einfachen
Grund, weil es für diesen Dienst da war.
Die folgende Zeit war für Rambert am leichtesten und am schwersten zugleich. Es war eine Zeit der
Erschlaffung. Er war auf allen Büros gewesen, hatte alle Schritte unternommen, für den Augenblick
waren nach dieser Seite hin alle Möglichkeiten erschöpft. Nun irrte er von Café zu Café. Er setzte sich
am Morgen auf die Terrasse, bestellte ein Glas lauwarmes Bier, las die Zeitung in der Hoffnung, ein paar
Anzeichen des nahen Endes der Krankheit zu finden, schaute den Vorübergehenden ins Gesicht, wandte
sich angewidert von ihrem traurigen Ausdruck ab, und nachdem er zum hundertstenmal die
Aushängeschilder der gegenüberliegenden Geschäfte, die Reklame der großen, schon nicht mehr
erhältlichen Apéritifmarken gesehen hatte, stand er auf und wanderte ziellos durch die gelben Straßen der
Stadt. So vertauschte er einsame Spaziergänge mit Cafés und Cafés mit Weinstuben, bis es langsam
Abend wurde. Rieux sah ihn gerade eines Abends zögernd vor der Tür eines Cafés stehen. Dann schien
er sich zu entschließen, trat ein und setzte sich ganz hinten hin. Es war um die Zeit, da in den Restaurants
auf höheren Befehl der Augenblick des Lichtanzündens so lange wie möglich hinausgeschoben wurde.
Die Dämmerung durchflutete den Raum wie graues Wasser, das Rosa des Abendhimmels spiegelte sich
in den Scheiben, und die Marmorplatten der Tische schimmerten schwach in der beginnenden
Dunkelheit. Inmitten des leeren Saals erschien Rambert wie ein verlorener Schatten, und Rieux dachte,
dies sei die Stunde seiner Verzagtheit. Aber es war auch der Augenblick, da alle die Gefangenen dieser
Stadt die ihre fühlten, und man mußte etwas tun, um die Befreiung zu beschleunigen. Rieux wandte sich
ab.
Rambert verbrachte auch viel Zeit im Bahnhof. Der Zugang zu den Bahnsteigen war untersagt. Aber die
Wartesäle, die von außen zu betreten waren, blieben geöffnet, und weil sie schattig und kühl waren,
ließen sich an heißen Tagen manchmal Bettler darin nieder. Rambert kam und las alte Fahrpläne, die
Schilder, die das Spucken verboten, und die bahnpolizeilichen Vorschriften. Dann setzte er sich in eine
Ecke. Der Raum war düster. Ein alter, gußeiserner Ofen kühlte seit Monaten ab, während der Boden
ringsum die achterförmigen Spuren des Besprengens aufwies. An der Wand lockten ein paar Plakate zu
einem glücklichen und freien Leben in Cannes oder Bandol. Rambert rührte hier an jene entsetzliche
Freiheit, die in der tiefsten Verarmung zu finden ist. Nach dem, was er Rieux erzählte, waren die Bilder,
die er damals am schwersten ertrug, die von Paris. Eine Landschaft von alten Steinen und Wasser, die
Tauben des Palais Royal, der Nordbahnhof, die menschenleeren Viertel ums Panthéon und ein paar
andere Orte in einer Stadt, von der er nicht gewußt hatte, daß er sie so liebte, verfolgten ihn, setzten ihn
außerstande, etwas Bestimmtes zu unternehmen. Rieux dachte nur, er setze diese Bilder an die Stelle
seiner Liebe. Und am Tag, da Rambert ihm sagte, er erwache gern morgens um vier Uhr, um an seine
Stadt zu denken, fiel es dem Arzt aus seiner eigenen Erfahrung heraus nicht schwer, zu merken, daß er
dann an die Frau dachte, die er zurückgelassen hatte. Denn das war die Stunde, da er sie fassen konnte.
Bis vier Uhr morgens tut man gewöhnlich nichts, man schläft, selbst wenn es die Nacht eines Verrats
war. Ja, man schläft um diese Zeit, und das ist tröstlich, weil der große Wunsch eines unruhigen Herzens
darin besteht, den geliebten Menschen unaufhörlich zu besitzen oder ihn, wenn die Zeit der Trennung
gekommen ist, in einen traumlosen Schlaf zu tauchen, der sein Ende erst am Tag der Wiedervereinigung
fände.
Kurz nach der Predigt begann die große Hitze. Der Monat Juni ging zu Ende. Am Tag nach dem
verspäteten Regen, der den Predigtsonntag gekennzeichnet hatte, brach sich mit einem Schlag am
Himmel und über den Häusern der Sommer Bahn. Zuerst erhob sich ein heftiger Wind, wehte einen Tag
lang und trocknete die Mauern aus. Die Sonne strahlte Tag für Tag. Von morgens bis abends überfluteten
ununterbrochene Hitze- und Lichtströme die Stadt. Es war, als gebe es außerhalb der Laubengänge und
der Wohnungen kein Plätzchen in der ganzen Stadt, das nicht in blendenden Glanz getaucht war. Die
Sonne verfolgte unsere Mitbürger bis in den hintersten Straßenwinkel und traf sie mit voller Wucht,
wenn sie still standen. Da diese erste Hitzewelle von einem jähen Ansteigen der Todesfälle begleitet war,
die sich auf ungefähr siebenhundert in der Woche beliefen, bemächtigte sich eine gewisse
Niedergeschlagenheit der Stadt. Aus den Vorstädten, aus den ebenen Straßen und den Flachdachhäusern
schwand der Betrieb, und in dem Viertel, wo die Leute immer unter der Haustür lebten, waren alle Türen
geschlossen und die Jalousien heruntergelassen, ohne daß man wußte, ob man sich auf diese Weise vor
der Pest oder vor der Sonne zu schützen suchte. Aus einigen Häusern jedoch drang Stöhnen. Früher
waren bei solchen Gelegenheiten oft Gaffer zu sehen, die auf der Straße standen und horchten. Aber nach
dieser langen Spannung schien sich jedes Herz verhärtet zu haben, und alle schritten oder lebten an den
Klagen vorbei, als wären sie die natürliche Sprache der Menschen.
Die Zusammenstöße an den Toren, in deren Verlauf die Polizei von ihren Waffen hatte Gebrauch
machen müssen, schufen eine dumpfe Aufregung. Es hatte sicher Verwundete gegeben, aber in der Stadt
redete man von Toten, da infolge der Hitze und der Angst alles übertrieben wurde. Auf alle Fälle stimmte
es, daß die Unzufriedenheit ständig wuchs, daß die Behörden das Schlimmste befürchteten und allen
Ernstes die Maßnahmen überlegten, die zu ergreifen wären, wenn die von der Seuche geknechtete
Bevölkerung sich erheben sollte. Die Zeitungen veröffentlichten Bestimmungen, die das Verlassen der
Stadt aufs neue untersagten und Zuwiderhandelnde mit Gefängnisstrafen bedrohten. Patrouillen
durchstreiften die Stadt. In den menschenleeren, überhitzten Straßen erklang oft Hufklappern auf dem
Pflaster, dann erschienen die Wachen und ritten zwischen den Reihen geschlossener Fenster hindurch.
Wenn die Patrouille verschwunden war, fiel die gefährdete Stadt erneut in drückendes, mißtrauisches
Schweigen. Von Zeit zu Zeit ertönten Schüsse; ein kürzlich erlassener Befehl beauftragte besondere
Gruppen, die Hunde und Katzen zu töten, da sie Flöhe übertragen konnten. Dieses trockene Knallen
verstärkte noch die Alarmstimmung in der Stadt.
In der Hitze und dem Schweigen und in den verängstigten Herzen unserer Mitbürger bekam übrigens
alles eine größere Bedeutung. Die Farbe des Himmels und die Gerüche der Erde, die den Wandel der
Jahreszeiten ausmachen, wurden zum erstenmal allen spürbar. Jeder begriff mit Schrecken, daß der
Sommer da war. Das Pfeifen der Mauersegler im Abendhimmel über der Stadt wurde dünn. Es war der
Junidämmerung, die bei uns den Horizont weit macht, nicht mehr gewachsen. Die Blumen kamen nicht
mehr als Knospen auf den Markt, sie waren schon voll erblüht, und nach dem morgendlichen Verkauf
bedeckten ihre Blütenblätter das staubige Trottoir. Man sah deutlich, daß der Frühling sich erschöpft und
in Tausenden von Blüten verschwendet hatte, die nun ringsumher prangten, und daß er jetzt
einschlummern werde, erdrückt von der zwiefachen Last von Pest und Hitze. Für alle unsere Mitbürger
hatten dieser Sommerhimmel, diese von Staub und Langeweile weiß werdenden Straßen, den gleichen
bedrohlichen Sinn wie die hundert Toten, die täglich schwer auf unsere Stadt fielen. Der unveränderliche
Sonnenschein, die Stunden, die nach Schlaf und Ferien schmeckten, luden nicht wie früher dazu ein, das
Wasser und den Leib zu feiern. Nein, sie erklangen hohl in der verschlossenen, schweigenden Stadt. Sie
hatten den kupfernen Glanz der glücklichen Zeiten verloren. Die Sonne der Pest löschte alle Farben aus
und vertrieb jede Freude.
Das war eine der großen Wandlungen der Krankheit. Gewöhnlich begrüßten alle unsere Mitbürger den
Sommer mit Fröhlichkeit. Die Stadt öffnete sich dann gegen das Meer und ergoß ihre Jugend auf den
Strand. Diesen Sommer hingegen war das nahe Meer untersagt, und der Körper hatte kein Recht mehr
auf seine Freuden. Was tun unter diesen Umständen? Wiederum ist es Tarrou, der das getreueste Bild
unseres damaligen Lebens entwirft. Wohlverstanden verfolgte er die Fortschritte der Pest im allgemeinen
und bemerkte ganz richtig, daß in der Seuche eine Wendung eingetreten war, als im Rundfunk nicht
mehr Hunderte von Todesfällen in der Woche bekanntgegeben wurden, sondern 92, 107 und 120 am
Tag. «Die Zeitungen und die Behörden versuchen, die Pest hinters Licht zu führen. Sie stellen sich vor,
daß sie ihr eine Runde abgewinnen, weil 130 eine kleinere Zahl ist als 910.» Er beschrieb auch die
pathetischen oder augenfälligen Seiten der Epidemie wie das Erlebnis mit jener Frau, die in einem
verlassenen Viertel mit geschlossenen Jalousien unvermittelt über ihm ein Fenster aufgerissen und zwei
laute Schreie ausgestoßen hatte, ehe sie die Laden vor dem dichten Dunkel des Zimmers wieder
zuschlug. Anderswo vermerkte er, daß die Pfefferminzplättchen aus den Apotheken verschwunden seien,
da viele Leute sie lutschten, um sich vor einer möglichen Ansteckung zu schützen.
Er fuhr auch fort, seine Lieblingspersonen zu beobachten. Man erfuhr, daß der kleine Alte mit den
Katzen ebenfalls ein tragisches Dasein führte. Eines Morgens hatten nämlich Schüsse geknallt, und das
gespuckte Blei, wie Tarrou beschrieb, hatte die meisten Katzen getötet und die übrigen so erschreckt, daß
sie die Straße verließen. An demselben Tag war der Alte zur gewohnten Zeit auf seinen Balkon getreten,
hatte eine gewisse Überraschung gezeigt, sich hinausgebeugt, forschend die Straße hinauf- und
hinabgeblickt und sich dann zum Warten entschlossen. Er hatte eine Weile gewartet, auf das Geländer
getrommelt, ein wenig Papier zerfetzt, war hineingegangen, wieder herausgekommen, dann war er nach
geraumer Zeit plötzlich verschwunden und hatte wütend die Fenstertüren hinter sich geschlossen. An den
folgenden Tagen wiederholte sich der Vorgang, aber in den Zügen des kleinen Alten konnte man immer
deutlicher Traurigkeit und Verwirrung lesen. Nach einer Woche wartete Tarrou vergeblich auf die
tägliche Erscheinung, und die Fenster blieben hartnäckig vor einem gut begreiflichen Kummer
geschlossen. «Verboten, in Pestzeiten auf Katzen zu spucken», folgerte das Tagebuch.
Andererseits traf Tarrou sicher, wenn er abends heimkehrte, in der Halle des Hotels die düstere Gestalt
des Nachtportiers, der auf und ab spazierte. Er erinnerte jedermann daran, daß er die Ereignisse
vorausgesehen habe. Als Tarrou zugab, er habe wohl ein Unglück prophezeit, aber doch von einem
Erdbeben gesprochen, antwortete der alte Nachtwächter: «Ach! wenn's nur ein Erdbeben wäre! Ein
tüchtiger Stoß und damit Schluß . . . Man zählt die Toten, die Lebenden, und der Spaß ist zu Ende. Aber
diese Schweinerei von einer Krankheit! Sogar die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen.»
Der Direktor war nicht weniger niedergedrückt. Am Anfang waren die Reisenden durch die Schließung
der Stadt im Hotel festgehalten worden, da sie nicht mehr fortgehen konnten. Aber als die Seuche länger
dauerte, hatten es viele allmählich vorgezogen, bei Freunden zu wohnen. Und alle Hotelzimmer blieben
aus den gleichen Gründen leer, aus denen sie bisher besetzt gewesen waren, da keine neuen Reisenden
mehr in die Stadt kamen. Tarrou blieb einer der wenigen Mieter, und der Direktor verfehlte keine
Gelegenheit, ihm zu sagen, ohne den Wunsch, seinem letzten Kunden einen Dienst zu erweisen, hätte er
seinen Betrieb seit langem geschlossen. Er bat Tarrou oft, die wahrscheinliche Dauer der Epidemie
abzuschätzen. «Man sagt, daß die Kälte solchen Krankheiten unzuträglich sei», bemerkte Tarrou. Der
Direktor verzweifelte: «Aber hier wird es nie richtig kalt!» Und auf alle Fälle würde es ja noch ein paar
Monate dauern. Übrigens sei er sicher, daß die Reisenden noch lange einen Umweg um die Stadt machen
würden. Diese Pest sei das Ende des Fremdenverkehrs.
Im Speisesaal tauchte nach einer kurzen Abwesenheit Herr Othon, der Eulenmann, wieder auf, aber nur
von den zwei abgerichteten Hunden begleitet. Erkundigungen ergaben, daß die Frau ihre eigene Mutter
gepflegt und begraben hatte und jetzt ihre Quarantäne durchmachte.
«Ich habe das nicht gern», sagte der Direktor zu Tarrou. «Quarantäne hin oder her, sie ist verdächtig, und
die anderen infolgedessen auch.»
Tarrou fand, daß von diesem Standpunkt aus alle Welt verdächtig sei. Aber der andere ließ keinen
Einwand gelten, sondern hatte seine ganz bestimmten Ansichten in der Frage.
«Nein, Herr Tarrou, Sie und ich sind nicht verdächtig. Aber die anderen.»
Herr Othon jedoch änderte sich wegen einer solchen Kleinigkeit nicht, und diesmal hatte die Pest das
Nachsehen. Er betrat den Speisesaal auf dieselbe Weise, setzte sich vor seinen Kindern und führte
weiterhin vornehme und feindselige Reden. Nur der kleine Knabe hatte sich im Aussehen verändert. Er
war schwarz gekleidet wie seine Schwester, ein bißchen mehr in sich zusammengesunken und erschien
wie der kleine Schatten seines Vaters. Der Nachtwächter, der Herrn Othon nicht eben gern sah, hatte zu
Tarrou gesagt: «Ach der, der krepiert mal in den Kleidern. Dann braucht man ihn wenigstens nicht
zurechtzumachen. Der wird stracks abgehen.»
Paneloux' Predigt war auch vermerkt, aber mit folgendem Zusatz: «Ich verstehe dieses anziehende Feuer.
Am Anfang und am Schluß von Heimsuchungen macht man immer ein wenig in Rhetorik. Im ersten Fall
hat man die Gewohnheit noch nicht verloren, und im zweiten hat man sie schon wieder angenommen. Im
Augenblick des Unglücks allein gewöhnt man sich an die Wahrheit, das heißt ans Schweigen. Warten
wir ab.»
Schließlich verzeichnete Tarrou, daß ein langes Gespräch mit Dr. Rieux gute Ergebnisse gezeigt habe;
bei dieser Gelegenheit erwähnte er die hell-kastanienbraune Augenfarbe von Rieux' Mutter, versicherte
merkwürdigerweise gleichzeitig, daß ein Blick so voll Güte immer stärker sein werde als die Pest, und
widmete schließlich dem alten, von Rieux behandelten Asthmatiker ziemlich lange Abschnitte.
Nach jener Unterredung hatte er den Arzt zu diesem Patienten begleitet. Der Alte hatte Tarrou spöttisch
grinsend und händereibend empfangen. Er saß im Bett, an sein Kopfkissen gelehnt. Auf seinem Schoß
standen die zwei Töpfe mit Erbsen. «Aha, noch einer», hatte er gesagt, als er Tarrou sah. «Die reinste
verkehrte Welt, mehr Ärzte als Kranke. Es geht schnell, ja? Der Priester hat recht, wir verdienen es nicht
besser.»
Am nächsten Tag war Tarrou unangemeldet wiedergekommen.
Das Tagebuch erzählt, daß der alte Asthmatiker Kurzwarenhändler von Beruf gewesen war und mit 50
Jahren gefunden hatte, er habe genug geleistet. Er hatte sich ins Bett gelegt und war seither nicht mehr
aufgestanden. Dabei hätte sein Asthma ihm das Stehen sehr wohl erlaubt. Eine kleine Rente hatte ihm
das Leben ermöglicht. Nun war er 75 Jahre alt und trug nicht schwer an seinen Jahren. Er konnte den
Anblick einer Uhr nicht leiden, und tatsächlich gab es im ganzen Haus keine einzige. «Eine Uhr ist etwas
Teures und etwas Dummes», pflegte er zu sagen. Er maß die Zeit, und hauptsächlich die Essenszeiten,
die ihm allein wichtig waren, mit seinen zwei Töpfen, von denen der eine bei seinem Erwachen voll
Erbsen war. Die füllte er mit gleichmäßigen, sorgfältigen Bewegungen in den andern um. So fand er sich
in seinen Tagen zurecht, die mit dem Kochtopf eingeteilt wurden. «Alle fünfzehn Töpfe muß ich etwas
zum Beißen haben», sagte er. «Das ist ganz einfach.»
Wenn man seiner Frau glauben wollte, hatte er übrigens schon sehr früh Zeichen seiner Berufung
erkennen lassen. Es hatte ihn nämlich nichts jemals interessiert, weder seine Arbeit noch die Freunde,
noch das Wirtshaus, noch die Musik, noch die Frauen, noch die Spaziergänge. Er war nie aus der Stadt
hinausgekommen, außer einen Tag, als er sich in Familienangelegenheiten nach Algier begeben sollte
und am nächsten Bahnhof wieder ausgestiegen war, weil er es nicht über sich brachte, das Abenteuer
weiterzutreiben. Mit dem ersten Zug war er zurückgekehrt.
Als Tarrou sich über sein eingesperrtes Leben wunderte, hatte er ihm im Groben erklärt, daß nach der
Religion das Leben eines Menschen in der ersten Hälfte ein Aufstieg und in der zweiten ein Abstieg sei,
daß während des Abstiegs die Tage nicht mehr dem Menschen gehörten und man sie ihm jeden
Augenblick entreißen könne, daß er also nichts damit anfangen könne und es infolgedessen das Beste sei,
nichts damit anzufangen. Er scheute sich übrigens nicht vor Widersprüchen, denn bald darauf hatte er
Tarrou erklärt, es gebe sicher keinen Gott, da sonst die Priester überflüssig wären. Aber aus einigen
folgenden Bemerkungen schloß Tarrou, daß diese Philosophie eng mit dem Ärger verknüpft war, den
ihm die häufigen Almosensammlungen in seiner Gemeinde verursachten. Was dem Bild des Greises
jedoch seine Abrundung verlieh, war ein scheinbar inniger Wunsch, den er zu wiederholten Malen vor
Tarrou äußerte: er hoffte, sehr alt zu werden.
«Ist er ein Heiliger?» fragte sich Tarrou. Und er gab zur Antwort: «Ja, wenn die Heiligkeit sich aus
Gewohnheiten zusammensetzt.»
Zur selben Zeit jedoch unternahm Tarrou eine ziemlich eingehende Beschreibung eines Tages in der
verpesteten Stadt und vermittelte so einen richtigen Begriff von den Beschäftigungen und dem Leben
unserer Mitbürger während dieses Sommers. «Niemand lacht, außer den Betrunkenen, und die lachen
zuviel», sagte Tarrou. Dann begann er seine Beschreibung: «Am frühen Morgen wehen leichte Winde
durch die noch menschenleere Stadt. Es ist, als hielte zu dieser Stunde die Pest zwischen den Toten der
Nacht und den Sterbenden des Tages einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Alle Geschäfte sind
geschlossen. Aber an manchen bezeugen Schilder , daß sie nachher nicht mit
den anderen zusammen öffnen werden. Schlafende Zeitungsverkäufer rufen noch keine Nachrichten aus,
sondern lehnen an den Straßenecken und bieten ihre Ware mit nachtwandlerischen Gebärden den
Laternen dar. Sobald in einem Augenblick die ersten Straßenbahnen sie wecken, werden sie sich in die
ganze Stadt verteilen und Blätter auf Armeslänge vor sich hinhalten, auf denen in großen Buchstaben das
Wort steht. - <180
Tote, das ist die Bilanz des 94. Tages der Pest.> Trotz des Papiermangels, der immer fühlbarer wird und
einige Zeitschriften gezwungen hat, ihren Umfang zu vermindern, ist eine neue Zeitung entstanden: Der
Epidemiebote. Er stellt sich die Aufgabe, . In Wirklichkeit hat sich diese
Zeitung sehr schnell darauf beschränkt, Inserate von neuen, unfehlbaren Pestverhütungsmitteln zu
veröffentlichen.
Gegen sechs Uhr morgens werden alle diese Zeitungen in den Schlangen verkauft, die sich mehr als eine
Stunde vor der Öffnung der Geschäfte an den Eingängen bilden, und dann auch in den Straßenbahnen,
die überfüllt aus den Vorstädten hereinfahren. Die Straßenbahn ist das einzige Verkehrsmittel geworden,
und die Wagen mit ihren zum Bersten besetzten Trittbrettern und Schutzgittern kommen nur mühsam
voran. Merkwürdig ist indessen, wie sich alle Fahrgäste nach Möglichkeit den Rücken zudrehen, um eine
gegenseitige Ansteckung zu vermeiden. An den Haltestellen entläßt die Straßenbahn eine Fracht Männer
und Frauen, die es eilig hat, auseinanderzugehen und allein zu sein. Es kommt häufig zu Auftritten, die
einzig auf die zum Dauerzustand gewordene schlechte Laune zurückzuführen sind.
Nach der Durchfahrt der ersten Straßenbahn erwacht die Stadt allmählich, die ersten Restaurants öffnen
ihre Pforten; die Schanktische hängen voller Schilder: ,
usw. Dann öffnen die Geschäfte, die Straßen beleben sich. Gleichzeitig steigt die Sonne, und die vom
Julihimmel niederstrahlende Hitze wird bleiern. Das ist die Stunde, in der die Müßiggänger sich auf die
Boulevards wagen. Die meisten scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, durch die Schaustellung
ihres Luxus die Pest zu beschwören. Alle Tage sieht man gegen elf Uhr in den Hauptstraßen junge
Männer und junge Frauen dahinschlendern, denen man die in den Zeiten großen Unglücks gedeihende
Lebensgier anmerkt. Wenn die Seuche sich ausdehnt, werden auch die Sitten freier werden. Wir werden
die mailändischen Saturnalien am Rand der Gräber wieder erleben.
Mittags füllen sich die Gaststätten im Nu. An den Türen bilden sich sehr schnell kleine Gruppen von
Leuten, die keinen Platz mehr gefunden haben. Der Himmel wird farblos vor lauter Hitze. Am Rand der
sonneberstenden Straße warten im Schatten der großen Markisen die Eßlustigen, bis die Reihe an sie
kommt. Die Restaurants sind überfüllt, weil sie für viele die Ernährungsfrage vereinfachen. Hingegen
lassen sie die Furcht vor Ansteckung unvermindert bestehen. Die Gäste verlieren viele Minuten mit
geduldigem Abreiben ihres Bestecks. Vor kurzer Zeit schlugen gewisse Restaurants an: . Aber nach und nach haben sie auf alle Reklame verzichtet, da die Gäste ja ohnehin
gezwungen waren zu kommen. Der Gast gibt übrigens gern viel Geld aus. Erlesene oder als solche
verkaufte Weine, die teuersten Gerichte bilden den Anfang einer zügellosen Jagd. Es scheint auch, daß in
einem Restaurant eine Panik ausgebrochen ist, weil ein Gast von Unwohlsein befallen wurde, erbleichte,
aufstand, taumelte und sehr schnell hinausging.
Gegen zwei Uhr leert sich die Stadt allmählich. Nun ist der Augenblick, da die Stille, der Staub, die
Sonne und die Pest sich auf der Straße begegnen. An den großen grauen Häusern entlang schleicht die
Hitze. Es sind lange Stunden des Gefangenseins, und sie münden in feurige Abende, die über die
volkreiche, schwatzende Stadt hereinbrechen. Während der ersten Tage der Hitze waren die Abende hie
und da menschenleer, ohne daß man wußte, warum. Aber jetzt bringt die erste Kühle eine Entspannung,
beinahe eine Hoffnung. Alle gehen auf die Straße hinaus, betäuben sich mit Reden, streiten oder
begehren sich, und unter dem roten Julihimmel gleitet die mit Pärchen und Schreiern erfüllte Stadt in die
keuchende Nacht. Vergeblich drängt sich jeden Abend auf den Boulevards ein verzückter Greis mit
Filzhut und Lavallière durch die Menge und wiederholt unablässig: ; alle
stürzen sich im Gegenteil auf etwas, das sie schlecht kennen oder das ihnen dringender erscheint als Gott.
Am Anfang, als sie glaubten, es sei eine Krankheit wie eine andere, war die Religion angebracht. Aber
als sie sahen, daß es ernst war, haben sie sich an das Genießen erinnert. Die ganze Beklemmung, die sich
tagsüber in den Gesichtern malt, löst sich in der glühenden und staubigen Dämmerung zu einer Art
wilder Erregung, einer linkischen Freiheit, die ein ganzes Volk in Fieber versetzt.
Und ich bin auch wie sie. Aber warum denn! Der Tod ist nichts für Menschen meines Schlages. Er ist ein
Ereignis, das ihnen recht gibt.»
Die Unterredung mit Rieux, von der Tarrou in seinen Aufzeichnungen spricht, war auf seine Bitte hin
erfolgt. An jenem Abend, als Dr. Rieux ihn erwartete, betrachtete der Arzt gerade seine Mutter, die
gelassen auf einem Stuhl in einer Ecke des Eßzimmers saß. Dort verbrachte sie ihre Tage, wenn sie sich
nicht mehr um den Haushalt kümmern mußte. Die Hände im Schoß wartete sie. Rieux war nicht einmal
sicher, ob sie ihn erwartete. Indessen veränderte sich etwas im Gesicht seiner Mutter, wenn er erschien.
Alles, was ein von Arbeit erfülltes Leben an Wortkargheit darauf gezeichnet hatte, schien sich dann zu
beleben. Gleich darauf fiel sie wieder in Schweigen. An jenem Abend schaute sie durch das Fenster auf
die jetzt verödete Straße. Die Nachtbeleuchtung war um zwei Drittel vermindert worden. Und nur in
weiten Abständen warf hie und da eine schwache Laterne ein wenig Licht in die dunklen Schatten der
Nacht.
«Wird man die herabgesetzte Beleuchtung während der ganzen Pest beibehalten?» fragte Frau Rieux.
«Wahrscheinlich.»
«Wenn es nur nicht bis in den Winter hinein dauert. Dann wäre es traurig.»
«Ja», sagte Rieux.
Er bemerkte, wie seine Mutter ihm auf die Stirn blickte. Er wußte, daß die Unruhe und
Überanstrengungen der letzten Tage sein Gesicht zerfurcht hatten.
«Ist es nicht gutgegangen heute?» fragte Frau Rieux.
«Ach, wie gewöhnlich.»
Wie gewöhnlich! Das hieß, daß das neue, von Paris geschickte Serum weniger wirksam schien als die
erste Sendung und daß die Zahl der Fälle stieg. Es war noch immer nicht möglich, mehr Menschen
vorbeugend zu impfen als gerade die Angehörigen der schon Erkrankten. Um eine allgemeine Impfung
durchzuführen, hätte es ungeheurer Mengen Serums bedurft. Die meisten Beulen wollten nicht
aufbrechen; als sei die Zeit ihrer Verhärtung gekommen, so folterten sie die Kranken. Seit dem
vorhergehenden Abend war die Epidemie in der Stadt bei zwei Fällen unter einer neuen Form
aufgetreten. Die Pest griff nun auf die Lungen über. Noch am gleichen Tag hatten die zermürbten Ärzte
während einer Zusammenkunft von dem hilflosen Präfekten verlangt und erreicht, daß neue Maßnahmen
getroffen wurden, um die Ansteckung zu verhüten, die bei der Lungenpest von Mund zu Mund geschah.
Wie gewöhnlich wußte man noch immer nichts.
Er schaute seine Mutter an. Der Blick ihrer warmen braunen Augen ließ Jahre der Zärtlichkeit in ihm
aufsteigen.
«Hast du Angst, Mutter?»
«In meinem Alter fürchtet man nicht mehr viel.»
«Die Tage sind so lang, und ich bin nie mehr daheim.»
«Es ist mir gleich, auf dich zu warten, wenn ich weiß, daß du einmal kommst. Und wenn du nicht da bist,
denke ich an das, was du machst. Hast du Nachrichten?»
«Ja. Wenn ich dem letzten Telegramm glauben darf, geht alles gut. Aber ich weiß, daß sie das sagt, um
mich zu beruhigen.»
Es klingelte an der Tür. Der Arzt lächelte seiner Mutter zu und erhob sich, um zu öffnen. Im Halbdunkel
des Treppenhauses sah Tarrou aus wie ein großer, grau angezogener Bär. Rieux bat seinen Besucher, vor
dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selber blieb aufrecht hinter seinem Sessel stehen. Zwischen ihnen
befand sich nur die Schreibtischlampe, die allein angezündet war.
Ohne weitere Einleitung sagte Tarrou: «Ich weiß, daß ich ganz offen mit Ihnen sprechen kann.»
Rieux nickte schweigend.
«In vierzehn Tagen oder in einem Monat werden Sie hier völlig überflüssig sein, die Ereignisse wachsen
Ihnen über den Kopf.»
«Das stimmt», sagte Rieux.
«Die Organisation des Sanitätsdienstes ist schlecht. Es fehlt an Leuten und an Zeit.»
Rieux gab zu, daß auch dies stimmte.
«Ich habe erfahren, daß die Präfektur eine Art Zivildienst ins Auge faßt, um alle gesunden Männer zur
allgemeinen Rettung heranzuziehen.»
«Sie sind gut unterrichtet. Aber die Unzufriedenheit ist schon groß, und der Präfekt zögert.»
«Warum rufen Sie keine Freiwilligen auf?»
«Es wurde versucht, aber mit geringem Erfolg.»
«Man hat es von Amts wegen versucht, und ohne daran zu glauben. Was ihnen fehlt ist Phantasie. Sie
sind nie auf der Höhe der Heimsuchungen. Und die Heilmittel, die sie erfinden, reichen knapp für einen
Schnupfen. Wenn wir sie machen lassen, werden sie zugrunde gehen und wir mit ihnen.»
«Wahrscheinlich schon», sagte Rieux. «Allerdings muß ich sagen, daß sie auch daran gedacht haben, die
Gefangenen das verrichten zu lassen, was ich die groben Arbeiten nennen möchte.»
«Ich würde freie Menschen vorziehen.»
«Ich auch. Aber warum eigentlich?»
«Ich verabscheue Todesurteile.»
Rieux blickte Tarrou an.
«Und nun? »
«Und nun habe ich einen Plan, um einen freiwilligen Sanitätsdienst zu organisieren. Erlauben Sie mir,
mich darum zu kümmern, und lassen wir die Verwaltung beiseite. Sie ist sowieso überlastet. Ich habe
überall ein paar Freunde. Die werden den ersten Kern bilden. Und ich werde selbstverständlich auch
mitmachen.»
«Sie können sich vorstellen, daß ich natürlich mit Freuden ja sage. Hilfe ist nötig, besonders in unserem
Beruf. Ich übernehme es, Ihren Gedanken von der Präfektur gutheißen zu lassen. Es bleibt ihnen übrigens
gar keine Wahl. Aber ...»
Rieux dachte nach.
«Aber Sie wissen, daß diese Arbeit tödlich sein kann. Jedenfalls muß ich Sie darauf aufmerksam machen.
Haben Sie es sich wohl überlegt?»
Tarrou schaute ihn mit seinen grauen, ruhigen Augen an.
«Wie denken Sie über Paneloux' Predigt, Herr Doktor?» Die Frage war natürlich gestellt, und Rieux
beantwortete sie natürlich.
«Ich habe zu lange in Spitälern gelebt, um den Gedanken einer Kollektivstrafe zu lieben. Aber wissen
Sie, die Christen sprechen manchmal so, ohne es je wirklich zu denken. Sie sind besser als sie scheinen.»
«Und doch glauben Sie, wie Paneloux, daß die Pest auch ihr Gutes hat, daß sie die Augen öffnet, daß sie
zum Denken zwingt!»
Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf.
«Wie alle Krankheiten auf dieser Erde. Aber was für die Übel dieser Welt gilt, das gilt auch für die Pest.
Das kann ein paar wenigen dazu verhelfen, größer zu werden. Wer jedoch das Elend und den Schmerz
sieht, die die Pest bringt, muß wahnsinnig, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden.»
Rieux hatte die Stimme kaum erhoben. Aber Tarrou machte eine Handbewegung, als wollte er ihn
beruhigen. Er lächelte.
«Ja», sagte Rieux und zuckte die Achseln. «Aber Sie haben mir nicht geantwortet. Haben Sie es sich
überlegt?»
Tarrou nahm in seinem Sessel eine etwas bequemere Stellung ein und schob den Kopf ins Licht vor.
«Glauben Sie an Gott, Herr Doktor?»
Auch diese Frage war natürlich gestellt. Aber diesmal zögerte Rieux.
«Nein, aber was heißt das schon ? Ich tappe im dunkeln und versuche, dennoch klar zu sehen. Ich habe
schon lange aufgehört, das originell zu finden.»
«Ist es nicht das, was Sie von Paneloux scheidet?»
«Ich glaube nicht. Paneloux ist ein Büchermensch. Er hat nicht genug sterben sehen, und deshalb spricht
er im Namen einer Wahrheit. Aber der geringste Priester, der auf dem Land seine Gemeinde betreut und
dem Atem eines Sterbenden gelauscht hat, denkt wie ich. Er wird dem Elend zu steuern suchen, ehe er es
unternimmt, seine Vorzüge aufzuzeigen.»
Rieux erhob sich, sein Gesicht war jetzt im Schatten.
«Lassen wir das, da Sie nicht antworten wollen.»
Tarrou lächelte, ohne sich zu rühren.
«Darf ich mit einer Frage antworten?»
Der Arzt lächelte nun seinerseits und sagte: «Sie lieben das Geheimnis. Also gut.» «Sehen Sie», sagte
Tarrou, «weshalb zeigen Sie selbst so viel Aufopferung, wenn Sie doch nicht an Gott glauben ? Ihre
Antwort wird mir vielleicht helfen, die meine zu finden.»
Ohne aus dem Schatten herauszutreten, erwiderte Rieux, daß er schon geantwortet habe. Wenn er an
einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen, und diese Sorge ihm
überlassen. Aber kein Mensch auf der ganzen Welt, nein, nicht einmal Paneloux, glaube an einen solchen
Gott, obwohl er daran zu glauben glaube, denn es gebe sich ihm ja niemand völlig hin, und er, Rieux,
glaube, wenigstens in dieser Beziehung auf dem Weg zur Wahrheit zu sein, indem er gegen die
Schöpfung, so wie sie sei, ankämpfe.
«Ah!» sagte Tarrou. «Dies ist also das Bild, das Sie sich von Ihrem Beruf machen?»
«Ungefähr», antwortete der Arzt und trat wieder ins Licht.
Tarrou pfiff leise, und der Arzt schaute ihn an.
«Ja», sagte er, «Sie finden, daß Stolz dazu gehört. Aber ich habe nicht mehr Stolz als notwendig ist,
glauben Sie mir. Ich weiß weder, was meiner wartet, noch was nach alldem kommen wird. Im
Augenblick gibt es Kranke, die geheilt werden müssen. Nachher werden sie nachdenken und ich auch.
Aber dringlich ist nur, daß sie geheilt werden. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles.»
«Gegen wen?»
Rieux kehrte sich zum Fenster. An einer dichteren Dunkelheit des Horizonts erriet er in der Ferne das
Meer. Er fühlte nur seine Müdigkeit und kämpfte gleichzeitig gegen den plötzlichen und unsinnigen
Wunsch, sich diesem sonderbaren Menschen, in dem er doch den Bruder spürte, ein wenig mehr
anzuvertrauen.
«Ich weiß es nicht, Tarrou, ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Als ich diesen Beruf ergriff, geschah es
irgendwie ohne zu überlegen, weil ich einen brauchte, weil er so gut war wie alle anderen, einer von
denen, die die jungen Leute ins Auge fassen. Vielleicht auch, weil es für mich als Sohn eines Arbeiters
besonders schwierig war. Und dann mußte man sterben sehen. Wissen Sie, daß es Leute gibt, die sich
weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau schreien hören, die im Sterben lag? Ich schon. Und
dann habe ich gemerkt, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war damals noch jung, und mein
Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selber zu richten. Seither bin ich bescheidener geworden. Nur
habe ich mich einfach immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber
schließlich ...»
Rieux hielt inne und setzte sich. Er hatte ein trockenes Gefühl im Mund.
«Schließlich?» sagte Tarrou sanft.
«Schließlich ...» begann der Arzt, und wieder zögerte er und blickte Tarrou aufmerksam an, «ist es etwas,
das ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr; aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt
wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den
Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.»
«Ja», stimmte Tarrou zu, «ich verstehe. Nur werden Ihre Siege immer vorläufig bleiben, das ist alles.»
Rieux' Gesicht schien sich zu verdüstern.
«Immer, ich weiß. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben.»
«Nein, das ist kein Grund. Aber nun kann ich mir vorstellen, was die Pest für Sie bedeuten muß.»
«Ja», sagte Rieux, «eine endlose Niederlage.»
Tarrou schaute den Arzt einen Augenblick fest an, dann stand er auf und ging mit schweren Schritten zur
Tür. Und Rieux folgte ihm. Er stand schon bei ihm, als Tarrou, der seine Füße zu betrachten schien,
sagte: «Wer hat Sie das alles gelehrt, Herr Doktor?»
Die Antwort kam augenblicklich: «Das Elend.»
Rieux öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und sagte im Gang zu Tarrou, daß er auch hinuntergehe, da
er noch in die Vorstadt müsse, um nach einem seiner Kranken zu sehen. Tarrou bot ihm seine Begleitung
an, und der Arzt nahm an. Am Ende des Ganges begegneten sie Frau Rieux, der der Arzt Tarrou
vorstellte.
«Ein Freund», sagte er.
«Ach», sagte Frau Rieux, «ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.»
Als sie ging, drehte Tarrou sich nochmals nach ihr um. Im Flur versuchte der Arzt vergeblich, die
Treppenbeleuchtung einzuschalten. Die Stiege blieb in Finsternis getaucht. Der Arzt fragte sich, ob das
die Folge einer neuen Sparmaßnahme sei. Aber das konnte man nicht wissen. Schon seit einiger Zeit ging
in den Häusern und in der Stadt alles drunter und drüber. Das war vielleicht nur, weil die Hauswarte und
unsere Mitbürger im allgemeinen für nichts mehr Sorge trugen. Aber Rieux hatte keine Zeit, weiter
darüber nachzugrübeln, denn hinter ihm ertönte Tarrous Stimme: «Noch ein Wort, Herr Doktor, selbst
wenn es Ihnen lächerlich erscheinen sollte: Sie haben vollkommen recht.»
Rieux zuckte die Achseln, für sich allein, in der Finsternis.
«Ich weiß es wirklich nicht. Aber Sie, was wissen Sie davon?»
«Oh», sagte der andere gleichmütig, «ich habe nicht mehr viel zu lernen.»
Der Arzt blieb stehen, und Tarrou glitt hinter ihm auf einer Stufe aus. Um nicht zu fallen, packte er
Rieux' Schulter.
«Glauben Sie, das Leben ganz zu kennen?» fragte dieser.
Die Antwort kam in der Dunkelheit, von der gleichen, ruhigen Stimme getragen: «Ja.»
Als sie auf die Straße hinaustraten, merkten sie, daß es ziemlich spät war, vielleicht elf Uhr. Die Stadt
war stumm, nur von einem unfaßbaren Streichen erfüllt. In weiter Ferne ertönte das Bimmeln eines
Krankenwagens. Sie stiegen ins Auto, und Rieux setzte den Motor in Gang.
«Sie müssen morgen ins Spital kommen, um sich impfen zu lassen. Aber um ein Ende zu machen, und
ehe wir die Geschichte anfangen, merken Sie sich, daß Ihre Chancen, davonzukommen, nur eins zu zwei
stehen.»
«Diese Schätzungen haben keinen Sinn, Herr Doktor, das wissen Sie so gut wie ich. Vor hundert Jahren
hat eine Pestseuche in Persien alle Bewohner einer Stadt getötet, nur ausgerechnet den Totenwäscher
nicht, der nie aufgehört hatte, seinen Beruf auszuüben.»
«Ihm ist eben die dritte Chance zugefallen, das ist alles», sagte Rieux, und seine Stimme tönte plötzlich
dumpfer. «Aber es stimmt, daß wir in dieser Beziehung noch alles zu lernen haben.»
Sie gelangten jetzt in die Vorstadt. Die Scheinwerfer leuchteten in den verlassenen Straßen. Sie hielten
an. Vor dem Wagen fragte Rieux Tarrou, ob er mit hineinkommen wolle, und dieser sagte ja. Ein
Widerschein des Himmels erhellte ihre Gesichter. Rieux lachte plötzlich freundschaftlich und sagte:
«Hören Sie, Tarrou, was treibt Sie eigentlich, sich damit zu befassen?»
«Ich weiß nicht. Meine Moral vielleicht.»
«Und die wäre? »
«Das Verständnis.»
Tarrou wandte sich dem Haus zu, und Rieux sah sein Gesicht nicht mehr, bis sie bei dem alten
Asthmatiker standen.
Gleich am nächsten Tag machte Tarrou sich an die Arbeit und stellte eine erste Gruppe zusammen, der
zahlreiche andere folgen sollten.
Der Erzähler hat indessen nicht die Absicht, diesen Hilfstruppen mehr Bedeutung zu verleihen, als sie
wirklich besaßen. Es ist gewiß, daß an seiner Stelle viele unserer Mitbürger heute der Versuchung
erliegen würden, die Wichtigkeit ihrer Rolle zu übertreiben. Doch ist der Erzähler eher versucht zu
glauben, daß man schließlich dem Bösen eine mittelbare und machtvolle Huldigung zuteil werden läßt,
wenn man die guten Taten zu sehr herausstreicht. Denn man läßt in diesem Fall vermuten, daß diese
guten Taten nur deshalb so viel Wert haben, weil sie selten vorkommen, und daß Bosheit und
Gleichgültigkeit bedeutend häufiger die Beweggründe der menschlichen Handlungen sind. Das ist eine
Ansicht, die der Erzähler nicht teilt. Das Böse in der Welt rührt fast immer von der Unwissenheit her,
und der gute Wille kann so viel Schaden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die
Menschen sind eher gut als böse, und in Wahrheit dreht es sich gar nicht um diese Frage. Aber sie sind
mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster. Das trostloseste Laster ist
die Unwissenheit, die alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten. Die Seele des
Mörders ist blind, und es gibt keine wahre Güte noch Liebe ohne die größtmögliche Hellsichtigkeit.
Deshalb müssen unsere Sanitätskolonnen, die dank Tarrou ins Leben gerufen wurden, mit sachlicher
Befriedigung beurteilt werden. Deshalb wird der Erzähler auch kein Hoheslied auf den Willen und den
Heroismus singen, denen er nur die ihnen gebührende Bedeutung beilegt. Aber er wird fortfahren, die
Geschichte der Herzen aller unserer Mitbürger zu schreiben, die nun von der Pest zerrissen und von
Verlangen erfüllt wurden.
Diejenigen, die sich dem Sanitätsdienst widmeten, hatten deshalb tatsächlich kein so großes Verdienst,
denn sie wußten, daß sie gar nicht anders handeln konnten, und es wäre im Gegenteil unglaublich
gewesen, wenn sie sich nicht dazu entschlossen hätten. Diese Gruppen halfen unseren Mitbürgern, weiter
in die Pest einzudringen, und überzeugten sie teilweise davon, daß alles Nötige unternommen werden
mußte, um die Krankheit zu bekämpfen, weil sie nun einmal da war. Wie die Pest so die Pflicht einiger
einzelner wurde, erschien sie wirklich als das, was sie war: eine Angelegenheit, die alle anging.
Das ist gut so. Aber man beglückwünscht keinen Lehrer, weil er lehrt, daß zwei und zwei vier ist. Man
wird ihn vielleicht dazu beglückwünschen, daß er diesen schönen Beruf gewählt hat. Sagen wir also, daß
es löblich war, daß Tarrou und andere beschlossen hatten, zu zeigen, daß zwei und zwei vier ergibt und
nicht etwas anderes; sagen wir aber auch, daß sie diesen guten Willen mit dem Lehrer und mit all denen
gemein hatten, die das gleiche Herz haben wie der Lehrer und die, zur Ehre der Menschen sei es gesagt,
zahlreicher sind, als angenommen wird. Dies ist wenigstens die Überzeugung des Erzählers. Er ist sich
übrigens des Einwandes sehr wohl bewußt, der ihm entgegengehalten werden könnte, daß nämlich diese
Männer ihr Leben aufs Spiel setzten. Aber es kommt immer ein Augenblick in der Geschichte, wo
derjenige, der zu behaupten wagt, daß zwei und zwei vier ergibt, mit dem Tode bestraft wird. Der Lehrer
weiß das wohl. Und es handelt sich nicht darum, zu wissen, welche Belohnung oder Strafe auf dieser
Überlegung steht. Es handelt sich darum, zu wissen, ob, ja oder nein, zwei und zwei vier ergibt.
Für jene Mitbürger, die damals ihr Leben aufs Spiel setzten, handelt es sich darum, zu entscheiden, ob
sie, ja oder nein, in der Pest waren und ob man, ja oder nein, dagegen ankämpfen mußte.
Viele neue Moralprediger verkündeten damals in unserer Stadt, daß nichts etwas tauge und man einfach
auf die Knie fallen müsse. Tarrou und Rieux und ihre Freunde konnten dieses oder jenes erwidern; die
Schlußfolgerung bestätigte immer, was sie schon wußten: man mußte auf die eine oder andere Art
kämpfen und nicht auf die Knie fallen. Es ging ausschließlich darum, möglichst viele Menschen vor dem
Sterben und der endgültigen Trennung zu bewahren.
Dafür gab es nur ein einziges Mittel, das hieß: die Pest bekämpfen. Diese Wahrheit war nicht
bewundernswert, sie war nur folgerichtig.
Deshalb war es natürlich, daß der alte Castel sein ganzes Vertrauen und seine ganze Kraft daran setzte,
an Ort und Stelle und mit notdürftigen Mitteln einen Impfstoff herzustellen. Rieux und er hofften, aus
den Kulturen jener Mikroben, die die Stadt unsicher machten, ein Serum zu gewinnen, das unmittelbarer
wirken werde als der von außen geschickte Impfstoff, da die Mikroben sich ein wenig von der
klassischen Erscheinung des Pestbazillus unterschieden. Castel hoffte, sein erstes Serum ziemlich bald
bereit zu haben.
Deshalb war es auch natürlich, daß Grand, der gar nichts Heldisches an sich hatte, jetzt eine Art
Sekretariat des Hilfssanitätsdienstes übernahm. Einige der von Tarrou gebildeten Gruppen widmeten sich
nämlich einer vorbeugenden Arbeit in den übervölkerten Stadtteilen. Man versuchte, dort die nötige
Hygiene einzuführen, man zählte die Estriche und Keller, die nicht desinfiziert worden waren. Ein
anderer Teil der Hilfskräfte begleitete die Ärzte auf ihren Hausbesuchen, sorgte für die Überführung der
Pestkranken und lenkte später, als es an ausgebildeten Leuten zu fehlen begann, sogar die
Krankenwagen. Das alles mußte verzeichnet und statistisch erfaßt werden, und Grand hatte sich zu dieser
Arbeit bereit erklärt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheint es dem Erzähler, daß Grand mehr
als Rieux oder Tarrou der wahre Vertreter jener ruhigen Kraft war, die alle Hilfsmannschaften erfüllte.
Er hatte mit dem ihm eigenen guten Willen und ohne zu zögern ja gesagt. Er hatte nur den Wunsch
geäußert, sich in kleinen Arbeiten nützlich zu machen. Für alles andere sei er zu alt. Von 18 bis 20 Uhr
konnte er seine Zeit zur Verfügung stellen. Und als Rieux ihm warm dankte, verwunderte er sich: «Das
ist nicht das Schwerste. Da ist die Pest, man muß sich wehren, das ist klar. Ach, wenn doch alles so
einfach wäre!» Und er kam auf seinen Satz zurück. Am Abend, wenn die Zettelarbeit erledigt war,
unterhielt sich Rieux manchmal mit Grand. Dann hatten sie auch Tarrou in ihre Gespräche gezogen, und
Grand vertraute sich seinen beiden Gefährten mit sichtlich wachsendem Vergnügen an. Jene verfolgten
mit Anteilnahme die Arbeit, die Grand inmitten der Pest geduldig fortsetzte. Schließlich fanden auch sie
darin eine Art Entspannung.
«Wie geht es der Amazone?» fragte Tarrou häufig. Und Grand erwiderte unentwegt: «Sie trabt, sie
trabt», und dabei lächelte er verlegen. Eines Abends sagte Grand, er habe nun das Adjektiv «elegant»
endgültig fallenlassen und bezeichnete seine Amazone von jetzt an als «schlank». «Es ist anschaulicher»,
hatte er hinzugefügt. Ein anderes Mal las er seinen beiden Zuhörern die folgende Neufassung des Satzes
vor: «An einem schönen Maimorgen durchritt eine schlanke Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute
die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.»
«Nicht wahr», sagte Grand, «so sieht man sie besser, und ich habe vorgezogen,
weil den Trab etwas zu lang machte.»
Dann zeigte er sich sehr besorgt wegen des Beiworts «wunderbar». Er fand es nicht sprechend genug und
suchte den Ausdruck, der das Bild der prunkvollen Stute, das ihm vorschwebte, treffend festhielte.
«Kräftig» ging nicht; es war anschaulich, aber ein bißchen herabsetzend. «Glänzend» hatte ihn einen
Augenblick gereizt, aber das paßte im Klang nicht gut. Eines Abends verkündete er frohlockend, er habe
gefunden: «eine schwarze Fuchsstute». Das «schwarz» deute unaufdringlich die Eleganz an, meinte er.
«Das ist nicht möglich», sagte Rieux.
«Und warum nicht?»
«Fuchs geht nicht auf die Rasse, sondern auf die Farbe.»
«Welche Farbe?»
«Nun, jedenfalls eine Farbe, die nicht schwarz ist.»
Grand schien sehr niedergeschlagen.
«Danke», sagte er vor sich hin sinnend. «Ein Glück, daß Sie da sind. Aber da sehen Sie nur, wie
schwierig es ist.»
«Was halten Sie von ?» fragte Tarrou.
Grand schaute ihn an. Er überlegte. Dann sagte er: «Ja ... ja!»
Und langsam hellten sich seine Züge auf.
Einige Zeit darauf gestand er, das Wort «blühend» setze ihn in Verlegenheit. Da er in seinem Leben nur
Qran und Montelimar gesehen hatte, bat er seine Freunde manchmal, ihm zu beschreiben, wie die Alleen
des Bois eigentlich blühten. Genaugenommen hatten sie in Rieux oder Tarrou gar nie diesen Eindruck
erweckt, aber die Überzeugung des Angestellten machte sie schwankend. Er wunderte sich über ihre
Unsicherheit. «Nur die Künstler verstehen es, zu schauen.» Aber einmal fand ihn der Arzt in großer
Aufregung. Er hatte «blühend» durch «voller Blumen» ersetzt. Er rieb sich die Hände. «Endlich sieht
man sie, riecht man sie. Hut ab, meine Herren!» Beglückt las er den Satz: «An einem schönen
Maimorgen durchritt eine schlanke Amazone auf einer prächtigen Fuchsstute die Alleen voller Blumen
des Bois de Boulogne.» Aber laut gelesen wirkte das Ende des Satzes störend, und Grand stockte ein
wenig. Er setzte sich mit niedergedrückter Miene. Dann bat er den Arzt um die Erlaubnis fortzugehen. Er
mußte ein wenig nachdenken.
Zu dieser Zeit begann er, wie man später erfuhr, auf dem Amt Anzeichen einer Unaufmerksamkeit zu
zeigen, die man sehr bedauerlich fand, da das Rathaus gerade jetzt mit verringerten Hilfskräften
erdrückenden Verpflichtungen gewachsen sein sollte. Sein Dienst litt darunter, was der Vorgesetzte ihm
streng vorwarf, indem er ihn daran erinnerte, daß er bezahlt werde, um eine Arbeit zu verrichten, die er
eben nicht verrichtete. Der Vorgesetzte hatte gesagt: «Es scheint, daß Sie außerhalb Ihrer Arbeitszeit
freiwillig im Sanitätsdienst mithelfen. Das geht mich nichts an. Aber was mich angeht ist Ihre Arbeit.
Um sich unter diesen schrecklichen Umständen nützlich zu machen, müssen Sie zuallererst einmal Ihre
Arbeit gewissenhaft verrichten. Andernfalls taugt auch der ganze Rest nichts.»
«Er hat recht», sagte Grand zu Rieux.
«Ja, er hat recht», stimmte der Arzt bei.
«Aber ich bin zerstreut und weiß nicht, wie ich mit dem Schluß meines Satzes fertig werden soll.»
Er hatte daran gedacht, «de Boulogne» wegzulassen, im Glauben, daß jedermann es verstünde. Aber
dann schien der Satz das mit «Blumen» zu verbinden, was in Wirklichkeit zu «Alleen» gehörte. Er hatte
auch die Möglichkeit erwogen zu schreiben: «die Alleen des Bois voller Blumen». Aber die Stellung von
«Bois» zwischen einem Hauptwort und seiner Eigenschaftsbestimmung, die er willkürlich
auseinanderriß, war ihm ein Dorn im Auge. An manchen Abenden sah er wahrhaftig noch erschöpfter
aus als Rieux.
Ja, er war erschöpft von diesem Suchen, das ihn völlig in Anspruch nahm. Aber trotzdem fuhr er fort, die
Additionen und Statistiken zu machen, die die Sanitätsgruppen benötigten. Jeden Abend bereinigte er
geduldig die Zettel, denen er Kurven beifügte, und er war mit aller Kraft bestrebt, allmählich möglichst
genaue Darstellungen anzufertigen. Ziemlich häufig suchte er Rieux in einem der Spitäler auf und bat ihn
um einen Tisch in irgendeinem Arbeitsraum oder Aufsichtszimmer. Dort richtete er sich mit seinen
Papieren ein, genau so, wie er sich an seinem Platz im Rathaus einrichtete, und in der von
Desinfektionsmitteln und der Krankheit selbst schweren Luft schwenkte er seine Blätter, um die Tinte
trocknen zu lassen. Er war dann ehrlich bemüht, nicht mehr an seine Amazone zu denken und nur das zu
tun, was getan sein mußte.
Ja, wenn es stimmt, daß die Menschen daran hängen, Beispiele und Vorbilder vor Augen zu haben, die
sie Helden nennen, dann schlägt der Erzähler gerade diesen unbedeutenden und bescheidenen Helden
vor, der nichts für sich Tiatte als ein wenig Herzensgüte und ein offensichtlich lächerliches Ideal. Das
wird der Wahrheit geben, was ihr gebührt, der Rechnung von zwei und zwei ihr Ergebnis vier, und dem
Heldentum jene zweite Stelle, die ihm zukommt, unmittelbar nach, aber niemals vor der mutigen
Forderung nach Glück. Das wird auch dieser Chronik den Charakter einer Berichterstattung verleihen,
die mit guten Gefühlen abgefaßt ist, das heißt, mit Gefühlen, die weder sichtlich schlecht sind noch
übersteigert in der abstoßenden Art eines Schaustücks.
Das war zumindest Dr. Rieux' Ansicht, wenn er in den Zeitungen las oder am Radio hörte, wie sich die
Außenwelt mit Aufrufen und Zusprüchen an die verpestete Stadt richtete. Gleichzeitig mit der
Unterstützung, die auf dem Land- und Luftwege gesandt wurde, prasselten jeden Abend durch den Äther
oder in den Zeitungen mitleidige oder bewundernde Erklärungen auf die nunmehr vereinsamte Stadt
nieder. Und jedesmal machte der Ton den Arzt ungeduldig. Sicherlich wußte er, daß diese bewegte
Anteilnahme nicht erheuchelt war. Aber sie vermochte sich nur in der hergebrachten Sprache
auszudrücken, in der die Menschen das zu sagen versuchen, was sie mit der Menschheit verbindet. Und
diese Sprache paßte zum Beispiel nicht auf Grands tägliche kleine Bemühungen, da sie unfähig war,
wiederzugeben, was Grand inmitten der Pest bedeutete.
Manchmal, wenn Dr. Rieux sich um Mitternacht im großen Schweigen der nun menschenleeren Stadt für
einen zu kurzen Schlummer niederlegte, stellte er seinen Radioapparat an. Und aus allen Enden der Welt,
über Tausende von Kilometern, versuchten unbekannte und brüderliche Stimmen ungeschickt die
Verbundenheit zu zeigen. Und sie zeigten sie auch, bewiesen aber gleichzeitig, wie furchtbar unfähig der
Mensch ist, einen Schmerz, den er nicht sehen kann, wirklich zu teilen: «Oran! Oran!» Vergebens
überquerte der Ruf die Meere, vergebens hielt sich Rieux wach; bald schwoll die Beredsamkeit an und
ließ so die wesentliche Trennung noch deutlicher hervortreten, die aus Grand und dem Redner zwei
Fremde machte. «Oran! Ja, Oran!» - , dachte Rieux,
Und was eben noch zu schildern bleibt, ehe wir zum Höhepunkt der Pest kommen, während die Seuche
alle ihre Kräfte sammelte, um sie auf die Stadt zu werfen und sich ihrer endgültig zu bemächtigen, das
sind die langwierigen, verzweifelten und eintönigen Anstrengungen, die ein paar letzte Menschen wie
Rambert unternahmen, um ihr Glück wiederzufinden und der Pest jenen Teil ihres Wesens zu entziehen,
den sie gegen jede Beeinträchtigung verteidigten. Es war ihre Art, die drohende Versklavung
zurückzuweisen. Und obgleich diese Weigerung scheinbar nicht so wirksam war wie jene andere, ist der
Erzähler der Ansicht, daß auch sie ihren Sinn hatte und bis in ihre Eitelkeit und Widersprüche hinein für
den Teil Stolz zeugte, den damals jeder von uns in sich trug.
Rambert kämpfte, um nicht von der Pest verschlungen zu werden. Nachdem er den Beweis dafür hatte,
daß er die Stadt nicht auf rechtlichem Wege verlassen konnte, hatte er Rieux seinen Entschluß mitgeteilt,
die anderen Mittel zu gebrauchen. Der Journalist begann bei den Kellnern. Ein Kellner ist immer auf dem
laufenden. Aber die ersten, die er befragte, waren vor allem über die äußerst schweren Strafen
unterrichtet, die auf solchen Unternehmen standen. Einmal wurde er sogar für einen Spitzel gehalten.
Es brauchte schon die Begegnung mit Cottard, den er bei Rieux traf, um ihn ein wenig vorwärts zu
bringen.
An jenem Tag hatte er mit Rieux wieder von den vergeblichen Schritten gesprochen, die er bei den
Behörden unternommen hatte.
Ein paar Tage später begegnete Cottard Rambert auf der Straße und begrüßte ihn mit der
Ungezwungenheit, die er jetzt in alle seine Beziehungen legte: «Immer noch nichts?»
«Nein, nichts.»
«Man kann nicht auf die Ämter zählen, sie sind nicht fähig, etwas zu begreifen.»
«Das stimmt. Aber ich suche einen anderen Weg. Es ist schwierig.»
«Aha!» sagte Cottard. «Ich verstehe.»
Er kannte einen Schleichweg, und als Rambert sich darob verwunderte, erklärte er ihm, daß er seit langer
Zeit in allen Cafés von Oran verkehre, daß er dort Freunde habe und wisse, daß eine Organisation
bestehe, die sich mit solchen Geschäften abgebe. Die Wahrheit war, daß Cottard sich am Schleichhandel
mit rationierten Erzeugnissen beteiligte, weil seine Ausgaben jetzt die Einnahmen überstiegen. So
verkaufte er Zigaretten und schlechten Alkohol weiter, deren Preise unablässig stiegen und ihm
allmählich ein kleines Vermögen eintrugen.
«Sind Sie ganz sicher?» fragte Rambert.
«Ja, denn man hat mir den Vorschlag gemacht.»
«Und Sie haben die Gelegenheit nicht benutzt?»
«Seien Sie nicht mißtrauisch», sagte Cottard gutmütig, «ich habe sie nicht benutzt, weil ich selber keine
Lust habe, fortzugehen. Ich habe meine Gründe.»
Nach einer Pause fügte er hinzu: «Sie fragen mich nicht nach meinen Gründen?»
«Ich vermute, sie gehen mich nichts an», sagte Rambert.
«Einerseits geht Sie es tatsächlich nichts an. Aber andererseits . . . Nun, das eine ist sicher, ich fühle mich
hier bedeutend wohler, seit wir die Pest bei uns haben.»
Der andere hörte seinen Vortrag an.
«Wie kann ich mit der Organisation in Verbindung kommen?»
«Ach so!» sagte Cottard. «Das ist nicht leicht. Kommen Sie mit mir.»
Es war vier Uhr nachmittags. Unter einem bleischweren Himmel briet die Stadt. Alle Geschäfte hatten
ihre Jalousien heruntergelassen. Die Straßen waren verödet. Cottard und Rambert wählten die Lauben
und gingen lange Zeit, ohne zu sprechen. Es war eine jener Stunden, da die Pest sich unsichtbar machte.
Dieses Schweigen, dieser Tod der Farben und Bewegungen konnte genauso gut vom Sommer bedingt
sein wie von der Seuche. Man wußte nicht recht, ob die Luft von Drohungen oder von Staub und
sengender Hitze schwer war. Man mußte beobachten und nachdenken, um wieder auf die Pest zu
kommen. Denn sie verriet sich nur durch negative Zeichen. Cottard, der ihr nahestand, machte Rambert
zum Beispiel auf das Fehlen von Hunden aufmerksam, die eigentlich in den Hauseingängen hätten auf
der Seite liegen und nach unerreichbarer Kühlung lechzen sollen.
Sie schlugen den Boulevard des Palmiers ein, überquerten den Waffenplatz und gingen in das Marine
viertel hinab. Linker Hand verbarg sich eine grüne Wirtschaft hinter einer schrägen Markise aus grobem
gelbem Leinentuch. Als Cottard und Rambert eintraten, wischten sie sich den Schweiß von der Stirn. Sie
nahmen an einem der grünen Eisentische auf zusammenklappbaren Gartenstühlen Platz. Der Raum war
völlig menschenleer. Fliegen summten in der Luft. Auf dem schiefen Schanktisch kauerte in einem
gelben Käfig ein Papagei auf seiner Stange und ließ alle Federn hängen. Alte Bilder aus dem
Soldatenleben hingen an den Wänden, schmutzbedeckt und von dichten Spinnennetzen umwoben. Auf
allen Eisentischen, auch vor Rambert selber, trocknete Hühnermist, dessen Herkunft er sich nicht
erklären konnte, bis nach einiger Unruhe ein prachtvoller Hahn aus einer dunklen Ecke hervorschlüpfte.
Die Hitze schien sich in diesem Augenblick noch zu steigern. Cottard zog seine Jacke aus und klopfte auf
den Tisch. Im Hintergrund wurde ein kleiner Mann sichtbar, der in einer langen blauen Schürze
schwamm. Er begrüßte Cottard schon aus der Ferne, räumte den Hahn mit einem kräftigen Fußtritt aus
dem Weg, näherte sich und fragte, während das Federvieh gackerte, was er den Herren vorsetzen dürfe.
Cottard bestellte Weißwein und erkundigte sich nach einem gewissen Garcia. Nach den Aussagen des
Kleinen hatte man ihn schon seit mehreren Tagen nicht mehr im Lokal gesehen.
«Glauben Sie, daß er heute abend kommen wird?»
«He!» sagte der andere. «Ich stecke nicht in seinen Kleidern. Aber Sie kennen doch seine Zeit?»
«Ja. Es ist zwar nicht sehr wichtig. Ich möchte ihm nur einen Freund vorstellen.»
Der Kellner wischte seine feuchten Hände an der Schürze ab. Er sagte: «Ach so! Der Herr befaßt sich
auch mit Geschäften?»
«Ja», antwortete Cottard.
Der Knirps meinte schnüffelnd: «Also, kommen Sie heute abend. Ich werde den Jungen zu ihm
schicken.»
Beim Hinausgehen fragte Rambert, um was für Geschäfte es sich handle.
«Um Schleichhandel natürlich. Sie schmuggeln Waren in die Stadt. Sie verkaufen zu überhöhten
Preisen.»
«Schön», sagte Rambert. «Haben sie Helfershelfer?»
«Ja, eben.»
Am Abend war die Markise hochgezogen, der Papagei plapperte in seinem Käfig, und rings um die
Eisentische saßen Männer in Hemdsärmeln. Einer von ihnen hatte einen Strohhut in den Nacken
geschoben und trug ein weißes, offenes Hemd, das seine braungebrannte Brust freigab. Er erhob sich, als
Cottard eintrat. Er hatte ein regelmäßiges, sonnenverbranntes Gesicht, kleine schwarze Augen, weiße
Zähne, zwei oder drei Ringe an den Händen und schien etwa dreißig Jahre alt.
«'n Abend!» sagte er. «Wir bleiben am Ausschank.»
Sie tranken schweigend drei Runden. Dann sagte Garcia: «Wie wäre es, wenn wir gingen?»
Sie stiegen zum Hafen hinab, und Garcia fragte, was sie von ihm wollten. Cottard sagte, daß er ihm
Rambert nicht eigentlich wegen Geschäften vorzustellen wünsche, sondern für das, was er einen
«Ausgang» nannte. Garcia ging rauchend geradeaus. Er stellte Fragen und sagte «er», wenn er von
Rambert sprach, dessen Anwesenheit er nicht zu bemerken schien.
«Zu welchem Zweck?» fragte er.
«Er hat seine Frau in Frankreich.»
«Aha!»
Und nach einer Weile: «Was ist er von Beruf?»
«Journalist.»
«Ein Beruf, in dem man viel schwatzt.»
Rambert schwieg.
«Er ist ein Freund», sagte Cottard.
Schweigend gingen sie weiter. Sie hatten die Hafenanlagen erreicht, deren Zugang durch große Gitter
versperrt war. Aber sie begaben sich zu einer kleinen Schenke, wo gebackene Sardinen feilgehalten
wurden, deren Geruch bis zu ihnen drang.
«Jedenfalls», schloß Garcia, «geht diese Sache nicht mich an, sondern Raoul. Und den muß ich erst
aufspüren. Das wird nicht leicht sein.»
«Ach», erkundigte sich Cottard lebhaft, «versteckt er sich denn?»
Garcia gab keine Antwort. Nahe bei der Schenke blieb er stehen und wandte sich zum erstenmal Rambert
zu.
«Übermorgen um elf Uhr an der Ecke der Zollkaserne, oberhalb der Stadt.»
Er schien fortgehen zu wollen, kehrte sich aber nochmals gegen die beiden Männer und sagte: «Es wird
Unkosten geben.»
Das war eine Feststellung.
«Selbstverständlich», pflichtete Rambert bei.
Kurz darauf bedankte sich der Journalist bei Cottard.
«Oh! Nicht doch», erwiderte dieser gönnerhaft. «Es freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann. Und
dann ... Sie sind Journalist, eines Tages werden Sie es mir vergelten.»
Am übernächsten Tag stiegen Rambert und Cottard die breiten, schattenlosen Straßen hinauf, die zum
oberen Teil der Stadt führen. Ein Flügel der Zollkaserne war in ein Krankenhaus verwandelt worden, und
vor dem großen Tor stauten sich Leute, die in der Hoffnung kamen, einen Besuch machen zu dürfen, den
man ihnen nicht gestatten konnte. Oder sie suchten Nachrichten zu erhalten, die von einer Stunde zur
nächsten überholt waren. Jedenfalls brachte diese Ansammlung ein ständiges Kommen und Gehen mit
sich, und es war anzunehmen, daß diese Überlegung bei der Wahl des Treffpunkts von Garcia und
Rambert nicht ohne Einfluß gewesen war.
«Seltsam», sagte Cottard, «wie Sie sich aufs Fortgehen versteifen. Was sich ereignet, ist doch eigentlich
höchst spannend.»
«Nicht für mich», gab Rambert zurück.
«Oh! Gewiß, man setzt etwas aufs Spiel dabei. Aber schließlich setzte man vor der Pest gerade soviel
aufs Spiel, wenn man eine stark belebte Straßenkreuzung überquerte.»
In diesem Augenblick hielt Rieux' Wagen neben ihnen. Tarrou saß am Steuer. Rieux schien halb zu
schlafen. Er ermunterte sich, um die Herren vorzustellen.
«Wir kennen uns schon», sagte Tarrou, «wir wohnen im gleichen Hotel.»
Er bot Rambert an, ihn in die Stadt zu fahren.
«Nein, ich habe eine Verabredung hier.»
Rieux schaute Rambert an.
«Ja», erwiderte dieser.
«Ach!» verwunderte sich Cottard. «Der Herr Doktor ist also unterrichtet?»
«Da kommt der Untersuchungsrichter», warnte Tarrou mit einem Blick auf Cottard.
Dieser wechselte die Farbe. Herr Othon kam tatsächlich die Straße herab und näherte sich ihnen mit
kräftigem, doch gemessenem Schritt. Er hob den Hut, als er an der kleinen Gruppe vorbeiging.
«Guten Tag, Herr Richter», sagte Tarrou.
Der Richter begrüßte die Insassen des Wagens und nickte Cottard und Rambert, die im Hintergrund
geblieben waren, ernsthaft zu. Tarrou stellte den Rentner und den Journalisten vor. Der Richter
betrachtete den Himmel eine Sekunde lang, seufzte dann auf und sagte, es sei eine recht traurige Zeit.
«Ich habe mir sagen lassen, daß Sie, Herr Tarrou, für die Anwendung der Vorbeugungsmaßnahmen
besorgt sind. Ich kann Ihnen gar nicht recht genug geben. Glauben Sie, Herr Doktor, daß die Krankheit
sich ausbreiten wird?»
Rieux sagte, man müsse hoffen, daß sie nicht weiter um sich greife, und der Richter wiederholte, man
müsse immer hoffen, da die Beschlüsse der Vorsehung unergründlich seien. Tarrou fragte ihn, ob die
Ereignisse ihm eine Mehrbelastung gebracht hätten.
«Im Gegenteil, die Fälle, die wir zum Strafrecht zählen, gehen zurück. Ich habe nur noch grobe Verstöße
gegen die neuen Bestimmungen zu untersuchen. Noch nie wurden die alten Gesetze so genau geachtet.»
«Weil sie, mit den jetzigen verglichen, natürlich gut erscheinen», sagte Tarrou.
Der Richter hatte bis jetzt mit verträumter Miene den Blick auf den Himmel geheftet. Jetzt änderte er
seinen Ausdruck, maß Tarrou mit einem kalten Blick und sagte: «Was tut das schon? Nicht das Gesetz
zählt, sondern die Strafe. Daran können wir nichts ändern.»
Als der Richter gegangen war, sagte Cottard: «Der da ist der Feind Nummer eins!»
Der Wagen fuhr ab.
Ein wenig später sahen Rambert und Cottard Garcia kommen. Mit völlig unbeteiligter Miene und ohne
eine Geste trat er zu ihnen und sagte zur Begrüßung nur: «Sie müssen warten.»
Rings um sie wartete die Menge, meistens Frauen, in völligem Schweigen. Fast alle trugen Körbe in der
eitlen Hoffnung, sie könnten sie ihren kranken Angehörigen zukommen lassen, in dem noch
wahnwitzigeren Glauben, daß diese für ihre Vorräte Verwendung hätten. Das Tor wurde von
bewaffneten Posten bewacht, und von Zeit zu Zeit drang ein seltsamer Schrei durch den Hof, der
zwischen dem Tor und der Kaserne lag. Dann kehrten sich besorgte Gesichter den Krankensälen zu.
Die drei Männer betrachteten dieses Schauspiel, als hinter ihnen ein klares, tiefes «Guten Tag» ertönte,
das sie sich umwenden ließ. Trotz der Hitze war Raoul sehr sorgfältig gekleidet. Er war groß und kräftig
gebaut, trug einen dunklen, zweireihigen Anzug und einen Filzhut mit aufgeschlagener Krempe. Sein
Gesicht war ziemlich blaß. Er hatte braune Augen, zusammengepreßte Lippen und sprach rasch und
deutlich.
«Gehen Sie stadtwärts», sagte er. «Garcia, du kannst uns allein lassen.»
Garcia zündete sich eine Zigarette an, während die anderen sich entfernten. Sie gingen schnell und
paßten ihre Schritte Raouls Gang an, der sich zwischen ihnen befand.
«Garcia hat mir erklärt», sagte er. «Es läßt sich machen. Auf jeden Fall wird es Sie 10000 Francs
kosten.»
Rambert erwiderte, er nehme an.
«Essen Sie morgen im spanischen Restaurant Zur Marine mit mir zu Mittag.»
Rambert erklärte sich einverstanden, und Raoul drückte ihm die Hand und lächelte zum erstenmal. Als er
gegangen war, entschuldigte sich Cottard. Er war am folgenden Tag nicht frei, und überdies brauchte
Rambert ihn ja nicht mehr.
Als der Journalist am nächsten Tag das spanische Restaurant betrat, drehten sich alle Köpfe nach ihm
um. Der düstere Keller befand sich unterhalb der kleinen gelben, von der Sonne ausgedörrten Straße und
wurde ausschließlich von Männern meist spanischen Schlages besucht. Aber sobald Raoul, der an einem
Tisch im Hintergrund saß, dem Journalisten ein Zeichen gemacht hatte und Rambert auf ihn zuging,
verschwand die Neugier von den Gesichtern, die sich wieder ihren Tellern zukehrten. An Raouls Tisch
saß ein großer, magerer und unrasierter Kerl mit übermäßig breiten Schultern, einem Pferdegesicht und
lichtem Haar. Aus aufgekrempelten Hemdsärmeln ragten seine langen, dünnen Arme hervor, die schwarz
behaart waren. Er nickte dreimal mit dem Kopf, als ihm Rambert vorgestellt wurde. Sein Name war nicht
erwähnt worden, und Raoul nannte ihn nie anders als «unser Freund». »
«Unser Freund glaubt, Ihnen helfen zu können. Er wird Sie ...»
Raoul unterbrach sich, weil die Kellnerin erschien, um Ramberts Bestellung entgegenzunehmen.
«Er wird Sie mit zwei Freunden zusammenbringen, die Sie mit uns wohlgesinnten Wachen bekannt
machen werden. Damit ist aber noch nicht alles erledigt. Die Wachen müssen selber den günstigsten
Augenblick bestimmen. Es wäre am einfachsten, wenn Sie ein paar Nächte bei einem der Wachtposten
schliefen, der in der Nähe der Tore wohnt. Doch wird unser Freund zuvor für die nötige Fühlungnahme
sorgen. Wenn alles bereinigt ist, werden Sie ihm den Betrag für die Unkosten entrichten.»
Der Freund nickte nochmals mit seinem Pferdekopf, ohne dabei aufzuhören, den Salat aus Tomaten und
Pfefferfrüchten zu mahlen, den er in sich hineinschlang. Dann begann er mit einem leichten spanischen
Akzent zu sprechen. Er forderte Rambert auf, sich am übernächsten Tag um acht Uhr morgens am
Eingang der Kathedrale einzufinden.
«Nochmals zwei Tage», bemerkte Rambert.
«Es ist eben nicht so einfach», erklärte Raoul. «Man muß die Leute erst wieder finden.»
Das Roß schlug von neuem mit dem Kopf aus, und Rambert stimmte zu. Das ganze übrige Mittagessen
verging auf der Suche nach einem Gesprächsstoff. Aber alles wurde sehr einfach, als Rambert entdeckte,
daß das Roß Fußball spielte. Er hatte diesen Sport selber viel getrieben. Also sprachen sie von den
Meisterschaftsspielen in Frankreich und vom Wert der englischen Berufsmannschaften. Am Ende des
Mittagessens war das Roß völlig aufgetaut und duzte Rambert, um ihn davon zu überzeugen, daß es in
einer Mannschaft keinen schöneren Platz gebe als den des Mittelläufers. «Verstehst du, der Mittelläufer,
der verteilt das Spiel. Und das Spiel verteilen, das ist Fußball.» Rambert war auch dieser Ansicht, obwohl
er immer Mittelstürmer gewesen war. Die Diskussion wurde erst durch den Rundfunk unterbrochen, der
bis jetzt halblaut sentimentale Melodien gesäuselt hatte und nun meldete, am Vortag seien 137 Menschen
der Pest zum Opfer gefallen. Keiner der Anwesenden machte eine Bemerkung dazu. Der Mann mit dem
Pferdekopf zuckte die Achseln und erhob sich. Raoul und Rambert folgten seinem Beispiel.
Draußen schüttelte der Mittelläufer Rambert kräftig die Hand und sagte: «Ich heiße Gonzales.»
Diese zwei Tage erschienen Rambert endlos lang. Er suchte Rieux auf und erzählte ihm in allen
Einzelheiten die Schritte, die er unternommen hatte. Dann begleitete er den Arzt auf einem
Krankenbesuch. Er verabschiedete sich von ihm an der Tür eines Hauses, wo den Arzt ein verdächtiger
Kranker erwartete. Im Flur begann ein Laufen und Stimmenlärm; man benachrichtigte die Familie vom
Erscheinen des Arztes.
«Hoffentlich verspätet sich Tarrou nicht», murmelte Rieux.
Er sah sehr müde aus.
«Macht die Epidemie zu rasche Fortschritte?» erkundigte sich Rambert.
Rieux sagte, das sei es nicht, die statistische Kurve steige sogar langsamer an. Nur gebe es einfach nicht
genug Mittel, um gegen die Pest zu kämpfen.
«Es fehlt uns an Material. In allen Armeen der Welt wird das fehlende Material ersetzt. Aber uns fehlt es
auch an Menschen.»
«Es sind doch Ärzte und Sanitätspersonal von draußen gekommen.»
«Ja», sagte Rieux. «Zehn Ärzte und etwa hundert Mann. Das scheint viel. Das reicht kaum für den
gegenwärtigen Stand der Krankheit. Das wird unzulänglich, wenn die Seuche sich ausbreitet.»
Rieux horchte auf die Geräusche im Innern des Hauses. Dann lächelte er Rambert zu.
«Ja, Sie sollten sich beeilen, wegzukommen.»
Ein Schatten glitt über Ramberts Gesicht, und mit tonloser Stimme sagte er: «Sie wissen, daß es nicht das
ist, was mich forttreibt.»
Rieux antwortete, er wisse es; aber Rambert fuhr fort: «Ich glaube nicht, daß ich feige bin, wenigstens
nicht oft. Ich habe Gelegenheit gehabt, das nachzuprüfen. Nur gibt es gewisse Gedanken, die ich nicht
ertragen kann.»
Der Arzt schaute ihm gerade ins Gesicht.
«Sie werden sie wiederfinden», sagte er.
«Vielleicht, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß dieser Zustand andauern wird und daß sie
während all dieser Zeit altert. Mit dreißig Jahren beginnt man zu altern und muß jeden Tag nutzen. Ich
weiß nicht, ob Sie das verstehen können.»
Rieux murmelte, daß er zu verstehen glaube, als Tarrou in sehr angeregter Stimmung erschien.
«Eben habe ich Paneloux aufgefordert, sich uns anzuschließen.»
«Und?» fragte der Arzt.
«Er hat überlegt und dann ja gesagt.»
«Das freut mich», sagte Rieux. «Ich bin froh, daß er besser ist als seine Predigt.»
«Alle Leute sind so», antwortete Tarrou lächelnd und zwinkerte Rieux zu, «sie müssen nur die
Gelegenheit dazu haben.»
Der Arzt entgegnete: «Das ist eine Aufgabe im Leben: die Gelegenheiten zu liefern.»
«Entschuldigen Sie mich bitte», sagte Rambert, «aber ich muß gehen.»
Am Donnerstag fand sich Rambert pünktlich fünf Minuten vor acht zu der verabredeten Zusammenkunft
vor der Kathedrale ein.
Es war noch ziemlich kühl. Am Himmel schwammen runde weiße Wölkchen, die die aufsteigende Hitze
bald mit einem Schlag aufsaugen würde. Ein schwacher Geruch nach Feuchtigkeit entstieg dem längst
ausgetrockneten Rasen. Die Sonne war noch hinter den Häusern im Osten versteckt und erwärmte erst
den Helm der ganz vergoldeten Jeanne d'Arc, die den Platz ziert. Eine Uhr schlug acht. Rambert machte
ein paar Schritte in der leeren Vorhalle. Undeutliches, eintöniges Geleier und modriger Geruch nach
Kellern und Weihrauch drangen aus dem Innern bis zu ihm. Plötzlich verstummte der Gesang. Ein
Dutzend kleiner schwarzer Gestalten trat aus der Kirche und trippelte der Stadt zu. Rambert wurde
allmählich ungeduldig. Andere schwarze Gestalten stiegen die breite Treppe hinan und bewegten sich
gegen den Eingang. Er zündete eine Zigarette an, dann fiel ihm ein, daß ihn der Ort vielleicht gar nicht
dazu berechtigte.
Ein Viertel nach acht begann die Orgel der Kathedrale gedämpft zu spielen. Rambert betrat das dunkle
Gewölbe. Nach einiger Zeit konnte er im Schiff die kleinen schwarzen Gestalten erkennen, die vorhin an
ihm vorbeigezogen waren. Sie waren alle in einer Ecke vor einem improvisierten Altar versammelt; dort
wurde eben eine Statue des heiligen Rochus aufgestellt, die in aller Eile in einer unserer Werkstätten
angefertigt worden war. Sie knieten und schienen so noch zusammengeschrumpfter, verloren im grauen
Staub, wie Teile geronnenen Schattens, da und dort kaum dichter als der Nebel, in dem sie
verschwammen. Über ihnen erging sich die Orgel in endlosen Variationen.
Als Rambert wieder ins Freie trat, stieg Gonzales gerade die Treppe zur Stadt hinunter.
«Ich glaubte, du seist gegangen», sagte er zum Journalisten. «Begreiflicherweise .»
Er erklärte, daß er an einer anderen Stelle, nicht weit von hier, seine Freunde erwartet habe, die er auf
zehn vor acht bestellt hatte. Aber er hatte zwanzig Minuten umsonst gewartet.
«Irgend etwas hat sie verhindert, das ist sicher. Bei unserer Arbeit ist man nicht immer ungestört.»
Er schlug eine andere Verabredung vor, auf den nächsten Tag, zur gleichen Zeit, vor dem Totendenkmal.
Rambert seufzte und schob mit einer heftigen Bewegung seinen Hut ins Genick.
«Das ist nicht so schlimm», schloß Gonzales lachend. «Denk doch nur, wie oft man kombinieren,
durchbrechen und zuspielen muß, bis man ein Tor erzielt.»
«Das schon», antwortete Rambert, «aber das ganze Spiel dauert nur eineinhalb Stunden.»
Das Totendenkmal von Oran befindet sich an der einzigen Stelle, von der aus das Meer zu sehen ist,
einer Art Promenade, die auf einer ziemlich kurzen Strecke an den Klippen über dem Hafen entlangführt.
Am nächsten Morgen war Rambert wieder als erster zur Stelle und las aufmerksam die Namen auf dem
Felde der Ehre Gefallenen. Wenige Minuten später näherten sich zwei Männer, schauten ihn gleichgültig
an, lehnten sich dann gegen die Brüstung der Promenade und schienen völlig in den Anblick der
verlassenen, öden Hafenanlagen versunken. Sie waren beide gleich groß, mit blauen Hosen und einem
kurzärmeligen Matrosenleibchen bekleidet. Der Journalist entfernte sich ein wenig, setzte sich dann auf
eine Bank und konnte sie nun nach Belieben beobachten. Da fiel ihm auf, daß sie beide sicher nicht über
zwanzig Jahre alt waren. In diesem Augenblick gewahrte er Gonzales, der auf ihn zukam und sich
entschuldigte.
«Das sind unsere Freunde», sagte er und führte ihn zu den beiden jungen Leuten, die er ihm als Marcel
und Louis vorstellte.
Ihre Gesichter waren sehr ähnlich, und Rambert vermutete, sie seien Brüder.
«So», sagte Gonzales, «die Bekanntschaft wäre geschlossen. Nun müssen wir die Sache selbst in
Ordnung bringen.»
Marcel, oder Louis, sagte darauf, ihre Wachablösung beginne am übernächsten Tag, dauere eine Woche,
und unterdessen müsse man den günstigsten Tag ausfindig machen. Sie bewachten das westliche Tor zu
viert, und die beiden anderen waren Berufssoldaten. Sie in die Geschichte einzuweihen kam nicht in
Frage. Sie waren nicht zuverlässig, und überdies würde es die Kosten erhöhen. Aber es kam manchmal
vor, daß die beiden Kameraden einen Teil der Nacht im Hinterzimmer einer ihnen bekannten Bar
verbrachten. Marcel oder Louis, schlug Rambert deshalb vor, bei ihnen in der Nähe des Tores Wohnung
zu nehmen und zu warten, bis er geholt werde. Der Übertritt werde dann ganz einfach sein. Doch müsse
man sich beeilen, denn seit kurzem werde davon gesprochen, auch außerhalb der Stadt Doppelposten
aufzustellen.
Rambert war einverstanden und bot einige seiner letzten Zigaretten an. Dann erkundigte sich derjenige
der beiden, der noch nicht gesprochen hatte, bei Gonzales, ob die Kostenfrage erledigt sei und ob man
einen Vorschuß beziehen könne.
«Nein», sagte Gonzales, «das ist überflüssig. Er ist ein Kamerad. Die Kosten werden beim Fortgehen
entrichtet.»
Sie verabredeten sich aufs neue. Gonzales schlug für den übernächsten Tag ein Nachtessen im
spanischen Restaurant vor. Von dort aus könnten sie in die Wohnung der Wachen gehen. Und er sagte zu
Rambert: «Die erste Nacht werde ich dir Gesellschaft leisten.»
Am folgenden Tag begegnete Rambert, der auf sein Zimmer gehen wollte, Tarrou im Treppenhaus des
Hotels.
«Ich gehe zu Rieux», sagte er. «Kommen Sie mit?»
«Ich bin nie sicher, ob ich nicht störe», erwiderte Rambert nach einigem Zögern.
«Das glaube ich nicht, er hat mir viel von Ihnen erzählt.»
Der Journalist überlegte.
«Hören Sie», sagte er. «Wenn Sie nach dem Abendessen einen Augenblick Zeit haben, selbst wenn es
spät ist, kommen Sie beide in die Bar des Hotels.»
«Das kommt auf ihn und die Pest an», sagte Tarrou.
Um elf Uhr abends jedoch betraten Rieux und Tarrou die kleine, enge Bar. Etwa dreißig Leute drängten
sich darin und unterhielten sich sehr laut. Die beiden Ankömmlinge, die aus dem Schweigen der
verpesteten Stadt kamen, blieben wie betäubt stehen. Sie begriffen die Ausgelassenheit, als sie merkten,
daß hier noch Alkohol ausgeschenkt wurde. Rambert saß an einem Ende des Lokals und winkte sie von
seinem Barstuhl aus herbei. Sie umringten ihn, und Tarrou schob gelassen einen lärmenden Nachbarn
beiseite.
«Haben Sie keine Angst vor dem Alkohol? »
«Nein», sagte Tarrou, «im Gegenteil.»
Rieux zog den Geruch von bitteren Krautern ein, der seinem Glas entstieg. Es war schwierig, in diesem
Tumult zu sprechen, aber Rambert schien vor allem mit Trinken beschäftigt. Der Arzt konnte noch nicht
beurteilen, ob er betrunken war. An einem der beiden Tische, die den übrigen Platz des schmalen Raums
einnahmen, erzählte ein Marineoffizier mit einer Frau an jedem Arm einem dicken Mann mit hochrotem
Gesicht von einer Typhusepidemie in Kairo: «Lager», erzählte er, «man hat Lager für die Eingeborenen
hergerichtet, mit Zelten für die Kranken und ringsherum eine Reihe Schildwachen, die auf die
Angehörigen schoß, wenn sie versuchten, Hausmittelchen hereinzuschmuggeln. Das war hart, aber
gerecht.» Am anderen Tisch saßen elegante junge Leute, deren Gespräch unverständlich war und sich in
den Takten von St. James Infirmary verlor, die ein Lautsprecher von hoch oben über die Anwesenden
ergoß.
Rieux erhob die Stimme, um zu fragen: «Sind Sie zufrieden?»
«Der Augenblick nähert sich», sagte Rambert, «vielleicht im Laufe der Woche.»
«Schade!» rief Tarrou.
«Warum?»
Tarrou schaute Rieux an.
«Ach so!» meinte dieser. «Tarrou sagt das, weil er denkt, daß Sie uns hier hätten nützlich sein können.
Ich aber verstehe Ihren Wunsch fortzugehen nur zu gut.»
Tarrou zahlte eine weitere Runde.
Rambert kletterte von seinem Stuhl herunter und schaute ihm zum erstenmal gerade ins Gesicht.
«Worin könnte ich Ihnen nützlich sein?»
«Nun», sagte Tarrou, während er, ohne sich zu beeilen, die Hand nach seinem Glas ausstreckte, «in
unseren Sanitätsgruppen.»
Rambert nahm von neuem den ihm eigenen Ausdruck trotzigen Nachdenkens an und bestieg wieder
seinen Stuhl.
«Scheinen Ihnen diese Gruppen nicht nützlich?» fragte Tarrou, nachdem er getrunken hatte, und blickte
Rambert aufmerksam an.
«Sehr nützlich», sagte der Journalist und trank.
Rieux fiel auf, daß seine Hand zitterte. Er dachte, daß er wirklich und wahrhaftig ganz betrunken sei.
Am nächsten Tag, als Rambert das spanische Restaurant zum zweitenmal betrat, ging er durch eine
kleine Gruppe von Männern, die Stühle vor den Eingang hinausgetragen hatten, um einen grüngoldenen
Abend zu genießen, in dem die Hitze eben erst abzuklingen begann. Sie rauchten einen scharf riechenden
Tabak. Im Innern des Lokals befand sich fast niemand. Rambert setzte sich an den Tisch im Hintergrund,
wo er Gonzales zum erstenmal begegnet war. Er sagte der Kellnerin, daß er warten wolle. Es war 19 Uhr
30. Allmählich kamen die Männer in den Eßsaal und setzten sich an die Tische. Man fing an, sie zu
bedienen. Und das niedrige Gewölbe wurde vom Klappern der Bestecke und von halblaut geführten
Unterhaltungen erfüllt. Um 20 Uhr wartete Rambert immer noch. Es wurde Licht gemacht. Neue Gäste
nahmen an seinem Tisch Platz. Er bestellte sein Essen. Um 20 Uhr 30 war er fertig, ohne Gonzales oder
die beiden jungen Leute gesehen zu haben. Er rauchte Zigaretten. Langsam leerte sich der Saal. Draußen
wurde es plötzlich Nacht. Ein lauer Luftzug, der vom Meer kam, blähte die Vorhänge an den
Fenstertüren ein wenig. Um 21 Uhr merkte Rambert, daß der Saal leer war und daß die Kellnerin ihn
verwundert betrachtete. Er zahlte und ging. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein offenes
Café. Rambert blieb am Schanktisch und überwachte den Eingang des Restaurants. Um 21 Uhr 30
machte er sich auf den Weg zu seinem Hotel und überlegte vergeblich, wie er Gonzales erreichen konnte,
dessen Adresse er nicht kannte. Das Herz wurde ihm schwer bei dem Gedanken an alle Schritte, die er
nun nochmals unternehmen mußte.
In diesem Augenblick, in der von flüchtigen Krankenwagen durcheilten Nacht, merkte er, wie er sich
später Dr. Rieux gegenüber ausdrückte, daß er während all dieser Zeit seine Frau irgendwie vergessen
hatte, um sich ganz darauf zu konzentrieren,, eine Lücke in den Mauern zu finden, die ihn von ihr
trennten. Aber in diesem selben Augenblick, als wieder einmal alle Wege verbaut waren, fand er sie auch
wieder im Mittelpunkt seines Verlangens, und zwar mit einem so plötzlichen, stechenden Schmerz, daß
er zu seinem Hotel zu rennen anfing, um diesem unerträglichen Brennen zu entfliehen, das er doch in
sich trug und das ihm die Schläfen verzehrte.
Am nächsten Morgen suchte er indessen sehr früh Rieux auf, um ihn zu fragen, wie er Cottard wohl
finden könne.
«Es bleibt mir nichts anderes übrig», sagte er, «als von neuem der ganzen Kette nachzugehen.»
«Kommen Sie morgen abend», sagte Rieux. «Tarrou hat mich gebeten, Cottard einzuladen, warum, weiß
ich nicht. Er soll um zehn Uhr kommen. Erscheinen Sie halb elf.»
Als Cottard am nächsten Abend zu Rieux kam, sprachen Tarrou und der Arzt gerade von einer
unerwarteten Heilung, die sich in Rieux' Abteilung ereignet hatte.
«Einer auf zehn, er hat Glück gehabt», sagte Tarrou.
«Ach», sagte Cottard, «schön, es war eben nicht die Pest.»
Sie versicherten ihm, daß es sich wirklich um diese Krankheit handelte.
«Das ist nicht möglich, da er gesund geworden ist. Sie wissen so gut wie ich, die Pest vergibt nicht.»
«Im allgemeinen nicht», sagte Rieux. «Aber mit ein wenig Zähigkeit erlebt man Überraschungen.»
Cottard lachte.
«Es sieht nicht so aus. Haben Sie die Zahlen gehört heute abend?»
Tarrou blickte den Rentner wohlwollend an und sagte, er kenne die Ziffern. Gewiß war die Lage ernst,
aber was bewies das schon? Das bewies, daß noch außerordentlichere Maßnahmen nötig waren.
«Nun! Sie haben sie ja bereits getroffen.»
«Ja, aber jeder einzelne muß sie für sich treffen.»
Cottard schaute Tarrou verständnislos an. Der erklärte ihm, daß zu viele Menschen untätig bleiben, die
Seuche jeden einzelnen anging und jeder einzelne seine Pflicht tun müsse. Die Sanitätsgruppen standen
allen Leuten offen.
«Das ist eine Idee», sagte Cottard, «aber es wird nichts helfen. Die Pest ist zu stark.»
«Wir werden es wissen», sagte Tarrou geduldig, «wenn wir alles versucht haben.»
Unterdessen schrieb Rieux an seinem Arbeitstisch Zettel ab. Tarrou betrachtete noch immer den Rentner,
der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
«Warum sollten Sie nicht zu uns kommen, Herr Cottard?»
Der andere erhob sich mit beleidigter Miene und nahm seine Melone zur Hand.
«Es ist nicht mein Beruf», und dann in herausforderndem Ton: «Überhaupt fühle ich mich wohl in der
Pest, und ich sehe nicht ein, warum ich mich dreinmischen sollte, um sie aufzuhalten.»
Tarrou schlug sich an die Stirn, wie von einer plötzlichen Erkenntnis erleuchtet.
«Ach so! Richtig, ich vergaß. Ohne die Pest würden Sie ja verhaftet!»
Cottard zuckte zusammen und klammerte sich an den Stuhl, als sei er am Umfallen. Rieux hatte zu
schreiben aufgehört und sah ihn mit ernsthafter Aufmerksamkeit an.
«Wer hat Ihnen das gesagt?» schrie der Rentner.
Tarrou schien überrascht und sagte: «Aber Sie selbst. Oder wenigstens haben Dr. Rieux und ich Sie so
verstanden.»
Und da Cottard, plötzlich von ohnmächtiger Wut erfüllt, unverständliche Worte stammelte, fügte er
hinzu: «Regen Sie sich doch nicht auf! Wir werden Sie schon nicht anzeigen. Ihre Geschichte geht uns
nichts an. Und zudem - die Polizei, die haben wir nie geliebt. Kommen Sie, setzen Sie sich wieder.»
Der Rentner schaute seinen Stuhl an, zögerte und setzte sich dann. Nach einer Weile seufzte er.
«Es ist eine alte Geschichte, die sie wieder ausgegraben haben», gab er zu. «Ich glaubte, es sei vergessen.
Aber es war da einer, der hat geschwatzt. Sie haben mich vorgeladen und gesagt, ich müsse mich bis zum
Ende der Untersuchung zu ihrer Verfügung halten. Ich habe begriffen, daß sie mich schließlich verhaften
würden.»
«Ist es schlimm?» erkundigte sich Tarrou.
«Es kommt darauf an, was Sie meinen. Jedenfalls kein Mord.»
«Gefängnis oder Zuchthaus?»
Cottard schien sehr niedergeschlagen.
«Gefängnis, wenn ich Glück habe ...»
Aber gleich darauf fuhr er mit erneuter Heftigkeit fort: «Es ist ein Irrtum! Alle Menschen begehen
Irrtümer. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich deshalb abgeführt werden soll, getrennt von
meinem Haus, von meinen Gewohnheiten, von allen, die ich kenne.»
«Aha!» meinte Tarrou. «Deshalb haben Sie also den Einfall gehabt, sich zu erhängen?»
«Ja, gewiß, eine Dummheit.»
Nun griff Rieux in ihr Gespräch ein und sagte zu Cottard, er verstehe seine Beunruhigung, aber vielleicht
werde doch noch alles in Ordnung kommen.
«Oh! Ich weiß wohl, daß ich für den Augenblick nichts zu fürchten habe.»
«Ich sehe», sagte Tarrou, «daß Sie nicht in unseren Dienst eintreten werden.»
Der andere drehte seinen Hut in den Händen und schaute Tarrou unsicher an.
«Sie dürfen mir deshalb nicht böse sein.»
«Sicherlich nicht. Aber», fügte Tarrou lächelnd hinzu, «versuchen Sie wenigstens, die Mikroben nicht
absichtlich auszustreuen.»
Cottard versicherte, er habe die Pest nicht gewollt, sie sei einfach so gekommen, und schließlich sei es
nicht seine Schuld, wenn sie für den Augenblick seiner Sache diene. Und als Rambert hereinkam, fügte
der Rentner mit sehr entschiedener Stimme hinzu: «Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß Sie nichts
erreichen werden.»
Rambert erfuhr, daß Cottard nicht wußte, wo Gonzales wohnte; aber man konnte immerhin wieder in die
kleine Wirtschaft gehen. Sie verabredeten sich auf den nächsten Tag. Und da Rieux den Wunsch äußerte,
auf dem laufenden gehalten zu werden, lud Rambert ihn mit Tarrou zusammen ein, am Wochenende zu
irgendeiner Stunde der Nacht zu ihm aufs Zimmer zu kommen.
Am Morgen begaben sich Cottard und Rambert in die kleine Wirtschaft und bestellten Garcia auf den
gleichen Abend oder auf den nächsten, falls er verhindert sein sollte. Am Abend erwarteten sie ihn
umsonst. Am anderen Tag war Garcia da. Er hörte sich schweigend Ramberts Geschichte an. Er war
nicht genau unterrichtet, aber er wußte, daß ganze Stadtteile während 24 Stunden abgeriegelt worden
waren, weil man Wohnsitzkontrollen durchführte. Möglicherweise hatten Gonzales und die beiden
jungen Burschen die Sperre nicht durchbrechen können. Immerhin konnte er Rambert wieder mit Raoul
in Verbindung bringen. Natürlich würde das nicht vor übermorgen möglich sein.
«Ich verstehe», sagte Rambert, «ich muß ganz von vorne anfangen.»
Am übernächsten Tag bestätigte Raoul an einer Straßenecke Garcias Vermutung; die untere Stadt war
abgeriegelt worden. Man mußte wieder mit Gonzales Fühlung nehmen.
Zwei Tage später aß Rambert mit dem Fußballspieler zu Mittag.
«Es ist zu dumm», sagte dieser, «wir hätten Mittel und Wege ausmachen sollen, um die Verbindung
wieder aufnehmen zu können.»
Rambert war auch dieser Meinung.
«Morgen früh werden wir die Kleinen aufsuchen und alles in Ordnung zu bringen trachten.»
Am anderen Tag waren die Kleinen nicht zu Hause. Man hinterließ ihnen eine Verabredung für den
nächsten Mittag, Place du Lycee. Und Rambert ging mit einem Gesichtsausdruck heim, der Tarrou
betroffen machte, als er ihm am Nachmittag begegnete.
«Geht es nicht?» fragte er.
«Ich muß alles von vorne anfangen», sagte Rambert.
Und er wiederholte seine Einladung: «Kommen Sie heute abend!»
Als die beiden Männer am Abend Ramberts Zimmer betraten, hatte sich dieser niedergelegt. Er erhob
sich und füllte die Gläser, die er bereitgestellt hatte. Rieux nahm sein Glas und fragte ihn, ob die Sache
auf guten Wegen sei. Der Journalist gab zur Antwort, daß er von neuem den ganzen Kreislauf gemacht
habe, nun wieder am gleichen Punkt angelangt sei und bald zu seiner letzten Verabredung gehen werde.
Er trank und fügte hinzu: «Natürlich werden sie nicht kommen.»
«Man darf das nicht zur Regel machen», sagte Tarrou.
«Sie haben noch nicht begriffen», erwiderte Rambert achselzuckend.
«Was denn?»
«Die Pest.»
«Ach!» rief Rieux.
«Nein, Sie haben noch nicht begriffen, daß sie darin besteht, wieder von vorne anzufangen.»
Rambert ging in eine Ecke seines Zimmers und öffnete ein kleines Grammophon.
«Wie heißt diese Platte?» fragte Tarrou. «Ich kenne sie.»
Rambert erwiderte, es sei St. James Infirmary.
Mitten im Ablauf der Platte hörte man in der Ferne zwei Schüsse krachen.
«Ein Hund oder ein Fluchtversuch», sagte Tarrou.
Einen Augenblick später war die Platte zu Ende, und man vernahm das Bimmeln eines Krankenwagens,
das lauter wurde, unter den Fenstern des Hotelzimmers vorbeizog, abnahm und schließlich erlosch.
«Diese Platte ist nicht lustig», sagte Rambert. «Und dann ist es gut das zehnte Mal, daß ich sie heute
höre.»
«Haben Sie sie denn so gern?»
«Nein, aber ich besitze nur diese.»
Und nach einer Pause: «Ich sage Ihnen ja, daß es darin besteht, wieder von vorne anzufangen.»
Er fragte Rieux, wie sich die Sanitätsgruppen entwickelten. Es waren fünf Mannschaften an der Arbeit.
Man hoffte, weitere aufstellen zu können. Der Journalist saß auf seinem Bett und schien von seinen
Fingernägeln in Anspruch genommen. Rieux betrachtete seine gedrängte, kraftvolle Gestalt, die auf dem
Bettrand kauerte. Plötzlich bemerkte er, daß Rambert ihn anschaute.
«Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe viel an Ihre Organisation gedacht. Wenn ich nicht mit Ihnen bin, so
habe ich dafür meine Gründe. Abgesehen davon glaube ich, daß ich mein Leben noch einzusetzen wüßte;
ich habe den spanischen Bürgerkrieg mitgemacht.»
«Auf welcher Seite?» fragte Tarrou.
«Auf der Seite der Besiegten. Aber seither habe ich ein wenig nachgedacht.»
«Worüber?» warf Tarrou ein.
«Über den Mut. Jetzt weiß ich, daß der Mensch zu großen Taten fähig ist. Aber wenn er zu keinem
großen Gefühl fähig ist, interessiert er mich nicht.»
«Man hat den Eindruck, daß er zu allem fähig ist», sagte Tarrou.
«Eben nicht. Er ist unfähig, lange Zeit zu leiden oder glücklich zu sein. Er ist also zu nichts fähig, das
Wert hätte.»
Er schaute sie an und sagte dann: «Was meinen Sie, Tarrou, sind Sie fähig, für eine große Liebe zu
sterben?»
«Ich weiß nicht, aber jetzt scheint es mir kaum mehr möglich.»
«Da haben wir es. Und Sie sind fähig, für eine Idee zu sterben, das sieht man mit bloßem Auge. Nun gut,
ich habe genug von den Leuten, die für eine Idee sterben. Ich glaube nicht an das Heldentum. Ich weiß,
daß es leicht ist, und ich habe erfahren, daß es mörderisch ist. Mich interessiert nur noch, von dem zu
leben und an dem zu sterben, was ich liebe.»
Rieux hatte den Journalisten aufmerksam angehört. Ohne seinen Blick von ihm abzuwenden, sagte er
sanft: «Der Mensch ist keine Idee, Rambert.»
Der andere sprang von seinem Bett herab. Sein Gesicht glühte leidenschaftlich.
«Er ist eine Idee, und zwar eine kurzsichtige Idee, sobald er sich von der Liebe abwendet. Und gerade
der Liebe sind wir nicht mehr fähig. Schicken wir uns darein, Herr Doktor! Warten wir darauf, es zu
werden, und wenn es wirklich nicht möglich ist, warten wir auf die allgemeine Erlösung, ohne den
Helden zu spielen. Ich gehe nicht weiter.»
Rieux erhob sich, er schien plötzlich ermattet.
«Sie haben recht, Rambert, vollkommen recht, und ich wollte Sie um alles in der Welt nicht von Ihrem
Vorhaben abbringen, das mir richtig und gut erscheint. Aber dennoch muß ich es Ihnen sagen: es handelt
sich nicht um Heldentum in dieser ganzen Sache. Es handelt sich um Ehrlichkeit. Dieser Gedanke kann
lächerlich wirken, aber die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.»
«Was ist Ehrlichkeit?» fragte Rambert mit unvermittelt ernstem Gesicht.
«Ich weiß nicht, was sie im allgemeinen ist. Aber in meinem Fall, das weiß ich, besteht sie darin, daß ich
meinen Beruf ausübe.»
«Ah!» sagte Rambert grimmig. «Aber ich weiß nicht, welches mein Beruf ist. Vielleicht bin ich im
Unrecht, weil ich die Liebe wähle.»
Rieux stellte sich gerade vor ihn hin.
«Nein», sagte er mit Entschiedenheit, «Sie sind nicht im Unrecht.»
Rambert schaute seine Gäste nachdenklich an.
«Ich vermute, daß Sie beide nichts dabei zu verlieren haben. Es ist leichter, auf der guten Seite zu
stehen.»
Rieux leerte sein Glas.
«Wir müssen weiter», sagte er, «wir haben zu tun.»
Er ging hinaus.
Tarrou folgte ihm, schien sich jedoch beim Fortgehen anders zu besinnen, kehrte sich nochmals dem
Journalisten zu und sagte: «Wissen Sie eigentlich, Rambert, daß Rieux' Frau ein paar hundert Kilometer
von hier in einem Sanatorium ist?»
Rambert machte eine überraschte Bewegung, aber Tarrou war schon verschwunden.
Am anderen Morgen in aller Frühe rief Rambert den Arzt an: «Wären Sie einverstanden, mich mit Ihnen
arbeiten zu lassen, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, aus der Stadt herauszukommen?»
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause, und dann: «Ja, Rambert, ich danke Ihnen.»
3
So wehrten sich die Gefangenen der Pest Woche um Woche, so gut es ging. Und wie man sieht, gab es
sogar ein paar unter ihnen, die sich, wie Rambert, einbilden konnten, sie handelten noch als freie
Menschen, sie vermöchten es noch, eine eigene Wahl zu treffen. Aber in Wahrheit konnte man zu dieser
Zeit, Mitte August, sagen, daß die Pest alles überschwemmt hatte. Da gab es keine Einzelschicksale
mehr, sondern nur noch ein gemeinschaftliches Erleben: das der Pest und der von allen empfundenen
Gefühle. Das größte war die Trennung und die Verbannung, mit allem, was sie an Angst und Auflehnung
mit sich brachte. Darum findet der Erzähler, auf diesem Höhepunkt der Hitze und der Krankheit sei es
angezeigt, ganz allgemein und als Beispiel die Gewalttaten der Lebenden, die Beerdigungen der Toten
und das Leiden der getrennten Liebenden zu schildern.
In der Mitte jenes Jahres erhob sich der Wind und wehte mehrere Tage lang durch die verpestete Stadt.
Der Wind wird von den Einwohnern Orans besonders gefürchtet, weil sich auf der Hochebene, auf der
die Stadt liegt, kein natürliches Hindernis entgegenstellt und er deshalb mit seiner ganzen Heftigkeit in
die Straßen hineinstürmt. Die Stadt war nach den langen Monaten, da kein Tropfen Wasser ihr
Erfrischung gebracht hatte, mit einer grauen Schicht überzogen, die unter den Windstößen abblätterte.
Staub- und Papierwolken wirbelten auf und peitschten gegen die Beine der seltener gewordenen
Spaziergänger, die vornübergebeugt durch die Straßen eilten und ein Taschentuch oder die Hand auf den
Mund drückten. Am Abend sah man kleine Gruppen von Leuten, die nach Hause oder ins Café eilten,
während sie sich bisher zusammengefunden hatten, um die Tage, von denen jeder der letzte sein konnte,
möglichst zu verlängern. So waren die Straßen mehrere Tage lang in der Dämmerung, die um diese Zeit
viel schneller hereinbrach, menschenleer, und nur der Wind klagte unaufhörlich. Vom bewegten und
immer unsichtbaren Meer stieg ein Geruch von Algen und Salz auf. Die verlassene, staubgebleichte
Stadt, durchdrungen von Meeresgerüchen, erfüllt vom Heulen des Windes, stöhnte dann wie eine
unselige Insel.
Bisher hatte die Pest in den dichter bevölkerten und der Hygiene ermangelnden Außenquartieren viel
mehr Opfer gefordert als in der Innenstadt. Aber plötzlich schien sie sich zu nähern und sich auch in den
Geschäftsvierteln einzunisten. Die Einwohner beschuldigten den Wind, er übertrage die
Ansteckungskeime. «Er stiftet Verwirrung»,
sagte der Hoteldirektor. Aber dem mochte sein wie dem wollte, jedenfalls wußte die Innenstadt, daß die
Reihe an sie gekommen war, wenn sie nachts ganz nahe das immer häufigere Bimmeln der
Krankenwagen hörte, die unter ihren Fenstern den trüben, leidenschaftslosen Ruf der Pest ertönen ließen.
Man kam auf den Gedanken, innerhalb der Stadt selbst gewisse, besonders stark betroffene Viertel
abzusperren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, das Verlassen zu gestatten. Die
Leute, die bisher dort gelebt hatten, konnten nicht umhin, diese Maßnahme als besonders gegen sie
gerichtete Schikane anzusehen und betrachteten auf alle Fälle im Gegensatz zu sich die Bewohner der
anderen Viertel als freie Menschen. Diese ihrerseits trösteten sich dafür in ihren schweren Stunden mit
dem Gedanken, daß andere noch weniger frei waren als sie. «Es gibt immer einen, der noch mehr
gefangen ist als ich», war der Satz, der damals ihre einzig mögliche Hoffnung zusammenfaßte.
Ebenfalls um ungefähr diese Zeit stellte man immer häufiger Feuersbrünste fest, und zwar hauptsächlich
in den Vergnügungsvierteln an den westlichen Stadttoren. Erkundigungen ergaben, daß es sich um aus
der Quarantäne zurückgekehrte Leute handelte, die vor Trauer und Unglück den Kopf verloren und ihr
Haus in Brand steckten, weil sie sich einbildeten, die Pest darin zu vernichten. Man hatte große Mühe,
diese Unternehmungen zu bekämpfen; ihre Häufigkeit setzte des heftigen Windes wegen ganze Viertel
ständiger Gefahr aus. Nachdem man vergeblich erklärt hatte, daß die von den Behörden durchgeführte
Desinfektion der Häuser jede Ansteckungsgefahr ausschließe, mußte man sehr strenge Strafen über diese
unschuldigen Brandstifter verhängen. Und zweifellos war es nicht der Gedanke an das Gefängnis, der
dann die Unglücklichen zurückschrecken ließ, sondern die allen Einwohnern gemeinsame Gewißheit,
daß infolge der ungewöhnlich hohen Sterblichkeit im städtischen Kerker eine Gefängnisstrafe einem
Todesurteil gleichkam. Dieser Glaube war durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Aus einleuchtenden
Gründen schien die Pest es ganz besonders auf alle jene abgesehen zu haben, die gewöhnlich in Gruppen
lebten: Soldaten, Mönche oder Sträflinge. Denn trotz der Absonderung gewisser Häftlinge bildet ein
Gefängnis eine Gemeinschaft, und die Tatsache, daß in unserem städtischen Gefängnis die Wärter so gut
wie die Sträflinge der Krankheit ihren Tribut zahlten, ist dafür Beweis genug. Vom höheren Standpunkt
der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Gefangenen alle verurteilt, und vielleicht zum erstenmal
im Gefängnis bedingungslose Gerechtigkeit.
Vergeblich versuchten die Behörden, in diese Gleichschaltung eine Rangordnung einzuführen, indem sie
auf den Gedanken kamen, die in der Ausübung ihrer Pflicht gestorbenen Gefängniswärter mit einem
Orden auszuzeichnen. Da der Belagerungszustand verhängt war und in gewisser Hinsicht die Wärter als
Mobilisierte betrachtet werden konnten, verlieh man ihnen nach ihrem Tod die Militärmedaille. Aber
wenn auch die Häftlinge keinen Einspruch dagegen erhoben, so nahmen doch die militärischen Stellen
die Sache krumm und wiesen darauf hin, daß in den Gemütern der Leute eine bedauerliche Verwirrung
entstehen könnte. Man berücksichtigte ihren Einspruch und fand es am einfachsten, den Wärtern, die
starben, den Orden der Epidemie zu verleihen. Aber bei den ersten war das Unglück schon geschehen,
und es war natürlich ausgeschlossen, ihnen den Orden wieder wegzunehmen, obwohl das Militär auf
seinem Standpunkt beharrte. Was aber andererseits den Orden der Epidemie betraf, so hatte er den
Nachteil, nicht die gleiche moralische Wirkung hervorzurufen wie die Militärmedaille, da es in
Epidemiezeiten nichts Besonderes war, eine Auszeichnung solcher Art zu erhalten. Die Unzufriedenheit
war demzufolge allgemein.
Außerdem konnten die Strafbehörden nicht vorgehen wie die kirchlichen und in geringerem Maße auch
die militärischen. Die Mönche der beiden einzigen Klöster der Stadt waren nämlich verteilt worden und
wohnten vorläufig bei frommen Familien. Im Rahmen des Möglichen waren auch kleine Abteilungen aus
den Kasernen entfernt und in Schulhäusern oder öffentlichen Gebäuden einquartiert worden. So zerstörte
die Krankheit, die scheinbar die Bevölkerung zu einer Gemeinschaft von Belagerten gezwungen hatte,
gleichzeitig die hergebrachten Verbindungen und überantwortete den einzelnen seiner Einsamkeit. Das
schuf Verwirrung.
Man kann sich vorstellen, daß alle diese Umstände, zusammen mit dem Wind, auch gewisse Köpfe in
Brand steckten. Die Stadttore wurden von neuem und wiederholt des Nachts angegriffen, aber diesmal
von kleinen bewaffneten Trupps. Man wechselte Schüsse, es gab Verwundete, und einige konnten
fliehen. Die Wachtposten wurden verstärkt, und diese Versuche hörten ziemlich schnell auf. Sie hatten
jedoch genügt, um in der Stadt einen Anflug von Aufruhr zu entfachen, der ein paar Gewalttaten
hervorrief. Brennende oder aus Gesundheitsgründen geschlossene Häuser wurden geplündert. Ehrlich
gesagt ist es schwer, zu glauben, daß diese Handlungen mit Vorbedacht geschahen. In den meisten Fällen
verleitete eine unverhoffte Gelegenheit bis dahin ehrenwerte Leute zu strafbaren Taten, die sogleich
nachgeahmt wurden. So gab es Rasende, die sich in ein noch brennendes Haus stürzten, während der vor
Schmerz stumpfsinnige Besitzer daneben stand. Durch diese Gleichgültigkeit wurden viele Zuschauer
gereizt, es den ersten gleichzutun, und in der dunklen, nur von der Brandröte erhellten Straße sah man
nach allen Seiten Schatten auseinanderfliehen, verzerrt von den niedersinkenden Flammen und den
Gegenständen oder Möbeln, die sie auf den Schultern trugen. Diese Zwischenfälle zwangen die
Behörden, den Pestzustand dem Belagerungszustand gleichzusetzen und die entsprechenden Gesetze
anzuwenden. Man erschoß zwei Diebe, aber es kann bezweifelt werden, ob das den anderen Eindruck
machte, denn inmitten so vieler Toten erregten diese zwei Hinrichtungen kein Aufsehen: es war ein
Tropfen Wasser ins Meer. Und in Wahrheit wiederholten sich derartige Vorgänge ziemlich häufig, ohne
daß die Behörden Miene machten, einzuschreiten. Die einzige Maßnahme, die alle Leute zu
beeindrucken schien, war die Verhängung des Ausgehverbotes. Von elf Uhr an erstarrte die in
vollständige Nacht gehüllte Stadt zu Stein.
Unter dem mondhellen Himmel reihte sie ihre weißen Mauern und die geraden Straßen aneinander, die
nirgends durch die schwarzen Schatten eines Baumes befleckt wurden, die kein Schritt und kein
Hundegebell störte. Die große, schweigende Stadt war dann nur noch eine Anhäufung massiver, regloser
Klötze, zwischen denen allein die schweigsamen Bildnisse vergessener Wohltäter oder ehemaliger
großer, nun auf immer in Bronze erstickter Männer versuchten, mit ihren falschen Gesichtern aus Stein
oder Eisen einen verzerrten Abglanz dessen zu geben, was der Mensch gewesen war. Diese
mittelmäßigen Götzenbilder thronten wie gefühllose Rohlinge auf leblosen Plätzen unter einem schweren
Himmel und versinnbildlichten ziemlich gut das unbewegliche Reich, in das wir eingetreten waren, oder
zumindest seine letzte Ordnung: die einer Totenstadt, wo Pest, Stein und Nacht schließlich jede Stimme
zum Schweigen brachten.
Aber Nacht war es auch in allen Herzen, und die wahren und falschen Geschichten, die man sich über die
Begräbnisse erzählte, waren nicht dazu angetan, unsere Mitbürger zu beruhigen. Der Erzähler
entschuldigt sich, aber es muß eben von den Begräbnissen gesprochen werden. Er fühlt den Vorwurf
wohl, den man ihm deswegen machen könnte, und seine einzige Rechtfertigung ist, daß es während
dieser ganzen Zeit Begräbnisse gab und daß man ihn, wie alle seine Mitbürger, in gewissem Maße
zwang, sich damit zu befassen. Er tut es auf jeden Fall nicht, weil er an dieser Art Feierlichkeiten
Geschmack fände, im Gegenteil, er zieht die Gesellschaft der Lebenden vor, die Meerbäder, um ein
Beispiel zu nennen. Aber schließlich waren die Meerbäder untersagt worden, und die Gesellschaft der
Lebenden fürchtete tagein, tagaus, der Gesellschaft der Toten den Vorrang lassen zu müssen. Das war die
Wirklichkeit. Wohlverstanden konnte man sich immer bemühen, sie nicht zu sehen, die Augen zu
schließen und sie abzulehnen. Aber die Wirklichkeit besitzt eine schreckliche Kraft, die zum Schluß alles
überwindet.
Wie könnte man zum Beispiel die Begräbnisse an dem Tag ablehnen, da geliebte Menschen ein
Begräbnis nötig haben?
Nun, was am Anfang unsere Zeremonien auszeichnete, war die Schnelligkeit! Alle Formalitäten waren
vereinfacht und die Begräbnisfeierlichkeiten ganz allgemein abgeschafft worden. Die Kranken starben
fern von ihrer Familie, und man hatte die rituelle Totenwache verboten, so daß der am Abend Gestorbene
die Nacht ganz allein verbrachte, und der, der untertags starb, ohne Verzug bestattet wurde.
Selbstverständlich benachrichtigte man die Angehörigen, aber die konnten sich meistens nicht frei
bewegen, da sie in Quarantäne waren, wenn sie mit dem Kranken gelebt hatten. In den Fällen, wo die
Familie nicht mit dem Verstorbenen zusammengewohnt hatte, stellte sie sich zur Abfahrt nach dem
Friedhof ein, wenn die Leiche schon gewaschen und eingesargt war.
Nehmen wir an, diese Formalität habe im Hilfsspital stattgefunden, dem Dr. Rieux vorstand. Die Schule
hatte hinter dem Hauptgebäude einen Ausgang. Eine große Gerümpelkammer, die auf den Flur ging,
enthielt Särge. Auf dem Flur selber fand die Familie einen einzigen schon geschlossenen Sarg vor. Man
ging sogleich zum Wichtigsten über, das heißt, das Familienoberhaupt mußte Papiere unterschreiben.
Dann lud man den Leichnam in ein Auto, das entweder ein richtiger Leichenwagen oder ein großer,
umgebauter Krankenwagen war. Die Angehörigen stiegen in einen der noch erlaubten Mietwagen, und
die Autos fuhren mit aller Geschwindigkeit durch die Außenviertel zum Friedhof. An der Pforte hielten
Polizisten den Zug auf, drückten einen Stempel auf den amtlichen Passierschein, ohne den es unmöglich
war, eine letzte Ruhestätte zu bekommen, wie unsere Mitbürger das nannten; dann traten sie beiseite, und
die Wagen hielten auf einem viereckigen Platz, wo zahlreiche Gruben bereit waren. Ein Priester empfing
die Leiche, denn die Trauerfeierlichkeiten in der Kirche waren abgeschafft worden. Unter Gebeten hob
man den Sarg herunter, umwickelte ihn mit einem Seil, schleifte ihn, er glitt, stieß auf dem Grund auf,
der Priester schwang seinen Weihwedel, und schon polterten die ersten Erdschollen auf den Deckel. Kurz
zuvor war der Krankenwagen weggefahren, um sich einer Desinfektion zu unterziehen, und während die
Schaufeln voll Lehm immer dumpfer ertönten, verkroch sich die Familie wieder in den Mietwagen. Eine
Viertelstunde später war sie zu Hause.
So ging wirklich alles mit einem Maximum an Schnelligkeit und einem Minimum an Gefahr vor sich.
Und zweifellos wurde das natürliche Empfinden der Familien wenigstens am Anfang dadurch verletzt.
Aber das sind Rücksichten, die man in Pestzeiten nicht walten lassen kann: alles mußte der Wirksamkeit
geopfert werden. Wenn übrigens zu Beginn die Moral der Bevölkerung unter diesem Vorgehen gelitten
hatte - denn der Wunsch, anständig begraben zu werden, ist verbreiteter, als man glaubt -, so wurde zum
Glück ein wenig später die Ernährungsfrage heikel und lenkte das Interesse der Leute auf dringlichere
Sorgen. Wenn die Einwohner essen wollten, wurden sie vollauf beschäftigt mit Schlangestehen, Schritte
unternehmen und Formalitäten erfüllen, so daß ihnen keine Zeit blieb, an die Art und Weise zu denken,
wie man rings um sie starb und wie sie selbst eines Tages sterben würden. So entpuppten sich diese
materiellen Schwierigkeiten, die eigentlich ein Übel waren, später als eine Wohltat. Und alles wäre zum
besten bestellt gewesen, wenn die Seuche nicht weiter um sich gegriffen hätte.
Denn nun wurden die Särge seltener, für die Leichentücher mangelte es an Leinwand und im Friedhof an
Platz. Man mußte sich anders behelfen. Das einfachste, immer von der Wirksamkeit aus betrachtet,
schien, die Feierlichkeiten zusammenzufassen und, wenn nötig, die Fahrten zwischen Spital und
Kirchhof zu vermehren. Rieux' Abteilung verfügte zum Beispiel zu jener Zeit über fünf Särge. Wenn sie
alle besetzt waren, wurden sie in den Krankenwagen geladen. Auf dem Friedhof leerte man die Kisten,
die bleifarbenen Leichen wurden auf Bahren gelegt und warteten in einem dazu hergerichteten Schuppen.
Die Särge wurden mit einer antiseptischen Lösung begossen, ins Spital zurückgefahren, und das Ganze
wiederholte sich, so oft es nötig war. Die Organisation war also sehr gut, und der Präfekt zeigte sich
befriedigt. Er sagte sogar zu Rieux, es sei schließlich besser als die von Negern geschobenen
Totenkarren, von denen die alten Pestchroniken berichteten.
«Ja», sagte Rieux, «das Begräbnis bleibt sich gleich, aber wir fertigen wenigstens Zettel an. Der
Fortschritt ist unbestreitbar.»
Trotz dieser Erfolge der Verwaltung sah sich die Präfektur gezwungen, die Verwandten von den
Feierlichkeiten fernzuhalten, weil diese Formalitäten jetzt auf eine widerwärtige Weise vor sich gingen.
Man duldete die Angehörigen einzig am Tor des Gottesackers, und auch das war nicht offiziell. Denn
was den letzten Vorgang betraf, so hatten sich hier die Zustände etwas verändert. Am äußersten Ende des
Friedhofs waren auf einem leeren, nur von Mastixbäumen bewachsenen Platz zwei riesige Gruben
ausgehoben worden. Es gab eine für die Männer und eine für die Frauen. In dieser Beziehung wahrte die
Verwaltung die Sitten, und erst viel später verschwand in der Übermacht des Geschehens diese letzte
Scham, so daß Männer und Frauen ohne Rücksicht auf den Anstand durch- und übereinander begraben
wurden. Glücklicherweise kennzeichnete diese höchste Verwirrung nur die letzten Augenblicke der
Heimsuchung. Zu der Zeit, die uns jetzt beschäftigt, wurde die Trennung der Gruben noch eingehalten,
und die Präfektur legte großen Wert darauf. Auf dem Grund einer jeden kochte und brodelte eine dicke
Schicht ungelöschten Kalks. An den Rändern des Lochs ließ ein kleiner Berg des gleichen Kalks seine
Blasen in der freien Luft platzen. Wenn die Fahrten des Krankenwagens beendet waren, trug man die
Bahren hintereinander herbei; man ließ die entblößten und leicht verkrümmten Leichen ungefähr
nebeneinander hinuntergleiten und deckte sie augenblicklich mit ungelöschtem Kalk und dann mit Erde
zu, aber nur bis zu einer gewissen Höhe, um für die kommenden Gäste noch Raum zu sparen. Am
folgenden Tag wurden die Verwandten ersucht, in einem Register zu unterschreiben - was den
Unterschied zwischen den Menschen und etwa den Hunden klarmacht: eine Nachprüfung war immer
möglich.
Für alle diese Verrichtungen war Personal erforderlich, und man war immer drauf und dran, keines mehr
zu finden. Zahlreiche dieser zuerst amtlichen, dann improvisierten Krankenwärter und Totengräber
starben an der Pest. So viele Vorsichtsmaßnahmen auch getroffen wurden, eines Tages wurden sie doch
angesteckt. Aber wenn man wohl überlegt, war es am erstaunlichsten, daß es während der ganzen
Epidemie nie an Männern für diesen Beruf mangelte. Die kritische Zeit kam kurz vor dem Höhepunkt
der Pest, und Dr. Rieux' Besorgnis war damals begründet. Die Hilfskräfte genügten weder für die
höheren Posten noch für die grobe Arbeit, wie er das nannte. Aber vom Augenblick an, da die Pest sich
tatsächlich der ganzen Stadt bemächtigte, hatte ihr Überhandnehmen nützliche Folgen, denn sie brachte
das Handelsleben völlig aus den Fugen und verursachte so eine beträchtliche Arbeitslosigkeit. In den
meisten Fällen fanden sich unter den Arbeitslosen keine Anwärter für die leitenden Stellungen, aber die
niedrigen Arbeiten wurden dadurch erleichtert. Von dem Augenblick an sah man nämlich immer, daß das
Elend stärker war als die Angst, um so mehr, als die Arbeit den Gefahren entsprechend bezahlt wurde.
Die Gesundheitsbehörden verfügten über eine Liste von Bewerbern, und sobald ein Mann ausfiel,
benachrichtigte man die ersten auf der Liste, die sich unfehlbar einstellten, wenn sie nicht in der
Zwischenzeit ebenfalls «ausgefallen» waren. So konnte der Präfekt, der lange gezögert hatte, zu
Gefängnis oder zum Tode Verurteilte für diese Art Arbeit heranzuziehen, dieses letzte Mittel vermeiden.
Solange es Arbeitslose gebe, könne man noch warten, meinte er.
Bis Ende August konnten also unsere Mitbürger schlecht und recht zu ihrer letzten Behausung geführt
werden, wenn auch nicht, wie es sich gehörte, so doch geordnet genug, um der Verwaltung das Gefühl zu
geben, sie erfülle ihre Pflicht. Aber wir müssen etwas vorgreifen, um von den letzten Anordnungen zu
berichten, zu denen man gezwungen wurde. Vom August an hielt sich nämlich die Pest auf einer solchen
Höhe, daß die Anhäufung der Opfer bei weitem die Aufnahmemöglichkeiten unseres kleinen Friedhofs
überstieg. Man konnte lange Mauerstücke einreißen, den Toten einen Ausblick auf das umliegende
Gelände eröffnen, man mußte sehr schnell etwas anderes erfinden. Zuerst wurde beschlossen, nachts zu
bestatten, was mit einem Schlag gewisse Rücksichten entbehrlich machte. Immer mehr Leichen konnten
in die Krankenwagen gelegt werden. Und die wenigen verspäteten Spaziergänger, die sich gegen jedes
Gebot nach dem Lichterlöschen noch in den Außenquartieren befanden (oder die, die ihr Beruf dorthin
führte), begegneten manchmal einer langen Reihe weißer Krankenwagen, die dahinraste und die hohlen,
nächtlichen Straßen mit ihrem trüben Bimmeln erfüllte. Hastig wurden die Leichen in die Gruben
geworfen. Sie hatten noch nicht ausgeschlenkert, wenn der Kalk ihnen schon ins Gesicht geschaufelt
wurde und die Erde sie namenlos bedeckte, in Löchern, die man immer tiefer grub.
Ein wenig später jedoch mußte man nach etwas anderem suchen und noch mehr Platz schaffen. Ein Erlaß
der Präfektur enteignete die Insassen der Familiengräber, und alle ausgegrabenen Überreste wurden ins
Krematorium gefahren. Bald war man auch genötigt, die an der Pest Gestorbenen zur Einäscherung zu
führen. Aber dazu brauchte man den alten Verbrennungsofen, der sich außerhalb der Tore im Osten der
Stadt befand. Die Wachtposten wurden weiter hinausgeschoben, und ein Angestellter des Rathauses
erleichterte die Aufgabe der Behörden sehr durch seinen Rat, man solle die Straßenbahn benutzen, die
früher die Felsenstraße über dem Meer bedient hatte und nun nicht mehr gebraucht wurde. Das Innere
der Anhänger und der Motorwagen wurde zu diesem Zweck eingerichtet, indem man die Sitze entfernte
und die Gleise auf der Höhe der Verbrennungsanstalt abbog, die auf diese Weise Endstation wurde.
Und während des ganzen Spätsommers und mitten im Herbst waren in tiefster Nacht auf der ganzen
Uferstraße seltsame Straßenbahnen zu sehen, die ohne Reisende das Meer entlang schwankten. Die
Bevölkerung hatte schließlich erfahren, welche Bewandtnis es damit hatte. Und obwohl Patrouillen den
Zugang zur Felsenstraße untersagten, gelang es oft kleinen Gruppen, sich hinter die überhängenden
Felsen zu schleichen und beim Vorbeifahren der Straßenbahn Blumen in die Anhängewagen zu werfen.
Dann hörte man die Fahrzeuge noch in die Nacht hinein holpern, beladen mit Blumen und Toten.
Jedenfalls schwebte in den ersten Tagen gegen Morgen ein dichter, ekelerregender Rauch über den
östlichen Vierteln der Stadt. Alle Ärzte waren der Ansicht, diese Dünste seien zwar widerlich, aber ganz
unschädlich. Die Bewohner dieser Viertel drohten jedoch sofort mit Auswanderung, da sie überzeugt
waren, die Pest falle so vom Himmel auf sie herab. Man zwar gezwungen, durch ein verwickeltes System
von Kanälen den Rauch abzuleiten, und die Bewohner beruhigten sich. Nur bei starkem Wind erinnerte
sie ein schwacher Geruch daran, daß sie in einer neuen Ordnung lebten und daß die Flammen der Pest
jeden Abend ihren Tribut verzehrten.
Das waren die schlimmsten Folgen der Epidemie. Aber es ist ein Glück, daß sie sich nicht noch weiter
ausdehnte, denn es ist anzunehmen, daß sie vielleicht über die Erfindungsgabe unserer Ämter, die
Verfügungen der Präfektur und sogar die Aufnahmefähigkeit des Verbrennungsofens Herr geworden
wäre. Rieux wußte, daß verzweifelte Lösungen vorgesehen waren, wie zum Beispiel das Versenken der
Leichen ins Meer, und er konnte sich mühelos ihren entsetzlichen Schaum auf dem blauen Wasser
vorstellen. Er wußte auch, daß bei weiterem Ansteigen der Statistik keine noch so ausgezeichnete
Organisation standhalten konnte, daß die Menschen dann trotz der Präfektur auf Haufen zusammen
sterben und auf der Straße verwesen würden und daß die Stadt es erleben würde, wie auf den öffentlichen
Plätzen die Sterbenden sich an die Lebenden klammerten, in einem Gemisch aus berechtigtem Haß und
sinnloser Hoffnung.
Es waren jedenfalls Tatsachen oder Befürchtungen dieser Art, die bei unseren Mitbürgern das Gefühl der
Trennung und der Verbannung wachhielten. Der Erzähler weiß genau, wie bedauerlich es in dieser
Beziehung ist, daß er hier von nichts wirklich Großartigem erzählen kann, von irgendeinem tröstlichen
Helden zum Beispiel oder einer glänzenden Tat, wie sie in den alten Berichten stehen. Denn nichts ist
weniger augenfällig als eine Seuche, und die großen Schicksalsschläge sind schon ihrer Dauer wegen
eintönig. In der Erinnerung erscheinen die fürchterlichen Tage der Pest denen, die sie erlebten, nicht als
große, endlos grausame Flammen, sondern viel eher als eine endlose Tretmühle, die alles zermalmte.
Nein, die Pest hatte nichts mit den großen, erhebenden Bildern zu tun, die Rieux zu Beginn der Seuche
verfolgt hatten. Sie war zunächst eine umsichtige, tadellose Verwaltung, die reibungslos arbeitete. So hat
sich übrigens auch der Erzähler der Sachlichkeit beflissen, um nichts zu verraten und vor allem, um sich
selbst nicht zu verraten. Abgesehen von den grundsätzlichen Erfordernissen einer einigermaßen
zusammenhängenden Berichterstattung hat er fast nichts mit künstlerischen Mitteln zurechtmachen
wollen. Und es ist die Sachlichkeit selbst, die ihm befiehlt, jetzt zu sagen, daß die Trennung wohl das
große Leid jener Zeit darstellte, das allgemeinste und tiefste, daß die Gewissenhaftigkeit es unerläßlich
findet, sie an diesem Punkt der Pest von neuem zu beschreiben, daß jedoch sogar dieses Leid damals
etwas von seiner Erhabenheit verlor.
War es, weil unsere Mitbürger, oder wenigstens diejenigen, die am meisten unter der Trennung gelitten
hatten, sich an ihre Lage gewöhnten? Dies zu bejahen wäre nicht ganz zutreffend, Es wäre richtiger, zu
sagen, daß sie seelisch und körperlich an Abzehrung litten. Zu Beginn der Pest erinnerten sie sich noch
sehr wohl an den Menschen, den sie verloren hatten und nun vermißten. Sie erinnerten sich deutlich an
das geliebte Gesicht, an sein Lachen, an diesen oder jenen Tag, den sie nachträglich als glücklich
erkannten; aber sie konnten sich nur schwer vorstellen, was der andere in dem Augenblick des
Gedenkens und in dieser nun so weiten Ferne machte. Kurz, damals hatten sie Gedächtnis, aber zu wenig
Phantasie. Im zweiten Abschnitt der Pest verloren sie auch das Gedächtnis. Nicht daß sie jenes Gesicht
vergessen hätten, aber - was auf das gleiche herauskam - es war körperlos geworden, sie erblickten es
nicht mehr in ihrem Innern. Und während sie sich in den ersten Wochen gern beklagten, daß sie es im
Reich ihrer Liebe nur noch mit Schatten zu tun hätten, merkten sie später, daß diese Schatten noch
wesenloser werden konnten und selbst die geringsten Färbungen verloren, die die Erinnerung bewahrte.
Ganz am Ende dieser langen Trennungszeit stellten sie sich nicht mehr vor, welch innige Vertrautheit sie
einst besessen und wie ein Mensch mit ihnen hatte leben können, der sich jederzeit in greifbarer Nähe
befand.
In dieser Hinsicht waren sie in die eigentliche Ordnung der Pest eingetreten, die gerade durch ihre
Mittelmäßigkeit stärker wirkte. Bei uns hatte kein Mensch mehr große Gefühle. Aber jedermann
empfand eintönige Gefühle. «Es ist Zeit, daß es aufhört», sagten unsere Mitbürger, weil es in
Seuchezeiten natürlich ist, das Ende des allgemeinen Leidens herbeizuwünschen, und weil sie tatsächlich
wünschten, es möchte aufhören. Aber das alles wurde ohne das Feuer oder die Erbitterung des Anfangs
gesagt und einzig aus den paar Gründen, die uns noch klar bewußt blieben und die armselig waren. Auf
das wilde Ungestüm der ersten Wochen war eine Niedergeschlagenheit gefolgt, in der man zu Unrecht
Ergebung gesehen hätte, die aber doch eine Art vorläufigen Sich-drein-schickens darstellte.
Unsere Mitbürger hatten den Schritt verhalten, sich angepaßt, wie man zu sagen pflegt, weil ihnen nichts
anderes übrigblieb. Selbstverständlich verharrten sie in der Haltung des Unglücks und des Leidens, aber
sie spürten den Stachel nicht mehr. Im übrigen war Dr. Rieux zum Beispiel der Ansicht, daß gerade darin
das Unglück bestand und daß die Gewöhnung an die Verzweiflung schlimmer ist als die Verzweiflung
selbst. Früher waren die Getrennten nicht wahrhaft unglücklich gewesen, in ihrem Leid gab es noch
einen Lichtschimmer, der nun erloschen war. Jetzt sah man sie still und geistesabwesend an den
Straßenecken, in den Cafés oder bei ihren Freunden, und ihr Blick war so gelangweilt, daß ihretwegen
die ganze Stadt einem Wartesaal glich. Jene, die einen Beruf hatten, übten ihn ebenso aus wie die Pest
den ihren: peinlicl genau und unauffällig. Alle waren bescheiden. Zum erstenmal scheuten sich die
Getrennten nicht, vom Abwesenden zu sprechen, die allgemeine Sprache zu benutzen und ihre Trennung
unter demselben Gesichtswinkel zu betrachten wie die Statistik der Seuche. Während sie bisher ihr Leid
scheu vom gemeinsamen Elend ferngehalten hatten, fügten sie sich jetzt in die Vermischung. Ohne
Gedächtnis und ohne Hoffnung richteten sie sich in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde ihnen alles
zur Gegenwart. Man muß es wohl aussprechen: die Pest hatte alle der Fähigkeit zur Liebe und sogar zur
Freundschaft beraubt. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nichts mehr als
Augenblicke.
Wohlverstanden, dies alles hatte keine ausschließliche Gültigkeit. Denn wenn es auch zutrifft, daß alle
Getrennten in diesen Zustand gerieten, muß doch hinzugefügt werden, daß sie ihn nicht alle gleichzeitig
erreichten. Und man muß sagen, daß selbst nachdem sie sich geduldig an ihre neue Lage gewöhnt hatten,
blitzartige Erleuchtungen, Rückblicke und jähe Momente der Hellsichtigkeit sie zu einer verjüngten,
schmerzlicheren Empfindsamkeit zurückführten. Dazu waren jene Augenblicke der Zerstreutheit nötig,
da sie irgendeinen Plan schmiedeten, der das Ende der Pest voraussetzte. Dazu mußten sie unversehens,
von irgendeiner Gnade angerührt, das Brennen einer unbegründeten Eifersucht verspüren. Andere
erfuhren hier und da ein plötzliches Wiederaufleben und tauchten an einzelnen Tagen der Woche aus
ihrer Betäubung auf, vor allem am Sonntag und am Samstagnachmittag, weil diese Tage zur Zeit des
Abwesenden bestimmten Bräuchen gewidmet waren. Oder dann kündigte eine gewisse Traurigkeit, die
sie abends befiel, ihnen das Wiederfinden des Gedächtnisses an, was sich übrigens nicht immer
bestätigte. Jene Abendstunde, die für die Gläubigen eine Zeit der Selbstprüfung bedeutet, ist hart für den
Gefangenen oder den Verbannten, der nichts als Leere zu prüfen hat. Sie hielt sie einen Augenblick in
der Schwebe, dann fielen sie in die Erschlaffung zurück, schlössen sich ein in der Pest.
Man begreift unschwer, daß dies im Verzicht auf ihre innerste Persönlichkeit bestand. Während sie sich
am Anfang der Pest über die Unzahl Kleinigkeiten verwunderten, die ihnen viel bedeuteten und für die
anderen gar nicht vorhanden waren, während sie so die Erfahrung des eigenen Lebens machten,
interessierten sie sich jetzt im Gegenteil nur für das, was die anderen interessierte; sie hatten nur noch
allgemeine Ansichten, und selbst ihre Liebe nahm für sie eine unpersönliche Gestalt an. Sie waren der
Pest in so hohem Maße anheimgefallen, daß sie manchmal nur noch im Schlafe hofften und sich bei dem
Gedanken ertappten: «Die Beulen, und endlich Schluß!» Aber in Wirklichkeit schliefen sie bereits, und
diese ganze Zeit war nur ein langer Schlaf. Die Stadt war von wachen Schläfern bevölkert, die ihrem
Schicksal nur die wenigen Male wirklich entrannen, da in der Nacht ihre scheinbar geschlossene Wunde
wieder aufbrach. Und aus dem Schlaf auffahrend, betasteten sie dann mit einer gewissen Zerstreutheit die
gereizten Wundränder, während sie blitzartig ihr plötzlich erneutes Leid wiederfanden und mit ihm das
bestürzte Gesicht ihrer Liebe. Am Morgen kehrten sie wieder zur Seuche, das heißt zur Routine zurück.
Aber, wird man sagen, wie sahen diese Getrennten eigentlich aus? Nun, das ist einfach: sie sahen nach
nichts aus. Oder, wenn man lieber will, sie sahen ganz gewöhnlich aus, einfach wie alle Leute. Sie teilten
die Ruhe und die kindischen Erregungen der Stadt. Sie verloren den Anschein des kritischen Sinns und
gewannen dafür den Anschein der Kaltblütigkeit. Man konnte zum Beispiel sehen, wie die Klügsten
unter ihnen - wie alle Leute - in den Zeitungen oder Rundfunksendungen nach Gründen zu suchen
schienen, die an ein rasches Ende der Pest glauben lassen konnten; wie sie sich offenkundig trügerischen
Hoffnungen hingaben oder grundlos besorgt waren, wenn sie die Betrachtungen lasen, die ein
Zeitungsschreiber ein wenig auf gut Glück und vor Langeweile gähnend zusammengeschrieben hatte. Im
übrigen tranken sie ihr Bier oder pflegten ihre Kranken, faulenzten oder gaben sich völlig aus, ordneten
Zettel oder ließen Platten laufen, ohne sich weiter voneinander zu unterscheiden. Mit anderen Worten,
sie wählten nicht mehr. Die Pest hatte die Werturteile abgeschafft. Und das zeigte sich in der Art, wie
kein Mensch sich mehr um die Güte der Kleider oder Eßwaren kümmerte, die man einkaufte. Man nahm
alles in Bausch und Bogen an.
Schließlich ist noch zu sagen, daß die Getrennten ihr seltsames Vorrecht einbüßten, das sie im Anfang
bewahrten. Sie hatten die Selbstsucht der Liebe und den Vorteil, den sie daraus zogen, verloren.
Wenigstens war jetzt die Lage eindeutig klar: die Seuche betraf alle Leute. Inmitten der Schüsse, die an
den Stadttoren krachten, der Stempel, die zu unserem Leben oder unserem Sterben den Takt schlugen,
inmitten der Feuersbrünste und Zettel, der Schrecken und der Formalitäten, einem schmählichen, aber
amtlich verzeichneten Tod geweiht, in den grauenvollen Rauchwolken und dem ruhigen Bimmeln der
Krankenwagen, ernährten wir uns alle vom gleichen Brot der Verbannung und erwarteten, ohne es zu
wissen, die gleiche, alles verwandelnde Wiedervereinigung, den gleichen, alles umwälzenden Frieden.
Unsere Liebe war sicherlich immer noch vorhanden, bloß unbrauchbar, schwer zu tragen, reglos in uns,
unfruchtbar wie das Verbrechen oder die Verdammung. Sie war nur noch eine Geduld ohne Zukunft und
eine beharrliche Erwartung. Und in dieser Beziehung erinnerte die Haltung einiger unserer Mitbürger an
die langen Schlangen, die an allen Enden der Stadt vor den Lebensmittelgeschäften standen. Es war
dieselbe Ergebung und dieselbe Ausdauer, unbegrenzt und illusionslos. Dieses Gefühl müßte nur
tausendfach vergrößert werden, um es auf die Trennung anzuwenden, denn hier handelte es sich um
einen anderen Hunger, der alles verzehren konnte.
Wollte man ein genaues Bild von der geistigen Verfassung haben, in der sich die Getrennten unserer
Stadt befanden, müßte man wieder die endlosen, goldenen und stauberfüllten Abende beschreiben, die
sich über die baumlose Stadt niedersenkten, während Männer und Frauen in alle Straßen strömten. Denn
was dann zu den noch sonnigen Terrassen emporstieg, während der Lärm der Fahrzeuge und Maschinen
verstummte, die gewöhnlich die ganze Sprache der Städte bilden, das war seltsamerweise nur ein
gewaltiges Rauschen von Schritten und Stimmengemurmel, das schmerzliche Gleiten von tausend und
aber tausend Schuhsohlen im Takt des pfeifenden Dreschflegels am schwer lastenden Himmel; ein
endloses, erdrückendes Stampfen schließlich, das langsam die ganze Stadt erfüllte und Abend für Abend
dem blinden Eigensinn, der in unseren Herzen damals die Liebe ersetzte, seine getreulichste und
trübseligste Stimme lieh.
4
Während der Monate September und Oktober hielt die Pest die Stadt in ihrer erdrückenden Gewalt. Da es
sich um ein Stampfen handelte, stampften ein paar hunderttausend Menschen noch während nicht enden
wollender Wochen, ohne von der Stelle zu kommen. Am Himmel folgten sich Dunst, Hitze und Regen.
Schweigende Scharen Stare und Drosseln zogen von Süden kommend hoch dahin, wichen jedoch der
Stadt aus, als hielte sie Paneloux' Dreschflegel fern, jenes seltsame Stück Holz, das pfeifend über den
Häusern wirbelte. Anfang Oktober fegten schwere Regengüsse die Straßen rein. Und während all dieser
Zeit ereignete sich nichts Bedeutsameres als dieses ungeheure Stampfen.
Da merkten Dr. Rieux und seine Freunde, wie sehr sie müde waren. Tatsächlich konnten die
Sanitätsmannschaften dieser Müdigkeit nicht mehr Herr werden. Dr. Rieux wurde sich darüber klar, als
er an seinen Freunden und an sich die Fortschritte einer eigenartigen Gleichgültigkeit beobachtete. Die
Männer zum Beispiel, die bisher ein so lebhaftes Interesse für alle die Pest betreffenden Nachrichten
gezeigt hatten, kümmerten sich jetzt gar nicht mehr darum. Rambert, der vorläufig mit der Leitung einer
seit kurzem in seinem Hotel eingerichteten Quarantäne betraut worden war, kannte haargenau die Zahl
der seiner Beobachtung unterstellten Menschen. Er war auf dem laufenden über die kleinsten
Einzelheiten des Systems, das er ausgedacht hatte, um die Leute, die unversehens Krankheitszeichen
aufwiesen, augenblicklich fortbringen zu lassen. Die Statistik über die Wirkung der vorbeugenden
Impfung war in seinem Gedächtnis eingegraben. Aber er war unfähig, die wöchentliche Zahl der
Pestopfer anzugeben, er wußte wahrhaftig nicht, ob die Seuche zunahm oder zurückging. Und dabei
bewahrte wenigstens er trotz allem die Hoffnung auf eine baldige Flucht.
Was die übrigen betrifft, die Tag und Nacht ganz von ihrer Arbeit in Anspruch genommen wurden, so
lasen sie keine Zeitung, hörten kein Radio. Wurde ihnen ein Ergebnis mitgeteilt, taten sie, als
interessierten sie sich dafür, nahmen es aber in Wirklichkeit mit jener zerstreuten Gleichgültigkeit auf,
die man bei den Kämpfern der großen Kriege zu finden erwartet, die, abgearbeitet und erschöpft, sich nur
noch bemühen, in ihren täglichen Pflichten nicht zu versagen, ohne dabei weiter auf den entscheidenden
Schlag oder den Waffenstillstand zu hoffen.
Grand, der fortfuhr, die durch die Pest bedingten Rechnungen anzustellen, wäre sicherlich unfähig
gewesen, zusammenfassende Ergebnisse zu nennen. Er war nie sehr gesund gewesen, im Gegensatz zu
Tarrou, Rambert und Rieux, die offenkundig gegen Ermüdung abgehärtet waren. Nun vereinigte er seine
Tätigkeit als Hilfsangestellter des Rathauses mit seinem Sekretariat bei Rieux und seiner nächtlichen
Arbeit. So befand er sich in einem Zustand dauernder Erschöpfung, aufrechterhalten von zwei oder drei
fixen Ideen, zum Beispiel, daß er sich nach der Pest richtige Ferien gönnen wolle, eine Woche
mindestens, während der er zielsicher, «Hut ab!», an seinem begonnenen Werk arbeiten könnte. Er war
auch plötzlich weichen Stimmungen unterworfen und erzählte Rieux bei solchen Gelegenheiten gern von
Jeanne, fragte sich, wo sie in diesem Augenblick sein mochte und ob sie beim Lesen der Zeitungen an
ihn denke. In einem Gespräch mit ihm ertappte sich Rieux eines Tages dabei, daß er von seiner eigenen
Frau erzählte, und zwar in ganz gewöhnlichem Ton, was ihm bisher noch nie vorgekommen war.
Unsicher, wie weit er den immer beruhigenden Telegrammen seiner Frau Glauben schenken durfte, hatte
er sich dazu entschlossen, dem Chefarzt der Heilanstalt zu kabeln, in der sie sich pflegte. Als Antwort
wurde ihm mitgeteilt, daß sich der Zustand der Kranken verschlimmert habe und versichert, daß alles
aufgeboten werde, um die Ausbreitung des Übels einzudämmen. Er hatte diese Nachricht für sich
behalten, und es war ihm nicht oder nur durch seine Ermüdung erklärlich, wie er sie Grand hatte
anvertrauen können. Der Angestellte hatte Rieux zuerst von Jeanne erzählt und ihn dann über seine Frau
ausgefragt, und Rieux hatte geantwortet. «Wissen Sie», hatte Grand gesagt, «heute läßt sich das sehr gut
heilen.» Und Rieux hatte zugestimmt und einfach gesagt, daß die Trennung anfange, lang zu werden, und
daß er seiner Frau vielleicht hätte helfen können, ihre Krankheit zu besiegen, während sie sich jetzt völlig
vereinsamt fühlen müsse. Dann hatte er geschwiegen und nur noch ausweichend geantwortet.
Die anderen befanden sich in der gleichen Verfassung. Tarrou hielt besser stand, aber seine
Aufzeichnungen zeigten, daß seine Neugier zwar nichts von ihrer Tiefe, dafür aber von ihrer
Vielseitigkeit eingebüßt hatte. Während dieser ganzen Zeit schien er sich tatsächlich nur für Cottard zu
interessieren. Bei Rieux, wo er schließlich Wohnung genommen hatte, seit das Hotel in ein
Quarantänelager umgewandelt worden war, hörte er kaum hin, wenn Grand oder der Arzt abends die
Ergebnisse mitteilten. Er brachte das Gespräch sofort auf die kleinen Einzelheiten des Oraner Lebens, die
ihn beschäftigten.
Castel schließlich war eines Tages gekommen, um dem Arzt zu melden, daß das Serum bereit sei.
Nachdem sie gemeinsam beschlossen hatten, den ersten Versuch an Herrn Othons kleinem Jungen
durchzuführen, der eben ins Spital eingeliefert worden war und dessen Fall hoffnungslos erschien, teilte
Rieux seinem alten Freund gerade die letzten Statistiken mit, als er gewahrte, daß dieser in seinem Sessel
zusammengesunken und fest eingeschlafen war. Und beim Anblick dieses Gesichts, auf das gewöhnlich
ein Zug der Sanftheit und Ironie eine unverwüstliche Jugend malte, das nun plötzlich entspannt, mit
einem Speichelfaden zwischen den halbgeöffneten Lippen, sein Alter und seine Abnutzung zeigte, fühlte
Rieux, wie seine Kehle sich zuschnürte.
An solchen Schwächen konnte Rieux seine eigene Müdigkeit ermessen. Seine Empfindsamkeit entwand
sich seinem Willen. Meistens geknebelt, verhärtet und ausgetrocknet, brach sie von Zeit zu Zeit hervor
und stürzte ihn in Gemütsbewegungen, deren er nicht mehr Herr wurde. Seine einzige Verteidigung war
die Flucht in diese Verhärtung und ein noch engeres Zuschnüren des Knotens, der sich in ihm gebildet
hatte. Er wußte wohl, daß dies die richtige Art war, weiterzumachen. Im übrigen hatte er nicht viele
Illusionen, und die letzten, die ihm noch blieben, raubten ihm seine Erschöpfung. Denn er wußte, daß
seine Rolle für eine Zeit, deren Ende er nicht absehen konnte, nicht mehr darin bestand zu heilen. Seine
Rolle war, die Diagnose zu stellen. Abdecken, sehen, beschreiben, eintragen, dann verurteilen, das war
seine Aufgabe. Frauen packten seine Handgelenke und heulten: «Herr Doktor, retten Sie ihm das
Leben!» Aber er war nicht da, um das Leben zu retten, er war da, um die Absonderung vorzuschreiben.
Wozu half der Haß, den er dann auf den Gesichtern las? «Sie haben kein Herz», wurde ihm eines Tages
gesagt. Aber doch, er hatte eines. Es half ihm, die zwanzig Stunden am Tag zu ertragen, während derer er
Menschen sterben sah, die zum Leben geschaffen waren. Es half ihm, jeden Tag wieder anzufangen. In
Zukunft hatte er dafür gerade noch Herz genug. Wie hätte dieses Herz dazu ausreichen sollen, das Leben
zu retten?
Nein, das war nicht Hilfe, was er tagein, tagaus verteilte, sondern Auskunft. Das konnte man
selbstverständlich nicht den Beruf eines Menschen nennen. Aber wer aus dieser schreckenerfüllten,
dezimierten Menge hatte schließlich noch die Freiheit, seinen Menschenberuf auszuüben? Es war noch
ein Glück, daß es die Ermüdung gab. Wäre Rieux frischer gewesen, so hätte dieser alles durchdringende
Todesgeruch ihn womöglich noch sentimental werden lassen. Aber wenn man nur vier Stunden
geschlafen hat, ist man nicht sentimental. Man sieht die Dinge, wie sie sind, das heißt mit den Augen der
Gerechtigkeit, der scheußlichen, lachhaften Gerechtigkeit. Und auch die anderen, die Verurteilten,
empfanden das deutlich. Vor der Pest empfing man ihn als Retter. Mit drei Pillen und einer Spritze
würde er alles in Ordnung bringen, und man drückte seinen Arm, während man ihn durch den Gang
begleitete. Das war schmeichelhaft, aber gefährlich. Jetzt zeigte er sich im Gegenteil mit Soldaten, und es
brauchte Kolbenschläge, um die Familie zum Öffnen zu bewegen. Sie hätte ihn und die ganze
Menschheit mit sich in den Tod reißen wollen. Ah! Es stimmte wohl, daß die Menschen nicht ohne
Menschen auskamen, daß er so hilflos dastand wie jene Unglücklichen und daß er das gleiche zitternde
Mitleid verdiente, das er in sich aufsteigen ließ, wenn er sie verlassen hatte.
Dies waren wenigstens die Gedanken, die Dr. Rieux während jener endlosen Wochen in seinem Herzen
bewegte, zusammen mit jenen anderen, die seinen Zustand des Getrenntseins betrafen. Und es waren
auch die gleichen, die er in den Zügen seiner Freunde widergespiegelt fand. Aber die gefährlichste Folge
der Erschöpfung, die sich allmählich all derer bemächtigte, die den Kampf gegen die Seuche fortsetzten,
war nicht diese Gleichgültigkeit den äußeren Ereignissen und den Gemütsbewegungen der anderen
gegenüber, sondern die Nachlässigkeit, in die sie sich gleiten ließen. Denn nun neigten sie dazu, alle
nicht wirklich unerläßlichen Bewegungen zu vermeiden, da sie ihnen stets über ihre Kraft zu gehen
schienen. So kamen diese Männer immer häufiger dazu, die von ihnen aufgestellten Vorschriften der
Hygiene außer acht zu lassen; sie vergaßen die eine oder andere der zahlreichen Desinfektionen, denen
sie sich unterziehen mußten; sie eilten manchmal zu Kranken, die die Lungenpest hatten, ohne gegen die
Ansteckung geschützt zu sein, weil sie erst im letzten Augenblick in verseuchte Häuser gerufen wurden
und es ihnen im voraus zu anstrengend schien, in irgendeine Anstalt zurückzukehren, um die
notwendigen Einträufelungen zu machen. Darin lag die eigentliche Gefahr; denn es war der Kampf
gegen die Pest selber, der sie nun für die Pest am verwundbarsten machte. Sie setzten gewissermaßen auf
den Zufall, und der Zufall gehörte niemandem.
Es gab indessen einen Menschen in der Stadt, der weder erschöpft noch entmutigt schien und ein
wandelndes Bild der Zufriedenheit bot. Das war Cottard. Er blieb weiterhin abseits, hielt jedoch seine
Beziehungen zu den anderen aufrecht. Aber er hatte die Gewohnheit angenommen, Tarrou so oft zu
besuchen, als dessen Arbeit es zuließ; einerseits, weil Tarrou über seinen Fall gut unterrichtet war, und
andererseits, weil er es verstand, den kleinen Rentner mit unwandelbarer Herzlichkeit zu empfangen. Es
war ein beständiges Wunder, aber Tarrou blieb trotz der mühevollen Arbeit, die er leistete, stets
wohlwollend und aufmerksam. Sogar wenn die Müdigkeit ihn an gewissen Abenden erdrückte, fand er
am nächsten Morgen seine Spannkraft wieder. «Mit dem kann man reden», hatte Cottard zu Rambert
gesagt, «weil er ein Mann ist. Er versteht einen immer.»
Aus diesem Grund befaßten sich Tarrous Aufzeichnungen in dieser Zeit immer ausschließlicher mit der
Gestalt Cottards. Tarrou hatte versucht, ein Bild der Reaktionen und Überlegungen Cottards zu geben, so
wie dieser sie ihm anvertraute oder so, wie er selber sie auslegte. Unter der Überschrift «Cottards
Beziehungen zur Pest» umfaßt dieses Bild mehrere Seiten des Tagebuchs, und der Erzähler hält es für
angebracht, hier eine Zusammenfassung wiederzugeben. Tarrous allgemeine Ansicht über den kleinen
Rentner läßt sich in folgendem Urteil zusammenfassen: «Er ist eine Persönlichkeit, die wächst.» Er
schien übrigens hauptsächlich in der guten Laune zu wachsen. Er war mit der Entwicklung der Ereignisse
nicht unzufrieden. Manchmal äußerte sich sein wahres Denken in Bemerkungen, die er vor Tarrou
fallenließ, wie etwa der folgenden: «Gewiß, es geht nicht besser. Aber es sitzen wenigstens alle im
gleichen Boot.»
«Natürlich», fügte Tarrou hinzu, «ist er bedroht wie die anderen, aber eben mit den anderen zusammen.
Und zudem bin ich überzeugt, daß er nicht ernstlich glaubt, er könne von der Pest befallen werden. Er
scheint in dem übrigens gar nicht so dummen Glauben zu leben, daß ein Mensch, der in einer schweren
Krankheit oder einer tiefen Angst befangen ist, dadurch gleichzeitig von allen anderen Krankheiten und
Ängsten befreit ist. , hat er mir gesagt, Diese Idee mag richtig oder falsch sein, jedenfalls versetzt sie Cottard in gute Laune. Das
einzige, was er nicht will, ist, von den anderen getrennt werden. Er will lieber mit allen belagert als allein
gefangen sein. Inmitten der Pest kommen keine geheimen Untersuchungen mehr in Frage, keine Akten,
Zettel, seltsamen Verhöre und drohenden Verhaftungen. » Das
berechtigte Cottard dazu - immer nach Tarrous Auslegung -, die Zeichen der Angst und Verwirrung
unserer Mitbürger mit jener nachsichtigen und verstehenden Befriedigung zu betrachten, die sich etwa in
einem: «Redet nur, ich habe sie vor euch gehabt» ausdrücken konnte.
«Da konnte ich ihm lange vorhalten, daß die einzige Art, nicht von den anderen getrennt zu werden,
schließlich in einem guten Gewissen bestehe. Er hat mich böse angeschaut und gesagt: Und dann: Und ich verstehe
tatsächlich gut, was er sagen will, und wie angenehm ihm das jetzige Leben vorkommen muß. Wie sollte
er nicht im Vorübergehen die Reaktionen wiedererkennen, die er selbst hatte? Den Versuch, den jeder
unternimmt, um alle auf seiner Seite zu haben; die Zuvorkommenheit, die man manchmal entfaltet, um
einem verirrten Fußgänger den Weg zu weisen, und die schlechte Laune, die man andere Male zeigt; die
Hast, mit der die Leute in die Luxusrestaurants strömen, die Befriedigung, mit der sie sich dort aufhalten
und verweilen; die regellose Masse, die sich jeden Tag in Schlangen vor den Kinos staut, die alle Theater
und selbst die Tanzlokale füllt, die sich wie eine entfesselte Flut in alle öffentlichen Vergnügungsstätten
ergießt; das Zurückweichen vor jeder Berührung, den Hunger nach menschlicher Wärme, der die
Menschen doch wieder zueinander treibt, Ellbogen an Ellbogen und Geschlecht zu Geschlecht. Cottard
hat das alles vor ihnen erlebt, das ist klar. Außer den Frauen, denn mit seinem Gesicht . . . Und ich
vermute, daß er sich im letzten Augenblick versagte, ein Freudenhaus aufzusuchen, um keinen
schlechten Ruf zu bekommen, der ihm später hätte schaden können.
Alles in allem bekommt die Pest ihm gut. Aus einem Menschen, der wider Willen einsam war, macht sie
einen Spießgesellen. Denn er ist offensichtlich ein Spießgeselle, und zwar ein Spießgeselle, der sich
ergötzt. Er ist der Spießgeselle alles dessen, was er sieht: des Aberglaubens, der unbegründeten Ängste,
der Empfindlichkeit dieser Seelen in Aufruhr; ihres Wahns, möglichst wenig von der Pest sprechen zu
wollen und dabei doch nicht aufzuhören, von ihr zu sprechen; ihrer kopflosen Bestürzung und ihres
plötzlichen Erbleichens bei den geringsten Kopfschmerzen, seit sie wissen, daß die Krankheit mit
Kopfschmerzen anfängt; und ihrer gereizten, übelnehmerischen, kurz: unbeständigen Empfindsamkeit,
die eine Beleidigung sieht, wo es sich um Vergeßlichkeit handelt, und über den Verlust eines
Hosenknopfes untröstlich ist.»
Es kam öfters vor, daß Tarrou abends mit Cottard ausging. Er erzählte dann jeweils in seinem Tagebuch,
wie sie Schulter an Schulter in der dunklen Menge der Abende oder Nächte untertauchten, sich ganz von
einer weißen und schwarzen Masse treiben ließen, auf die in weiten Abständen vereinzelte Laternen
einen Lichtschimmer warfen und so die menschliche Herde zu den heißen Vergnügen begleiteten, die sie
gegen die Kälte der Pest verteidigten. Der Luxus und das großzügige Leben, die Cottard ein paar Monate
früher in den öffentlichen Vergnügungsstätten gesucht hatte, das zügellose Genießen, von dem er
träumte, ohne es befriedigen zu können, das alles wurde nun zur Sucht eines ganzen Volkes. Obwohl die
Preise unaufhaltsam in die Höhe gingen, wurde noch nie so viel Geld verschleudert, und während es den
meisten am Nötigsten fehlte, war das Überflüssige noch nie besser vergeudet worden. Immer zahlreicher
wurden die Zerstreuungen eines Müßiggangs, der doch nichts anderes als Arbeitslosigkeit war. Tarrou
und Cottard folgten manchmal während langer Minuten einem jener Pärchen, die früher ängstlich darauf
bedacht gewesen waren, ihre Bindung zu verbergen und sich jetzt darauf versteiften, aneinandergepreßt,
mit der ein wenig starren Zerstreutheit der großen Leidenschaften, durch die Stadt zu gehen, ungeachtet
der sie umgebenden Menge. Cottard sagte gerührt: «Ah! Die lose Jugend!» Und er sprach laut, er blühte
auf inmitten des allgemeinen Fiebers, der fürstlichen Trinkgelder, die rings um sie fielen, und der
Intrigen, die vor ihren Augen gesponnen wurden.
Dennoch war Tarrou der Ansicht, daß Cottards Haltung nicht viel Bosheit in sich barg. Sein «Ich habe
das vor euch erlebt» drückte mehr Unglück als Triumph aus. «Ich glaube», sagte Tarrou, «daß er diese
zwischen dem Himmel und den Mauern ihrer Stadt gefangenen Menschen zu lieben beginnt. Wenn er es
vermöchte, erklärte er ihnen zum Beispiel gern, daß es gar nicht so entsetzlich schlimm ist. , hat er mir versichert, Er weiß tatsächlich, was er
sagt», fügt Tarrou hinzu. «Er schätzt die Widersprüchlichkeiten der Oraner richtig ein: einerseits das
gebieterische Verlangen nach Wärme, das sie einander nahebringt, andererseits die Unfähigkeit, sich ihm
ganz hinzugeben, weil sie das Mißtrauen auseinandertreibt. Sie wissen zu gut, daß sie ihrem Nachbarn
nicht vertrauen können, daß er fähig ist, einem unvermutet die Pest anzuhängen und die Hingabe benutzt,
um einen anzustecken. Wenn man, wie Cottard, seine Zeit damit verbracht hat, einen Angeber in all
denen zu wittern, deren Gesellschaft man doch sucht, kann man dieses Gefühl verstehen. Man hat
aufrichtiges Mitleid mit Leuten, die ständig daran denken, daß die Pest ihnen von einem Tag auf den
andern die Hand auf die Schulter legen kann und sich vielleicht schon dazu anschickt, während sie sich
noch ihrer ungebrochenen Gesundheit erfreuen. Er fühlt sich wohl im Schrecken, soweit das möglich ist.
Aber weil er das alles vor ihnen durchgemacht hat, kann er ihnen, glaube ich, nicht ganz nachempfinden,
wie grausam diese Ungewißheit ist. Kurz, es ist ihm, wie uns allen, die wir noch nicht an der Pest
gestorben sind, wohl bewußt, daß seine Freiheit und sein Leben täglich drauf und dran sind, zerstört zu
werden. Aber da er selbst im Schrecken gelebt hat, findet er es natürlich, daß die anderen ihn auch
erfahren. Genauer gesagt empfindet er den Schrecken weniger drückend, wenn er ihn nicht allein
ertragen muß. In dieser Beziehung hat er unrecht, und darin ist er schwerer zu verstehen als andere
Menschen. Aber schließlich verdient er deshalb auch mehr als andere, daß man ihn zu verstehen sucht.»
Endlich schließen Tarrous Aufzeichnungen mit einem Bericht, der die eigenartige Einsicht beleuchtet,
die Cottard und die verpesteten Menschen in gleicher Weise gewannen. Dieser Bericht gibt einigermaßen
die schwierige Stimmung jener Zeit wieder, und deshalb mißt der Erzähler ihm Bedeutung bei.
Sie waren in die städtische Oper gegangen, wo Glucks Orpheus gespielt wurde. Cottard hatte Tarrou
eingeladen. Es handelte sich um eine Truppe, die im Frühling vor der Pest gekommen war, um in unserer
Stadt einige Vorstellungen zu geben. Diese Truppe war von der Krankheit festgehalten worden und hatte
sich gezwungen gesehen, mit der Oper einen Vertrag abzuschließen, der sie verpflichtete, ihr Stück jede
Woche einmal zu spielen. So widerhallte unser Stadttheater seit Monaten jeden Freitag von den
melodischen Klagen des Orpheus und den ohnmächtigen Rufen der Eurydike. Die Vorführung erfreute
sich indessen weiterhin der Gunst des Publikums und brachte immer noch große Einnahmen. Cottard und
Tarrou hatten die teuersten Plätze und überschauten ein Parkett, das die elegantesten Mitbürger zum
Bersten füllten. Die Ankommenden waren sichtlich darauf bedacht, bei ihrem Eintritt Aufsehen zu
erregen. Während das Orchester gedämpft seine Instrumente stimmte, zeichneten sich die Schatten
deutlich gegen das blendende Rampenlicht ab, glitten von einer Seite zur andern und verneigten sich
artig. In dem halblauten Stimmengewirr einer Unterhaltung guten Tones gewannen die Männer ihre
Selbstsicherheit zurück, die ihnen in den schwarzen Straßen der Stadt gefehlt hatte. Der Frack
verscheuchte die Pest.
Während des ganzen ersten Aktes klagte Orpheus mühelos, ein paar Frauen in wallenden Gewändern
besprachen sein Unglück mit Anmut, und die Liebe wurde mit Arietten besungen. Der Saal reagierte mit
gedämpfter Begeisterung. Es wurde kaum beachtet, daß Orpheus in seine Arie des zweiten Aktes ein
Zittern legte, das nicht vorgesehen war, und mit etwas übertriebenem Pathos den Beherrscher der
Unterwelt anflehte, er möge sich von seinen Tränen rühren lassen. Einzelne abgerissene Bewegungen,
die ihm entfuhren, erschienen den Eingeweihten als eine Folge der Stilisierung, die das Spiel des Sängers
noch unterstrich.
Erst im dritten Akt, bei dem großen Duett von Orpheus und Eurydike (an der Stelle, da Eurydike ihrem
Geliebten entgleitet), ging eine gewisse Überraschung durch den Saal. Und als habe der Sänger nur auf
diese Bewegung der Zuschauer gewartet, oder noch eher, als habe das Gemurmel des Parketts ihn in
seinen eigenen Empfindungen bestätigt, wählte er diesen Augenblick, um in seinem altertümlichen
Kostüm mit grotesken Bewegungen, mit gespreizten Armen und Beinen, an die Rampe zu treten und
inmitten der idyllischen Kulissen, deren Anachronismus dem Publikum heute zum erstenmal - und zwar
auf grauenvolle Weise - auffiel, zusammenzubrechen. Denn zur gleichen Zeit verstummte das Orchester,
und die Zuschauer des Parketts erhoben sich und begannen den Saal langsam und anfänglich schweigend
zu räumen, wie man nach der Messe die Kirche oder nach einem Besuch ein Sterbezimmer verläßt. Die
Frauen rafften ihre Röcke zusammen und gingen gesenkten Hauptes aus dem Raum; die Männer führten
ihre Begleiterinnen am Ellbogen und suchten sie davor zu bewahren, an den Klappsitzen anzustoßen.
Aber allmählich überstürzte sich die Bewegung, das Flüstern wurde zu lautem Rufen, und die Menge
strömte zu den Ausgängen, staute sich und suchte sich schließlich schreiend und mit rücksichtslosen
Pfiffen einen Weg zu bahnen.
Cottard und Tarrou hatten sich nun erhoben und blieben allein, angesichts eines der Bilder ihres
damaligen Lebens: auf der Bühne die Pest in der Gestalt eines verrenkten Mimen, und im Saal eine
überflüssig gewordene Verschwendung in der Gestalt vergessener Fächer und auf roten Sesseln liegender
Spitzen.
Während der letzten Septembertage hatte Rambert an Rieux' Seite tüchtig gearbeitet. Bloß am Tag, da er
Gonzales und die beiden jungen Leute am Knabengymnasium treffen mußte, hatte er Urlaub verlangt.
An jenem Tag sahen Gonzales und der Journalist die beiden Kleinen lachend herbeikommen. Sie sagten,
das letzte Mal habe man Pech gehabt, aber das sei zu erwarten gewesen. Jedenfalls hatten sie diese
Woche keinen Wachdienst mehr. Man mußte sich bis nächste Woche gedulden und dann von vorn
anfangen. Rambert fand diesen Ausdruck treffend. Gonzales schlug also eine Verabredung für den
folgenden Montag vor. Aber diesmal würde man Rambert bei Marcel und Louis einquartieren. «Wir zwei
verabreden uns. Wenn ich nicht komme, gehst du geradewegs zu ihnen. Wir werden dir erklären, wo sie
wohnen.» Aber Marcel, oder Louis, sagte in diesem Augenblick, es sei am einfachsten, den Kameraden
gleich zu ihnen zu führen. Wenn er nicht anspruchsvoll sei, gebe es genug zu essen für vier. Und auf
diese Art könne er sich umsehen. Gonzales fand diesen Einfall sehr gut, und sie stiegen zum Hafen
hinab.
Marcel und Louis wohnten am Rand des Marineviertels, in der Nähe der Tore, die auf die Felsenstraße
gingen. Es war ein kleines spanisches Haus mit dicken Mauern, gestrichenen Fensterladen und
nüchternen, schattigen Zimmern. Es gab Reis, aufgetragen von der Mutter der beiden Burschen, einer
alten, lächelnden, runzligen Spanierin. Gonzales wunderte sich, denn in der Stadt fehlte der Reis schon.
«An den Toren behilft man sich eben», sagte Marcel. Rambert aß und trank, und Gonzales sagte, er sei
ein richtiger Kamerad, während der Journalist nur an die Woche dachte, die er hinter sich bringen mußte.
In Wirklichkeit mußte er zwei Wochen warten, denn die Wachablösungen wurden auf vierzehn Tage
ausgedehnt, damit die Zahl der Mannschaften verringert werden konnte. Und während dieser vierzehn
Tage arbeitete Rambert ununterbrochen, ohne sich zu schonen, gewissermaßen mit geschlossenen Augen
vom Morgengrauen bis in die Nacht. Spät abends ging er zu Bett und fiel in schweren Schlaf. Der
unvermittelte Übergang vom Nichtstun zu dieser erschöpfenden Arbeit raubte ihm beinahe alle Träume
und alle Kraft. Von seiner baldigen Flucht sprach er wenig. Ein einziges bemerkenswertes Ereignis: nach
einer Woche gestand er dem Arzt, daß er sich in der vorhergehenden Nacht zum erstenmal betrunken
habe. Als er aus der Bar trat, hatte er plötzlich das Gefühl, seine Leisten schwöllen an, und er habe Mühe,
seine Arme in den Schultern zu bewegen. Er dachte, es sei die Pest. Die einzige Reaktion, deren er in
diesem Augenblick fähig war und die er genauso unvernünftig fand wie Rieux, bestand darin, daß er in
die obere Stadt rannte. Dort, auf einem kleinen Platz, von dem aus man noch immer nicht das Meer, aber
doch ein größeres Stück Himmel sah, rief er über die Mauern der Stadt hinweg mit einem lauten Schrei
nach seiner Frau. Als er nach seiner Rückkehr kein einziges Krankheitszeichen auf seinem Körper
entdeckte, war er nicht sehr stolz auf diese plötzliche Schwäche. Rieux sagte, er verstehe sehr gut, daß
man so handeln könne: «Auf alle Fälle kann es vorkommen, daß man Lust hat dazu.
Herr Othon hat mir heute morgen von Ihnen erzählt», fügte Rieux unvermittelt dazu, als Rambert eben
gehen wollte. «Er hat mich gefragt, ob ich Sie kenne. , hat er mir gesagt,
»
«Was bedeutet das ? »
«Das bedeutet, daß Sie sich beeilen müssen.»
«Danke», sagte Rambert und drückte dem Arzt die Hand. Auf der Schwelle drehte er sich plötzlich um.
Rieux bemerkte, daß er zum erstenmal seit Beginn der Pest lächelte.
«Warum hindern Sie mich denn nicht am Weggehen? Sie haben die Möglichkeit.»
Rieux schüttelte mit der ihm eigenen Bewegung den Kopf und sagte, das sei Ramberts Angelegenheit, er
habe sich für das Glück entschieden, und er, Rieux, habe ihm keine Gründe entgegenzusetzen. Er fühlte
sich in dieser Sache außerstande, zu beurteilen, was gut oder was schlecht sei.
«Warum raten Sie mir dann unter diesen Umständen, mich zu beeilen? »
Rieux lächelte nun seinerseits: «Vielleicht habe auch ich Lust, etwas für das Glück zu tun.»
Am nächsten Tag sprachen sie nicht mehr davon, sondern arbeiteten zusammen. In der folgenden Woche
konnte Rambert endlich in das kleine spanische Haus übersiedeln. Im gemeinsamen Aufenthaltsraum
war ihm ein Bett aufgeschlagen worden. Da die jungen Leute zu den Mahlzeiten nicht heimkamen, und
da er gebeten worden war, so wenig wie möglich auszugehen, lebte er die meiste Zeit allein oder
unterhielt sich mit der alten spanischen Mutter. Sie war dürr und rührig, schwarz gekleidet; ihr Gesicht
unter den weißen, sehr sauberen Haaren war gebräunt und voll Runzeln. Wenn sie Rambert anschaute,
lächelte sie nur wortlos mit den Augen.
Andere Male fragte sie ihn, ob er nicht fürchte, seiner Frau die Pest zu bringen. Er fand, das sei ein
Risiko, das man auf sich nehmen müsse und das im Grunde winzig klein sei, während sie bei seinem
Verbleiben in der Stadt Gefahr liefen, auf immer getrennt zu werden.
«Ist sie lieb?» fragte die Alte lächelnd.
«Sehr lieb.»
«Hübsch?»
«Ich glaube.»
«Aha», sagte sie, «darum.»
Rambert dachte lange über ihre Antwort nach. Es war sicher darum, aber es konnte unmöglich bloß
darum sein.
«Sie glauben nicht an den lieben Gott?» fragte die Alte, die jeden Morgen zur Messe ging.
Rambert gab es zu, und die Alte sagte wieder «Darum». «Sie müssen zu ihr gehen, Sie haben recht. Was
bliebe Ihnen sonst?»
Die übrige Zeit strich Rambert an den nackten, getünchten Mauern entlang, streichelte die an die Wand
genagelten Fächer oder zählte die kleinen Wollknäuel, die an den Fransen der Tischdecke hingen.
Abends kehrten die jungen Leute heim. Sie redeten nicht viel, außer um mitzuteilen, der Augenblick sei
noch nicht gekommen. Nach dem Nachtessen spielte Marcel auf der Gitarre, und sie tranken einen
Anisschnaps. Rambert schien nachzudenken.
Am Mittwoch sagte Marcel beim Heimkommen: «Morgen abend, um Mitternacht. Halt dich bereit.» Von
den zwei Männern, die mit ihnen den Posten besetzten, war der eine pestkrank geworden, und der andere,
der gewöhnlich das Zimmer mit ihm teilte, stand unter Beobachtung. So blieben Marcel und Louis
während zwei oder drei Tagen allein. Im Verlauf der Nacht würden sie die letzten Vorbereitungen
treffen. Arn nächsten Tag werde es möglich sein. Rambert dankte. «Sind Sie froh?» fragte die Alte. Er
bejahte, aber er dachte an etwas anderes.
Am folgenden Tag war der Himmel schwer, die Hitze feucht und erstickend. Die Nachrichten von der
Pest waren schlecht. Die alte Spanierin bewahrte indessen ihre Heiterkeit. «Es gibt so viel Sünde auf der
Welt», sagte sie. «Da ist es nicht verwunderlich!» Wie Marcel und Louis ging auch Rambert mit nacktem
Oberkörper. Aber er konnte tun, was er wollte, der Schweiß rann ihm über Brust und Rücken. Im
Halbdunkel des Hauses erschienen ihre Körper braun und wie lackiert. Rambert bewegte sich wortlos im
Kreise. Um vier Uhr nachmittags zog er sich plötzlich an und verkündete, er gehe aus.
«Paß auf», sagte Marcel, «um Mitternacht. Es ist alles bereit.»
Rambert begab sich zum Arzt nach Hause. Rieux' Mutter sagte ihm, er werde ihn im Spital der oberen
Stadt finden. Vor dem Wachtposten drehte sich die gleiche Menge immer um sich selber.
«Weitergehen!» sagte ein Wachtmeister mit Glotzaugen. Die anderen gingen weiter, aber im Kreis
herum. «Es gibt nichts zu warten», sagte der Wachtmeister, durch dessen Jacke der Schweiß drang. Die
anderen waren derselben Meinung, aber sie blieben dennoch, trotz der mörderischen Hitze. Rambert
zeigte seinen Passierschein, und der Wachtmeister wies ihn zu Tarrous Arbeitszimmer. Die Tür ging auf
den Hof. Er begegnete Pater Paneloux, der eben den Raum verließ.
In einem schmutzigen weißen Zimmerchen, das nach Apotheke und feuchtem Tuch roch, saß Tarrou
hemdsärmelig hinter einem Schreibtisch aus schwarzem Holz und tupfte mit einem Taschentuch den
Schweiß ab, der sich in seinem Armgelenk sammelte.
«Noch da?» fragte er.
«Ja. Ich möchte mit Rieux reden.»
«Er ist im Krankensaal. Aber wenn Sie es ohne ihn machen können, wäre es besser.»
«Warum?»
«Er ist überlastet. Ich nehme ihm ab, was ich kann.»
Rambert schaute Tarrou an. Er war magerer geworden. Die Müdigkeit hatte seine Augen und seine Züge
getrübt. Seine starken Schultern waren vornüber gebeugt. Es klopfte an die Tür, und ein Krankenwärter
mit einer weißen Maske trat ein. Er legte ein Bündel Zettel auf Tarrous Schreibtisch und sagte bloß mit
einer vom Tuch erstickten Stimme: «Sechs», dann ging er wieder. Tarrou blickte den Journalisten an und
zeigte ihm die Zettel, die er fächerförmig ausbreitete.
«Schöne Zettel, nicht wahr? Im Gegenteil, das sind Tote. Die Toten der letzten Nacht.»
In seine Stirn hatten sich Furchen gegraben. Er bündelte die Zettel wieder.
«Das einzige, was uns noch bleibt, ist die Buchführung.» Tarrou erhob sich, und er stützte sich dabei auf
den Tisch. «Gehen Sie bald?»
«Heute um Mitternacht.»
Tarrou sagte, das freue ihn, und Rambert solle auf sich achtgeben.
«Meinen Sie das aufrichtig?»
Tarrou zuckte die Achseln.
«In meinem Alter ist man ganz von selbst aufrichtig. Lügen macht zu müde.»
«Tarrou», sagte der Journalist, «ich möchte den Doktor sehen. Entschuldigen Sie mich.»
«Ich weiß. Er ist menschlicher als ich. Kommen Sie.»
«Es ist nicht das», sagte Rambert mühsam. Und er hielt inne.
Tarrou schaute ihn an und lächelte ihm plötzlich zu.
Sie gingen durch einen kleinen, hellgrün gestrichenen Gang, in dem eine Aquariumsbeleuchtung
herrschte. Gerade bevor sie an eine doppelte Glastür kamen, hinter der sich seltsame Schatten bewegten,
mußte Rambert in ein winziges, ringsum mit Wandschränken versehenes Zimmer eintreten. Tarrou
öffnete einen der Schränke, entnahm einem Sterilisierkessel zwei Gazemasken, reichte Rambert die eine
und forderte ihn auf, sie vorzubinden. Der Journalist fragte, ob das etwas nütze; Tarrou verneinte, es
flöße aber den anderen Vertrauen ein.
Sie durchschritten die Glastür. Der Saal war riesengroß, und trotz der Jahreszeit blieben die Fenster dicht
geschlossen. Oben an den Wänden surrten Ventilatoren, die die Luft erneuerten, und ihre krummen
Flügel schlugen die dicke, überhitzte Luft über den zwei Reihen grauer Betten. Überall erhob sich
dumpfes oder schrilles Jammern, das zu einer einzigen, eintönigen Klage wurde. Weißgekleidete Männer
bewegten sich langsam in dem grausamen Licht, das durch die hohen, vergitterten Fenster hereinflutete.
Rambert fühlte sich in der entsetzlichen Hitze dieses Saals unbehaglich und erkannte nur mit Mühe
Rieux, der sich über eine ächzende Masse beugte. Der Arzt schnitt einem Kranken die Leisten auf,
während zwei Schwestern auf beiden Seiten des Bettes den Patienten festhielten. Als Rieux sich wieder
aufrichtete, ließ er seine Instrumente in das Becken fallen, das ein Assistent ihm hinstreckte, und blieb
einen Augenblick unbeweglich stehen, um den Mann zu betrachten, der nun verbunden wurde.
«Was gibt es Neues?» fragte er Tarrou, der näher trat.
«Paneloux ist damit einverstanden, Rambert im Quarantänehaus zu ersetzen. Er hat schon viel geleistet.
Nun müssen wir noch die dritte Fahndungsgruppe ohne Rambert neu zusammenstellen.»
Rieux nickte.
«Castel ist mit seinem ersten Impfstoff fertig. Er schlägt einen Versuch vor.»
«Oh!» sagte Rieux. «Das ist fein.»
«Und schließlich ist Rambert hier.»
Rieux drehte sich um. Er kniff die Augen über der Maske zusammen, als er den Journalisten gewahrte.
«Was tun Sie hier?» fragte er. «Sie sollten jetzt anderswo sein.»
Tarrou erzählte, um Mitternacht sei es soweit, und Rambert fügte hinzu: «Grundsätzlich.»
Jedesmal, wenn einer von ihnen sprach, bauschte sich die Gazemaske und wurde um den Mund herum
feucht. Das verlieh der Unterhaltung die Unwirklichkeit eines Gesprächs zwischen Statuen.
«Ich möchte mit Ihnen reden», sagte Rambert.
«Wenn es Ihnen gleich ist, werden wir zusammen weggehen. Warten Sie in Tarrous Büro auf mich.»
Einen Augenblick später machten Rambert und Rieux es sich im Wagen des Arztes bequem. Tarrou
steuerte.
«Kein Benzin mehr», sagte er beim Losfahren. «Morgen werden wir zu Fuß gehen.»
«Herr Doktor», sagte Rambert, «ich gehe nicht weg, ich will bei Ihnen bleiben.»
Tarrou rührte sich nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Wagen. Rieux schien unfähig, sich aus
seiner Müdigkeit aufzurütteln.
«Und Ihre Frau?» fragte er tonlos.
Rambert erklärte, er habe weiter nachgedacht, er glaube auch fernerhin, was er geglaubt habe, aber wenn
er fortginge, müßte er sich schämen. Und das würde ihn in seiner Liebe zu der Wartenden stören. Aber
Rieux richtete sich auf und sagte mit fester Stimme, das sei Blödsinn, man brauche sich nicht zu
schämen, wenn man das Glück vorziehe.
«Ja», sagte Rambert, «aber man kann sich schämen, allein glücklich zusein.»
Tarrou, der bis dahin geschwiegen hatte, bemerkte nun ohne den Kopf zu drehen, daß Rambert nie mehr
Zeit für das Glück haben werde, wenn er das Unglück der Menschen teilen wolle. Er müsse wählen.
«Darum geht es nicht», sagte Rambert. «Ich habe immer gedacht, ich sei fremd in dieser Stadt und habe
nichts zu tun mit euch. Aber jetzt, nachdem ich das alles gesehen habe, weiß ich, daß ich hierher gehöre,
ob ich es will oder nicht. Diese Geschichte geht uns alle an.»
Niemand antwortete, und Rambert schien die Geduld zu verlieren.
«Übrigens wissen Sie das ganz genau! Was hätten Sie sonst in diesem Spital zu tun? Haben Sie denn
gewählt und aufs Glück verzichtet?»
Tarrou und Rieux antworteten noch immer nichts. Das Schweigen dauerte, bis sie sich dem Haus des
Arztes näherten. Und Rambert stellte seine letzte Frage noch einmal, noch eindrücklicher. Und einzig
Rieux wandte sich ihm zu. Er richtete sich mühsam auf: «Verzeihen Sie mir, Rambert», sagte er, «aber
ich weiß es nicht. Bleiben Sie bei uns, da Sie es nun einmal so haben wollen.»
Ein plötzliches Ausweichen des Autos brachte ihn zum Verstummen. Dann fuhr er fort und schaute vor
sich hin: «Nichts auf der Welt ist es wert, daß man sich von dem abwendet, was man liebt. Und doch
wende auch ich mich davon ab, ohne zu wissen, warum.»
Er ließ sich in das Polster zurückfallen.
«Es ist eben so, das ist alles», sagte er müde. «Verzeichnen wir es und ziehen wir die Konsequenzen.»
«Was für Konsequenzen?» fragte Rambert.
«Ach», sagte Rieux, «man kann nicht gleichzeitig heilen und wissen. Also wollen wir so schnell wie
möglich heilen. Das ist das Dringendste.»
Um Mitternacht, während Tarrou und Rieux Rambert einen Plan des Viertels bereit machten, das er zu
betreuen hatte, schaute Tarrou auf die Uhr. Als er den Kopf hob, begegnete er Ramberts Blick.
«Haben Sie Nachricht gegeben?»
Der Journalist wandte die Augen ab.
«Ich hatte ihnen eine Zeile geschrieben, bevor ich zu Ihnen kam», sagte er mühsam.
In den letzten Oktobertagen wurde Castels Serum ausprobiert. Es war eigentlich Rieux' letzte Hoffnung.
Der Arzt war überzeugt, daß im Falle eines Mißerfolgs die Stadt den Launen der Krankheit ausgeliefert
würde; sei es, daß die Seuche noch während langer Monate fortwütete, sei es, daß sie grundlos aufhörte.
Am Vorabend des Tages, da Castel Rieux aufsuchte, war Herrn Othons Sohn krank geworden, und die
ganze Familie hatte sich in Quarantäne begeben müssen. Die Mutter, die eben erst entlassen worden war,
wurde also zum zweitenmal abgesondert. Sobald der Richter auf dem Körper des Kindes die
Krankheitsmale entdeckte, hatte er vorschriftsgemäß Dr. Rieux holen lassen. Als Rieux hinkam, standen
Vater und Mutter zu Füßen des Bettes. Das kleine Mädchen war fortgeschickt worden. Der Junge befand
sich in der Periode der Erschlaffung und ließ sich klaglos untersuchen. Als der Doktor den Kopf hob,
begegnete er dem Blick des Richters und hinter ihm dem bleichen Gesicht der Mutter, die ein
Taschentuch vor den Mund gedrückt hielt und den Bewegungen des Arztes mit weit geöffneten Augen
folgte.
«Nicht wahr, es ist die Pest?» fragte der Richter kalt.
«Ja», antwortete Rieux und betrachtete wieder das Kind. Die Augen der Mutter wurden noch größer, aber
sie sagte noch immer nichts. Auch der Richter schwieg; dann sagte er leise: «Also, Herr Doktor, wir
müssen tun, was vorgeschrieben ist.»
Rieux vermied es, die Mutter anzusehen, die noch immer das Taschentuch auf den Mund preßte.
«Das ist schnell erledigt, wenn ich telefonieren darf», sagte er zögernd.
Herr Othon sagte, er werde ihm den Weg zeigen. Aber der Arzt wandte sich der Frau zu: «Es tut mir
entsetzlich leid. Sie sollten ein paar Sachen bereitlegen. Sie kennen das ja.»
Frau Othon schien die Sprache verloren zu haben. Sie schaute zu Boden.
«Ja», sagte sie kopfnickend, «das werde ich tun.»
Bevor Rieux ging, konnte er sich nicht enthalten zu fragen, ob sie etwas brauchten. Die Frau blickte ihn
nur schweigend an. Aber diesmal wandte der Richter die Augen ab.
«Nein», sagte er und schluckte, «aber retten Sie mein Kind.»
Die Quarantäne war anfänglich nur eine Formsache gewesen; Rieux und Rambert hatten sie jedoch sehr
streng organisiert. So hatten sie zum Beispiel ausdrücklich verlangt, daß die Mitglieder einer Familie
immer voneinander getrennt würden. Wenn ein Familienangehöriger ohne sein Wissen angesteckt
worden war, durfte man die Aussichten der Krankheit nicht vergrößern. Rieux setzte dem Richter diese
Gründe auseinander, und er billigte sie. Indessen schauten seine Frau und er sich auf eine Art an, die den
Arzt fühlen ließ, wie sehr diese Trennung sie aus der Fassung brachte. Frau Othon konnte mit ihrem
Töchterchen in dem Quaratänehotel wohnen, dem Rambert vorstand. Aber für den Untersuchungsrichter
war kein Platz mehr, außer im Absonderungslager, das die Präfektur eben auf dem städtischen Sportplatz
eingerichtet hatte; die nötigen Zelte wurden vom Straßenbauamt geliehen. Rieux entschuldigte sich, aber
Herr Othon sagte, es gebe für alle nur eine Regel, und es sei nur recht und billig, ihr zu gehorchen.
Das Kind wurde ins Hilfsspital gebracht; in einem ehemaligen Klassenzimmer standen nun sechs Betten.
Nach etwa zwanzig Stunden betrachtete Rieux den Fall als hoffnungslos. Der kleine Körper ließ sich
wehrlos vom Gift verzehren. Ganz kleine, schmerzhafte, aber kaum ausgebildete Beulen versperrten die
Gelenke seiner zarten Glieder. Er war im voraus besiegt. Darum kam Rieux auf den Gedanken, Castels
Serum an ihm auszuprobieren. An demselben Abend noch nahmen sie nach dem Nachtessen die lange
Einimpfung vor, ohne daß das Kind ein einziges Mal reagierte. Am anderen Morgen begaben sich alle
schon in der Morgendämmerung ans Bett des kleinen Jungen, um sich vom Ausgang dieses
entscheidenden Versuchs zu überzeugen.
Das Kind war aus seiner Erschlaffung erwacht und wälzte sich zuk-kend in den Bettüchern. Dr. Castel
und Tarrou wachten seit vier Uhr morgens bei ihm und verfolgten Schritt für Schritt das Umsichgreifen
oder Innehalten der Krankheit. Am Kopfende des Bettes befand sich Tarrous massige, etwas gebeugte
Gestalt. Am Fußende saß Castel neben dem stehenden Rieux und las mit allen Anzeichen der Ruhe in
einem alten Werk. Während allmählich der Tag sich im ehemaligen Schulzimmer verbreitete, kamen
nach und nach auch die anderen. Zuerst Paneloux, der sich Tarrou gegenüber auf der anderen Seite des
Bettes an die Wand lehnte. Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und seine hochrote Stirn
war gezeichnet von der Müdigkeit all der Tage, da er sich schonungslos eingesetzt hatte. Dann erschien
Joseph Grand. Es war sieben Uhr, und der Angestellte entschuldigte sich, daß er außer Atem sei. Er
könne nur einen Augenblick bleiben, ob man vielleicht schon etwas Bestimmtes wisse. Wortlos zeigte
Rieux ihm das Kind, das mit geschlossenen Augen, einem entstellten Gesicht, mit aufs äußerste
zusammengebissenen Zähnen unbeweglich dalag und nur auf dem Kissen, von dem das Bettuch
herabgeglitten war, unaufhörlich den Kopf von rechts nach links und von links nach rechts drehte. Als es
endlich so hell war, daß im Hintergrund des Zimmers auf der dort verbliebenen Wandtafel Spuren alter
Gleichungsformeln zu erkennen waren, traf Rambert ein. Er lehnte sich an das Fußende des nächsten
Bettes und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Aber nach einem Blick auf das Kind steckte er es wieder
in seine Tasche.
Der immer noch sitzende Castel schaute Rieux über seine Brille hinweg an.
«Haben Sie Nachricht vom Vater?» «Nein», sagte Rieux. «Er ist im Absonderungslager.» Der Arzt
umklammerte mit aller Kraft die Querstange des Bettes, in dem das Kind stöhnte. Er wandte keinen Blick
von dem kleinen Kranken; der wurde plötzlich steif, biß wieder die Zähne aufeinander und bog sich
leicht in der Hüfte, während er langsam Arme und Beine ausbreitete. Von dem kleinen Körper, der nackt
unter der Militärdecke lag, stieg ein Geruch nach Wolle und saurem Schweiß auf. Das Kind entspannte
sich ein wenig, zog Arme und Beine wieder zurück und schien schneller zu atmen, blieb aber immer
noch blind und stumm. Rieux begegnete Tarrous Blick, der die Augen abwandte.
Da die Seuche seit Monaten wütete und ihre Opfer nicht auswählte, hatten sie schon viele Kinder sterben
sehen, aber noch nie Minute auf Minute ihr Leiden verfolgt, wie sie es jetzt seit dem Morgen taten. Und
nie war ihnen der Schmerz, den diese Unschuldigen erdulden mußten, als etwas anderes erschienen, als
was er in Wahrheit war, nämlich eine empörende Schmach. Aber bisher hatten sie sich gewissermaßen
nur abstrakt empört, weil sie noch nie so lange dem Todeskampf eines Unschuldigen unmittelbar
zugeschaut hatten.
Eben zog sich das Kind mit einem Stöhnen wieder zusammen, als wäre es in den Magen gebissen
worden. Während langer Sekunden blieb es so gekrümmt, von Schauern und krampfartigem Zittern
geschüttelt, als würde sein zarter Leib von dem wütenden Pestwind geknickt und unter dem feurigen
Atem des Fiebers zerbrochen. Wenn der Sturm vorüber war, entspannte es sich ein wenig, das Fieber
schien sich zurückzuziehen und es schwer atmend auf einem feuchten und vergifteten Ufer liegen zu
lassen, wo die Ruhe schon dem Tode glich. Als die glühende Flut das Kind zum drittenmal erreichte und
es ein wenig emporhob, kauerte es sich zusammen, kroch voll Entsetzen vor der sengenden Flamme
tiefer ins Bett, bewegte den Kopf wie irrsinnig und warf die Decke von sich. Dicke Tränen drangen unter
den entzündeten Lidern hervor und rollten über das bleifarbene Gesicht; als der Anfall vorüber war,
nahm das erschöpfte Kind mit seinen verkrampften, knochigen Armen und Beinen, die in 48 Stunden
völlig abgemagert waren, im zerwühlten Bett die groteske Stellung eines Gekreuzigten ein. Tarrou
beugte sich vor und trocknete mit seiner schweren Hand das von Tränen und Schweiß nasse Gesichtchen.
Seit einer Weile hatte Castel zu lesen aufgehört und betrachtete den Kranken. Er begann einen Satz,
mußte jedoch husten, um ihn beenden zu können, denn seine Stimme brach sich rauh: «Die morgendliche
Besserung ist nicht eingetreten, nicht wahr, Rieux?»
Rieux verneinte, jedoch halte es das Kind schon länger aus als die anderen. Da sagte Paneloux, der ein
wenig zusammengesunken an der Wand lehnte, tonlos: «Wenn er sterben muß, wird er länger gelitten
haben.»
Rieux drehte sich jäh zu ihm um und öffnete den Mund zum Sprechen, aber er schwieg, rang sichtlich
nach Selbstbeherrschung und schaute wieder das Kind an.
Das Licht im Saal wurde heller. In den übrigen fünf Betten ächzten und bewegten sich Gestalten, aber
mit einer Zurückhaltung, die verabredet schien. Nur am anderen Ende des Zimmers jammerte einer und
stieß in regelmäßigen Abständen kleine Schreie aus, die mehr Erstaunen als Schmerz auszudrücken
schienen. Es war, als empfänden die Kranken nicht mehr das Entsetzen des Anfangs. In ihrer Art, die
Krankheit auf sich zu nehmen, verriet sich sogar eine gewisse Zustimmung. Einzig das Kind kämpfte mit
aller Kraft. Rieux fühlte ihm von Zeit zu Zeit den Puls, ohne Notwendigkeit übrigens und mehr um seine
ohnmächtige Unbeweglichkeit abzuschütteln. Wenn er dann die Augen schloß, fühlte er, wie diese
Erregung mit dem Aufruhr seines eigenen Blutes verschmolz. Dann vereinigte er sich mit dem
gemarterten Kind und versuchte, es mit seiner ganzen noch unangetasteten Kraft zu unterstützen. Aber
nach einer Minute des Einsseins entzweiten sich die Pulsschläge ihrer beiden Herzen, das Kind entglitt
ihm, und seine Anstrengung versank im Leeren. Dann ließ er das schmale Handgelenk los und kehrte an
seinen Platz zurück.
An den weißgetünchten Wänden wurde das rosa Licht langsam gelb. Hinter den Scheiben begann ein
heißer Morgen zu knistern. Kaum hörte man Grand fortgehen und sagen, er werde wiederkommen. Alle
warteten. Das Kind hielt die Augen noch immer geschlossen und schien sich ein wenig zu beruhigen. Die
Hände, die wie Krallen geworden waren, wühlten leise in den Bettseiten. Sie stiegen höher, kratzten in
der Kniegegend auf der Decke, und plötzlich bog das Kind die Beine, zog die Schenkel an den Bauch
und verharrte unbeweglich. Dann öffnete es zum erstenmal die Augen und schaute Rieux an, der vor ihm
stand. In seinem nun aus dem grauen Lehm geformten Gesicht öffnete sich der Mund, und fast
gleichzeitig entrang sich ihm ein einziger, von der Atmung kaum veränderter, ununterbrochener Schrei,
der mit einem Schlag den Saal mit einem eintönigen, schrillen Protest erfüllte, der so wenig menschlich
war, daß er von allen Menschen zugleich zu kommen schien. Rieux biß die Zähne zusammen, und
Tarrou wandte sich ab. Castel klappte das Buch zu, das noch aufgeschlagen auf seinen Knien lag.
Rambert trat neben ihn ans Bett. Paneloux schaute diesen von der Krankheit beschmutzten, vom Schrei
aller Zeiten erfüllten Kindermund an. Und er ließ sich auf die Knie gleiten, und alle fanden es natürlich,
als sie ihn mit etwas erstickter, aber trotz der namenlosen unaufhörlichen Klage deutlicher Stimme sagen
hörten: «Mein Gott, rette dieses Kind!»
Aber das Kind schrie weiter, und ringsum wurden die Kranken unruhig. Der Patient am anderen Ende,
dessen Rufe nicht aufgehört hatten, beschleunigte den Rhythmus seines Klagens, bis auch dies ein
richtiger Schrei war, während die anderen immer lauter jammerten. Eine Flut von Schluchzen
überschwemmte den Saal und übertönte Paneloux' Gebet, und Rieux, der sich an der Bettstange festhielt,
schloß die Augen: ihm war übel vor Müdigkeit und Ekel.
Als er sie wieder öffnete, stand Tarrou neben ihm.
«Ich muß fort», sagte Rieux. «Ich kann es nicht mehr ertragen.»
Aber plötzlich verstummten die übrigen Kranken. Da merkte der Arzt, daß der Schrei des Kindes
schwächer geworden war, daß er immer weiter abnahm und nun aufhörte. Ringsum fing das Klagen
wieder an, aber gedämpft und wie ein fernes Echo auf den Kampf, der vollendet war. Denn er war
vollendet. Castel war auf die andere Seite des Bettes getreten und sagte, es sei zu Ende. Mit offenem,
aber stummem Mund ruhte das Kind inmitten der durcheinandergeworfenen Decken; es war plötzlich
klein geworden, und auf seinem Gesicht waren noch die Spuren der Tränen zu sehen.
Paneloux näherte sich dem Bett und machte die Gebärde des Segnens. Dann raffte er seine Soutane
zusammen und verließ den Saal durch den Mittelgang.
«Muß man ganz von vorne anfangen?» fragte Tarrou Castel.
Der alte Arzt schüttelte den Kopf.
«Vielleicht», sagte er mit einem verzerrten Lächeln. «Schließlich hat er sich lange gewehrt.»
Aber Rieux stürmte schon hinaus. Sein Schritt war so überstürzt, sein Ausdruck so grimmig, daß
Paneloux den Arm ausstreckte, um ihn zurückzuhalten, als er an ihm vorübereilte.
«Aber Herr Doktor», sagte er zu ihm.
Mit derselben ungestümen Bewegung drehte Rieux sich um und warf heftig hin: «Ah! Der wenigstens
war unschuldig, das wissen Sie wohl!»
Dann wandte er sich ab, trat vor Paneloux durch die Tür und ging bis ans Ende des Schulhofs. Dort setzte
er sich zwischen den kleinen, staubbedeckten Bäumen auf eine Bank und wischte sich den Schweiß ab,
der ihm in die Augen lief. Er hätte weiterschreien mögen, um endlich den unerbittlichen Knoten zu lösen,
der ihm das Herz zusammenschnürte. Die Hitze fiel langsam zwischen den Zweigen der Feigenbäume
herab. Der blasse Morgenhimmel bedeckte sich rasch mit einem weißlichen Schimmer, der die Luft
drückend machte. Rieux saß auf seiner Bank und überließ sich seiner Ermattung. Er betrachtete die
Zweige, den Himmel, kam langsam zu Atem und schluckte allmählich seine Müdigkeit wieder herunter.
«Warum haben Sie so zornig mit mir gesprochen?» fragte eine Stimme hinter ihm. «Auch ich fand
diesen Anblick unerträglich.»
Rieux wandte sich Paneloux zu.
«Sie haben recht», sagte er. «Verzeihen Sie mir. Aber die Übermüdung ist eine Art Wahnsinn. Und es
gibt Zeiten in dieser Stadt, da ich nur mehr meine Empörung spüre.»
«Ich verstehe», murmelte Paneloux. «Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht
sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können.»
Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war,
schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf.
«Nein, Pater», sagte er. «Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den
Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.»
Ein bestürzter Schatten huschte über Paneloux' Gesicht.
«Ach, Herr Doktor», sagte er traurig, «eben habe ich erkannt, was Gnade heißt.»
Aber Rieux war von neuem auf seiner Bank zusammengesunken. Seine Müdigkeit war zurückgekehrt
und ließ ihn sanfter antworten.
«Die habe ich nicht, ich weiß. Aber ich will nicht mit Ihnen darüber streiten. Wir arbeiten miteinander
für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet vereint. Das allein ist wichtig.»
Paneloux setzte sich neben Rieux. Er schien bewegt.
«Ja», sagte er, «ja, auch Sie arbeiten für das Heil der Menschen.»
Rieux versuchte zu lächeln.
«Das Heil der Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich geht ihre
Gesundheit an, zuallererst ihre Gesundheit.»
Paneloux zögerte. «Herr Doktor», sagte er.
Aber er hielt inne. Auch auf seiner Stirn fing der Schweiß an zu perlen. Er murmelte: «Auf
Wiedersehen», und seine Augen glänzten, als er sich erhob. Er war im Weggehen, als Rieux, der aus
seinem Nachsinnen erwachte, ebenfalls aufstand und einen Schritt auf ihn zuging.
«Noch einmal, verzeihen Sie mir», sagte er. «Ein solcher Ausbruch wird sich nicht wiederholen.»
Paneloux streckte die Hand aus und sagte traurig: «Und doch habe ich Sie nicht überzeugt!»
«Was tut das schon?» fragte Rieux. «Was ich hasse sind der Tod und das Böse, das wissen Sie ja. Und ob
Sie es wollen oder nicht, wir stehen zusammen, um beides zu erleiden und zu bekämpfen.»
Rieux hielt Paneloux' Hand fest.
«Sehen Sie», sagte er und vermied es, ihn anzuschauen, «jetzt kann Gott selber uns nicht scheiden.»
Seit Paneloux in die Sanitätsgruppen eingetreten war, hatte er die Spitäler und die anderen Orte, wo die
Pest herrschte, nicht mehr verlassen. Er hatte unter den Rettern die Stelle eingenommen, die er für die
seine hielt, nämlich die erste. An Bildern des Todes hatte es ihm nicht gefehlt. Und obgleich ihn das
Serum grundsätzlich schützte, war ihm auch die Sorge um sein eigenes Leben nicht fremd geblieben.
Nach außen hatte er seine Ruhe immer bewahrt. Aber seit dem Tag, da er lange dem Sterben eines
Kindes zugeschaut hatte, schien er verändert. In seinen Zügen drückte sich eine wachsende Spannung
aus. Und als er Rieux eines Tages lächelnd erklärte, er bereite gegenwärtig eine kurze Abhandlung vor
über das Thema: «Kann ein Priester einen Arzt zu Rate ziehen?» hatte der Doktor den Eindruck, es
handle sich um etwas viel Ernsteres, als Paneloux zugeben wollte. Da der Arzt den Wunsch äußerte, in
diese Arbeit Einsicht nehmen zu dürfen, teilte Paneloux ihm mit, daß er in der Männermesse predigen
werde und bei dieser Gelegenheit einige seiner Ansichten darlegen wolle.
«Ich möchte, daß Sie auch kommen, Herr Doktor. Das Thema wird Sie interessieren.»
Der Pater hielt seine zweite Predigt an einem stürmischen Tag. Um die Wahrheit zu sagen, waren die
Reihen der Zuhörer lichter als bei der ersten Predigt. Denn diese Art Schauspiel hatte für unsere
Mitbürger den Reiz der Neuheit verloren. Unter den schwierigen Verhältnissen, in denen die Stadt lebte,
hatte selbst das Wort «Neuheit» seinen Sinn verloren. Im übrigen hatten die meisten Leute, wenn sie ihre
religiösen Pflichten nicht völlig vernachlässigten oder mit einem äußerst unmoralischen Lebenswandel
verbanden, die gewöhnlichen Glaubensübungen durch ziemlich vernunftwidrigen Aberglauben ersetzt.
Sie trugen lieber einen Talisman oder Amulette des heiligen Rochus, als daß sie zur Messe gingen.
Als Beispiel kann auch der übermäßige Gebrauch angeführt werden, den unsere Mitbürger von
Prophezeiungen machten. Im Frühling hatten sie noch von einem Augenblick zum andern das Ende der
Krankheit erwartet, und es war niemandem eingefallen, andere Leute um genaue Voraussagen über die
Dauer der Epidemie zu bitten, weil jedermann sich einredete, daß sie keine haben werde. Aber als Tag
um Tag verging, begann man zu fürchten, das Unheil werde überhaupt kein Ende nehmen, und mit einem
Schlag wurde das Aufhören der Seuche zum Gegenstand aller Hoffnungen. So machten unter der Hand
verschiedene Prophezeiungen die Runde, die Magiern zugeschrieben wurden oder Heiligen der
katholischen Kirche. Drucker der Stadt erfaßten sehr schnell den Vorteil, den sie aus dieser blinden
Voreingenommenheit schlagen konnten, und verbreiteten die umlaufenden Texte in großer Zahl. Bald
merkten sie, daß die Neugier der Leute unersättlich war und ließen in den städtischen Bibliotheken alle
im Kleinkram der Geschichte überlieferten Zeugnisse dieser Art ausgraben, um sie dann in der Stadt zu
verkaufen. Als sogar die Geschichte keine Prophezeiungen mehr zu bieten vermochte, bestellte man sie
bei den Journalisten, die sich wenigstens in diesem Punkt ihren Vorbildern vergangener Jahrhunderte als
ebenbürtig erwiesen.
Einzelne dieser Prophezeiungen erschienen sogar als Feuilleton in den Zeitungen und wurden ebenso
gierig verschlungen wie die Liebesgeschichten, die zur Zeit der Gesundheit an dieser Stelle zu lesen
waren. Einige dieser Voraussagen stützten sich auf absonderliche Rechnungen, in denen die Jahreszahl,
die Anzahl der Toten und der bereits vergangenen Pestmonate eine Rolle spielten. Wieder andere stellten
Vergleiche mit den großen Pestseuchen der Geschichte auf, schälten die Ähnlichkeiten heraus (die die
Prophezeiungen als Konstanten bezeichneten) und behaupteten an Hand nicht weniger absonderlicher
Berechnungen, daraus Lehren für die gegenwärtige Prüfung ziehen zu können. Am meisten liebte das
Publikum jedoch jene Voraussagen, die in apokalyptischer Sprache eine Reihe von Ereignissen
ankündigten, deren jedes einzelne auf die gegenwärtige Lage der Stadt angewendet werden konnte und
deren Vieldeutigkeit alle Auslegungen zuließ. So wurden No-stradamus und die heilige Ottilie täglich zu
Rate gezogen, und immer mit Erfolg. Alle Prophezeiungen hatten übrigens das eine gemeinsam, daß sie
letzten Endes beruhigend waren. Nur die Pest war es nicht.
So diente dieser Aberglaube unseren Mitbürgern als Religion, und das war der Grund, weshalb Paneloux
vor einer nur zu drei Vierteln gefüllten Kirche predigte. Als Rieux am Abend der Predigt eintraf, drang
der Wind in kleinen Stößen durch die angelehnten Türflügel und wehte ungehindert durch die Reihen der
Zuhörer. Und der Arzt nahm in einer eiskalten, schweigenden Kirche, inmitten einer Zuhörerschaft Platz,
die ausschließlich aus Männern zusammengesetzt war. Dann sah er den Pater die Kanzel besteigen. Er
sprach in sanfterem, überlegterem Ton als das erste Mal, und die Zuhörer bemerkten mehrmals ein
gewisses Zögern in seinen Worten. Seltsam war auch, daß er nicht mehr «ihr» sagte, sondern «wir».
Seine Stimme wurde indessen allmählich fester. Zunächst erinnerte er daran, daß die Pest seit langen
Monaten unter uns war und daß wir jetzt vielleicht besser aufnehmen könnten, was sie uns ohne Unterlaß
sagte und was wir in der ersten Überraschung vielleicht nicht richtig angehört hatten. Denn jetzt kannten
wir sie besser, nachdem wir so manches Mal gesehen hatten, wie sie sich an unserem Tisch oder am
Lager derer, die wir liebten, niederließ; wie sie neben uns einherging und an unserer Arbeitsstätte auf
unser Kommen wartete. Was Pater Paneloux schon an der gleichen Stelle gepredigt hatte, blieb wahr -
dies war zumindest seine Überzeugung. Aber vielleicht hatte er es ohne Nächstenliebe gedacht und
gesagt, wie das uns allen widerfuhr, und damit meinte er auch sich. Wahr blieb jedoch, daß es in allen
Dingen immer etwas zu lernen gab. Auch die grausamste Prüfung war für den Christen noch Gewinn.
Und das war es gerade, was der Christ suchen mußte, seinen Gewinn, und worin der Gewinn bestand und
wie er zu finden war.
In diesem Augenblick schienen die Leute um Rieux sich zwischen den Armlehnen ihrer Sitze
zurechtzurücken, um eine möglichst behagliche Stellung einzunehmen. Eine der gepolsterten
Eingangstüren schlug leise. Jemand erhob sich, um sie zu befestigen. Und von dieser Bewegung
abgelenkt, hörte Rieux kaum die Fortsetzung der Predigt. Paneloux sagte ungefähr, es dürfe nicht
versucht werden, das Schauspiel der Pest zu erklären, sondern man müsse sich bemühen, zu lernen, was
aus ihr zu lernen sei. Rieux erfaßte verworren, daß es nach des Paters Ansicht gar nichts zu erklären gab.
Sein Interesse wurde wieder wach, als er hörte, wie Paneloux mit Entschiedenheit sagte, es gebe Dinge,
die man im Angesicht Gottes erklären könne, und andere, die unerklärlich blieben. Gewiß gab es Gut und
Böse, und im allgemeinen konnte man auch leicht verstehen, was sie trennte. Aber die Schwierigkeit
begann innerhalb des Bösen. So gab es zum Beispiel das scheinbar notwendige und das scheinbar
unnütze Übel. Es gab den in die Hölle gestürzten Don Juan und den Tod eines Kindes. Denn während es
gerecht ist, daß der Wüstling niedergeschmettert wird, versteht man das Leiden des Kindes nicht. Und es
gab in Wahrheit nichts Wichtigeres auf Erden als das Leiden eines Kindes und das Grauen, das dies
Leiden mit sich bringt, und die Gründe, die man dafür finden muß. Im übrigen Leben erleichterte Gott
uns alles, und bis dahin war die Religion ohne Verdienst. Hier drückte er uns im Gegenteil an die Wand.
So standen wir am Fuß des Gemäuers der Pest, in deren todbringendem Schatten wir unseren Gewinn
finden mußten. Pater Paneloux weigerte sich sogar, sich selbst Erleichterungen und Vorteile zu
gewähren, die ihm das Erklettern der Mauer gestattet hätten. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, zu
sagen, daß die Ewigkeit himmlischer Freuden, die das Kind erwartete, sein Leiden aufwiegen konnte;
aber in Wahrheit wußte er nichts darüber. Denn wer konnte schon behaupten, daß eine ewig dauernde
Freude einen Augenblick menschlichen Schmerzes aufwog? Jedenfalls kein Christ, dessen Schmerz der
Meister in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden hat. Nein, der Pater würde am Fuße der Mauer
bleiben, jener Zerrissenheit getreu, deren Sinnbild das Kreuz ist, Auge in Auge mit dem Leiden eines
Kindes. Und er würde denen, die ihn an diesem Tag anhörten, furchtlos sagen: «Meine Brüder, der
Augenblick ist gekommen. Es gilt, alles zu glauben oder alles zu leugnen. Und wer unter euch wagte,
alles zu leugnen?»
Rieux hatte kaum Zeit zu denken, daß die Worte des Paters an Ketzerei grenzten, als dieser schon mit
Kraft fortfuhr, um zu erklären, dieser ausdrückliche Befehl, diese reine Forderung sei der Gewinn des
Christen. Und auch seine Tugend. Der Pater wußte, daß das Übermäßige der Tugend, von der er jetzt
sprechen wollte, viele Geister verletzen werde, die eine nachsichtigere und klassischere Moral gewöhnt
waren. Aber die Religion der Pestzeit konnte nicht die Religion aller Tage sein, und wenn Gott zulassen
und sogar wünschen konnte, daß die Seele sich in den Zeiten des Glücks ausruhe und erfreue, so wollte
er sie übermäßig im Übermaß des Unglücks. Gott erwies seinen Geschöpfen heute die Gnade, sie in ein
solches Unglück zu stürzen, daß sie die höchste Tugend wiederfinden und auf sich nehmen mußten, die
die Forderung des Alles oder Nichts war.
Ein paar Jahrhunderte früher hatte ein profaner Schriftsteller behauptet, das Geheimnis der Kirche zu
lüften, indem er versicherte, daß es kein Fegefeuer gebe. Er meinte damit, daß es keine halben
Maßnahmen gebe, sondern nur das Paradies und die Hölle, und daß man nur gerettet oder verdammt sein
konnte, je nachdem, was man gewählt hatte. Wenn man Paneloux glauben wollte, war das eine Ketzerei,
wie sie nur in der Seele eines Freigeistes entstehen konnte. Denn es gab ein Fegefeuer. Aber es gab ohne
Zweifel Zeiten, in denen man dies Fegefeuer nicht allzu sehr erhoffen durfte; es gab Zeiten, in denen
man nicht von verzeihlichen Sünden sprechen konnte. Jede Sünde war eine Todsünde und jede
Gleichgültigkeit verbrecherisch. Es war alles oder es war nichts.
Paneloux hielt inne, und Rieux hörte jetzt den Wind, dessen Wucht sich zu verdoppeln schien, deutlicher
durch die Ritzen der Türen pfeifen. Der Pater sagte in diesem Augenblick, daß die Tugend der völligen
Annahme, von der er sprach, nicht in dem beschränkten Sinne verstanden werden durfte, den man ihr für
gewöhnlich gab, daß es sich nicht um die einfache Ergebung handelte und nicht einmal um die
schwierige Demut. Es handelte sich um Erniedrigung, aber um eine Erniedrigung, in die der Erniedrigte
einwilligte. Gewiß, das Leiden eines Kindes war erniedrigend für den Geist wie für das Herz. Aber
deshalb mußte man darin eindringen. Aber - und Paneloux versicherte seinen Zuhörern, daß das, was er
zu sagen habe, nicht leicht zu sagen sei - deshalb mußte man es wollen, weil Gott es wollte. Nur so
werde der Christ sich nichts ersparen und, nachdem jeder Ausweg versperrt sei, bis auf den Grund der
entscheidenden Wahl gehen. Er werde wählen, alles zu glauben, um nicht gezwungen zu sein, alles zu
leugnen. Der Christ werde es verstehen, sich Gottes Willen ganz zu überlassen, selbst wenn er
unverständlich war, so wie die guten Frauen jetzt in den Kirchen beteten: «Lieber Gott, gib ihm die
Beulen», weil sie erfahren hatten, daß sich die bildenden Beulen der natürliche Weg waren, auf dem der
Körper das Gift ausstieß. Keiner durfte sagen: «Dieses verstehe ich, aber jenes ist unannehmbar»; man
mußte sich mitten in das Unannehmbare hineinstürzen, das uns dargeboten wurde, eben damit wir unsere
Wahl träfen. Das Leiden der Kinder war unser bitteres Brot, aber ohne dies Brot würde unsere Seele an
ihrem geistigen Hunger zugrunde gehen.
Hier begann die gedämpfte Bewegung, die im allgemeinen die Pausen von Pater Paneloux begleitete,
deutlich hörbar zu werden, als der Prediger unerwartet und nachdrücklich fortfuhr und gewissermaßen an
Stelle seiner Zuhörer die Frage aufwarf, wie man sich nun eigentlich zu verhalten habe. Er ahnte wohl,
daß man das beängstigende Wort Fatalismus aussprechen werde. Nun denn, er wich auch vor diesem
Ausdruck nicht zurück, wenn man ihm bloß gestattete, das Adjektiv «tätig» hinzuzufügen. Er
wiederholte nochmals, daß man das Beispiel der abessinischen Christen gewiß nicht nachahmen dürfe.
Man durfte nicht einmal daran denken, es jenen verpesteten Persern gleichzutun, die ihre Lumpen auf die
christlichen Sanitätsposten warfen und mit lauter Stimme den Himmel anriefen und beteten, er möge die
Pest gegen jene Ketzer senden, die das von Gott geschickte Übel bekämpfen wollten. Aber andererseits
sollte man sich auch nicht verhalten wie jene Mönche in Kairo, die während der Epidemien des letzten
Jahrhunderts bei der Kommunion die Hostie mit einer Pinzette faßten, um die Berührung der feuchten,
warmen Münder zu vermeiden, in denen die Ansteckung schlummern konnte. Die persischen
Pestkranken und die Mönche sündigten in gleichem Maße. Denn für die ersten zählte das Leiden eines
Kindes nichts, während bei den zweiten im Gegenteil die allzu menschliche Furcht vor dem Schmerz
allmächtig geworden war. In beiden Fällen wurde die eigentliche Frage einfach umgangen. Sie alle
blieben Gottes Stimme gegenüber taub. Aber es gab andere Beispiele, die Paneloux anführen wollte.
Nach den Aussagen des Chronisten der großen Pest von Marseille hatten von den 81 Mönchen des
Klosters De la Mercy nur vier das Fieber überlebt. Und von diesen vier flohen drei. So sprachen die
Chronisten, und ihre Aufgabe war es nicht, mehr zu berichten. Aber als Pater Paneloux das gelesen hatte,
richtete sich sein ganzes Denken auf den einen, der allein geblieben war, trotz 77 Leichen und vor allem
trotz des Beispiels seiner drei Brüder. Und der Pater schlug mit der Faust auf die Kanzelbrüstung und rief
aus: «Meine Brüder, man muß der sein, der bleibt!»
Es ging nicht darum, die Vorsichtsmaßnahmen und die umsichtige, weise Ordnung, die die Gesellschaft
in die Unordnung einer Seuche brachte, abzulehnen. Man sollte auch nicht auf jene Moralisten hören, die
predigten, man müsse sich auf die Knie werfen und alles im Stich lassen. Man mußte nur beginnen, in
der Finsternis vorwärts zu gehen, ein wenig tastend, und versuchen, Gutes zu tun. Im übrigen sollte man
bleiben und sich willig ganz Gott anbefehlen, sogar für den Tod der Kinder, ohne eine persönliche Hilfe
zu suchen.
Hier berichtete Pater Paneloux von der hohen Gestalt des Bischofs Belzunce zur Zeit der Pest von
Marseiile. Er erinnerte daran, daß sich der Bischof gegen Ende der Epidemie mit Lebensmitteln in
seinem Haus einmauern ließ, nachdem er alles unternommen hatte, was er tun mußte, und glaubte, daß es
keine Rettung mehr gebe; daß aber die Einwohner, deren Abgott er war, in einer Umkehrung der
Gefühle, wie man sie im Übermaß des Leidens findet, sich gegen ihn erzürnten, sein Haus mit Toten
umgaben, um ihn anzustecken, und sogar noch Leichen über die Mauern warfen, um ihn desto sicherer
zu verderben. So hatte der Bischof in einer letzten Schwäche geglaubt, er könne sich in der Welt des
Todes absondern, und die Toten fielen ihm vom Himmel auf den Kopf. So war es auch mit uns, die wir
uns überzeugen mußten, daß es in der Pest keine Insel gibt. Nein, es gab keinen Mittelweg. Man mußte
die empörende Schmach zulassen, weil uns nur die Wahl blieb, Gott zu hassen oder zu lieben. Und wer
wagte es, sich für den Haß Gottes zu entscheiden? Endlich erklärte Paneloux, er komme nun zum Schluß
und sagte: «Meine Brüder, die Liebe zu Gott ist eine schwierige Liebe. Sie setzt völlige Selbstaufgabe
und Selbstverleugnung voraus. Aber er allein vermag das Leiden und Sterben der Kinder auszulöschen;
er allein jedenfalls kann es notwendig machen, weil es unmöglich zu verstehen ist und wir es nur wollen
können. Das ist die schwierigste Lehre, die ich mit euch teilen wollte. Das ist der in den Augen der
Menschen grausame, vor Gott jedoch entscheidende Glaube, dem wir uns nähern müssen. Diesem
furchtbaren Bild müssen wir uns angleichen. Auf diesem Höhepunkt wird alles verwischt und
gleichgemacht, und die Wahrheit wird aus der scheinbaren Ungerechtigkeit hervorbrechen. So ruhen seit
Jahrhunderten an der Pest Gestorbene unter den Fliesen im Chor vieler Kirchen Südfrankreichs, und
Priester sprechen über ihren Gräbern, und der Geist, den sie verbreiten, bricht aus der Asche hervor, zu
der doch Kinder auch ihr Teil beigetragen haben.»
Als Rieux hinausging, blies ein heftiger Wind durch die halboffene Tür den Gläubigen gerade ins
Gesicht. Er trug einen Geruch nach Regen und nassen Straßen in die Kirche, an dem sie das Aussehen
der Stadt erraten konnten, noch ehe sie ins Freie traten. Ein alter Priester und ein junger Diakon, die
gerade vor Rieux hinausgingen, hatten Mühe, ihre Kopfbedeckung festzuhalten. Der Ältere ließ sich aber
dadurch nicht in seiner Besprechung der Predigt stören. Er zollte Paneloux' Beredsamkeit Anerkennung,
aber er hielt sich über die Kühnheit auf, die der Pater in seinen Gedanken gezeigt hatte. Er fand, diese
Predigt verrate mehr Beunruhigung als Stärke, und in Paneloux' Alter habe ein Priester nicht das Recht,
unruhig zu sein. Der junge Diakon hielt den Kopf gesenkt, um sich gegen den Wind zu schützen, und
versicherte, er verkehre viel mit dem Pater; er sei über dessen Entwicklung auf dem laufenden, und seine
Abhandlung werde noch viel gewagter sein und das Imprimatur zweifellos nicht erhalten. «Welchen
Gedanken verfolgt er denn?» erkundigte sich der alte Priester.
Sie waren auf dem Platz angekommen; der Wind umheulte sie und verschlug dem Jüngeren das Wort.
Als er sprechen konnte, sagte er nur: «Wenn ein Priester einen Arzt zu Rate zieht, ist das ein
Widerspruch.»
Als Rieux Tarrou die Worte Paneloux' berichtete, sagte dieser, er kenne einen Priester, der während des
Krieges den Glauben verloren habe, als er das Gesicht eines jungen Mannes mit ausgestochenen Augen
erblickte.
«Paneloux hat recht», sagte Tarrou. «Wenn der Unschuld die Augen ausgestochen werden, muß ein
Christ den Glauben verlieren oder darin einwilligen, daß auch ihm die Augen ausgestochen werden.
Paneloux will den Glauben nicht verlieren, er wird bis ans Ende gehen. Das ist es, was er sagen wollte.»
Ob diese Bemerkung Tarrous etwas Licht in die unglücklichen Ereignisse zu bringen vermag, die nun
folgten und in denen Paneloux' Verhalten seiner Umgebung unverständlich erschien? Man möge selber
darüber urteilen.
Wenige Tage nach der Predigt war Paneloux damit beschäftigt, umzuziehen. Die Entwicklung der
Krankheit verursachte damals einen ständigen Wohnungswechsel in der Stadt. Und wie Tarrou sein
Hotel hatte verlassen müssen und bei Rieux untergekommen war, mußte auch der Pater seine Wohnung
aufgeben, die ihm von seinem Orden zugewiesen worden war, und sich bei einer alten Frau, einer
eifrigen, von der Pest noch unversehrten Kirchgängerin, einmieten. Während des Umzugs hatte der
Priester gespürt, wie seine Müdigkeit und seine Beklemmung wuchsen. Und so verlor er die Achtung
seiner Vermieterin. Denn als sie ihm mit großer Wärme die Vorzüge der Prophezeiungen der heiligen
Ottilie lobte, hatte er eine leichte Ungeduld gezeigt, die sicher seiner Erschöpfung zuzuschreiben war.
Später konnte er sich anstrengen, wie er wollte, er brachte es nicht fertig, die alte Dame wenigstens zu
einer wohlwollenden Neutralität zu bewegen. Er hatte einen schlechten Eindruck gemacht. Und jeden
Abend, wenn er sein von gehäkelten Spitzen überschwemmtes Zimmer aufsuchte, mußte er den Rücken
der Hausherrin betrachten, die in der guten Stube saß, während der Tonfall des trockenen «Gute Nacht,
Pater», das sie ihm, ohne sich umzuwenden, hinwarf, in seinen Ohren nachklang. An einem dieser
Abende, als er mit heftigen Kopfschmerzen zu Bett ging, fühlte er an seinen Handgelenken und Schläfen
die Wallung des entfesselten Fiebers, das er seit Tagen in sich trug.
Was folgte wurde nur nachträglich durch die Aussagen seiner Gastgeberin bekannt. Am Morgen war sie
wie gewohnt früh aufgestanden. Verwundert, daß der Pater sein Zimmer nicht verließ, hatte sie sich nach
einiger Zeit und nur sehr zögernd dazu entschlossen, an seine Tür zu klopfen. Sie hatte ihn nach einer
schlaflosen Nacht noch im Bett gefunden. Er litt an Atemnot, und sein Gesicht schien stärker gerötet als
sonst. Nach ihren eigenen Worten hatte sie ihm mit Zuvorkommenheit angeboten, einen Arzt zu holen,
aber ihr Vorschlag war mit einer Heftigkeit abgelehnt worden, die sie bedauerlich fand. Es war ihr nichts
anderes übriggeblieben, als sich zurückzuziehen. Etwas später hatte der Pater geläutet und sie zu
sprechen gewünscht. Er hatte sich wegen seiner schlechten Laune entschuldigt und ihr erklärt, daß es
sich gewiß nicht um die Pest, sondern nur um eine vorübergehende Erschöpfung handeln könne, da er
keines der Symptome aufweise. Die alte Dame hatte ihm mit Würde geantwortet, daß ihr Vorschlag
keiner derartigen Befürchtung entstamme, daß sie nicht ihre eigene Sicherheit im Auge habe, die in
Gottes Hand liege, sondern nur an die Gesundheit des Paters denke, für die sie sich zum Teil
verantwortlich fühle. Aber da er nichts hinzufügte, hatte seine Gastgeberin, wie sie sagte, im Wunsch,
ihre Pflicht ganz zu erfüllen, ihm nochmals vorgeschlagen, ihren Arzt holen zu lassen. Der Pater hatte
von neuem abgelehnt, aber Erklärungen dazu gegeben, die die alte Dame sehr verworren fand. Sie
glaubte nur verstanden zu haben, und gerade dies schien ihr unbegreiflich, daß der Pater sich gegen diese
Untersuchung wehrte, weil sie mit seinen Grundsätzen nicht im Einklang stehe. Sie hatte daraus
geschlossen, daß das Fieber die Gedanken ihres Mieters verwirrte, und sich darauf beschränkt, ihm Tee
zu bringen.
Weiterhin entschlossen, den Verpflichtungen, die die Lage ihr auferlegte, ganz genau nachzukommen,
hatte sie regelmäßig alle zwei Stunden nach dem Kranken geschaut. Am meisten war ihr die ständige
Erregung aufgefallen, in der der Pater den Tag verbracht hatte. Er warf die Bettücher zurück und zog sie
wieder an sich, strich unablässig mit den Händen über seine feuchte Stirn, richtete sich häufig auf und
versuchte, sich einen rauhen und feuchtbelegten Husten abzuringen. Es war dann, als suche er vergeblich
aus der Tiefe seiner Kehle Wattebäusche herauszureißen, die ihn erstickten. Wenn die Anfälle vorüber
waren, ließ er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung zurückfallen. Schließlich richtete er sich für einen
kurzen Augenblick wieder auf und blickte mit einer Starrheit vor sich hin, die noch heftiger war als die
ganze vorangegangene Erregung. Aber die alte Dame zögerte noch immer, einen Arzt herbeizurufen und
so die Wünsche ihres Kranken zu mißachten. Es konnte ein gewöhnlicher Fieberanfall sein, so
außergewöhnlich er auch erscheinen mochte.
Im Laufe des Nachmittags versuchte sie indessen, mit dem Priester zu sprechen, und erhielt nur ein
unverständliches Gemurmel zur Antwort. Sie erneuerte ihren Vorschlag. Aber da richtete der Pater sich
auf und, obwohl er fast erstickte, antwortete deutlich, er wolle keinen Arzt. So entschloß sich die
Hausherrin, bis zum nächsten Morgen zu warten und dann, falls der Zustand des Paters nicht besser sei,
die Nummer anzurufen, die die Agentur Ransdoc täglich wohl ein dutzendmal im Rundfunk wiederholte.
Sie blieb sich weiterhin ihrer Pflichten bewußt und gedachte, ihren Gast während der Nacht zu besuchen
und bei ihm zu wachen. Aber am Abend, nachdem sie ihm frischen Tee bereitet hatte, wollte sie sich ein
wenig niederlegen und erwachte erst am nächsten Morgen bei Tagesanbruch. Sie eilte in sein Zimmer.
Der Pater lag reglos ausgestreckt da. Die brennende Röte vom Vorabend war einer Fahlheit gewichen,
die um so auffälliger erschien, als die Formen des Gesichts noch voll waren. Der Pater starrte auf den
kleinen Leuchter aus bunten Perlen, der über dem Bett hing. Beim Eintritt der alten Dame wandte er ihr
den Kopf zu. Nach den Worten seiner Fürsorgerin sah er aus, als wäre er die ganze Nacht verprügelt
worden und sei nun zu kraftlos, um zu reagieren. Sie fragte ihn, wie es ihm gehe. Und mit einer Stimme,
deren seltsam gleichgültiger Ton sie beeindruckte, sagte er, es gehe ihm schlecht, er brauche keinen Arzt,
und es genüge, ihn ins Spital zu bringen, damit alles in Ordnung sei. Von Schrecken ergriffen, stürzte die
alte Dame ans Telefon.
Rieux traf um Mittag ein. Auf den Bericht der Gastgeberin antwortete er nur, Paneloux habe recht, und
vermutlich sei es zu spät. Der Pater empfing ihn mit der gleichen Teilnahmslosigkeit. Rieux untersuchte
ihn und war überrascht, außer der Verschleimung und der Beklemmung der Lungen keines der
hauptsächlichen Anzeichen der Beulenoder Lungenpest zu finden. Jedenfalls war der Puls so schwach
und der Allgemeinzustand so besorgniserregend, daß wenig Hoffnung blieb.
«Sie haben keines der Hauptmerkmale der Krankheit», sagte er zu Paneloux. «Aber es besteht dennoch
ein Verdacht, und ich muß Sie absondern.»
Der Pater lächelte eigenartig, fast höflich, antwortete jedoch nicht.
Rieux ging hinaus, um zu telefonieren, und kehrte zurück. Er betrachtete den Pater.
«Ich werde bei Ihnen bleiben», sagte er sanft.
Der andere schien sich zu beleben und blickte den Arzt an; es war, als kehre eine Art Wärme in seine
Augen zurück. Dann sprach er mühsam und abgehackt, so daß man nicht wissen konnte, ob er traurig
war oder nicht: «Danke. Aber die Ordensbrüder haben keine Freunde. Sie haben alles auf Gott gestellt.»
Er verlangte das Kruzifix, das sich über dem Kopfende des Bettes befand, und als er es hatte, wandte er
sich ab, um es zu betrachten.
Im Spital öffnete Paneloux den Mund nicht mehr. Wie ein Gegenstand ließ er alle Behandlungen, die ihm
auferlegt wurden, über sich ergehen, aber das Kruzifix gab er nicht mehr aus den Händen. Indessen blieb
der Fall des Priesters weiterhin zweideutig. Rieux wurde den Zweifel nicht los. Es war die Pest, und es
war sie auch wieder nicht. Seit einiger Zeit schien sie überhaupt ein Vergnügen daran zu finden, die
Diagnosen irrezuführen. Aber in Paneloux' Fall sollte die Folge zeigen, daß diese Ungewißheit ohne
Bedeutung war.
Das Fieber stieg an. Der Husten wurde immer rauher und marterte den Kranken den ganzen Tag. Am
Abend spuckte der Pater die ihn erstickende Watte endlich aus. Sie war rot. Inmitten des rasenden
Fiebers bewahrte Paneloux seinen teilnahmslosen Blick, und als er am nächsten Morgen halb aus dem
Bett geworfen und tot gefunden wurde, drückte sein Blick gar nichts aus. Man schrieb auf seinen Zettel:
«Zweifelhafter Fall».
Allerheiligen war dieses Jahr nicht wie andere Jahre. Das Wetter allerdings paßte dazu. Es hatte jäh
umgeschlagen, und die späte Hitze war unvermittelt der ersten Kälte gewichen. Wie immer, so blies auch
dieses Jahr ununterbrochen ein kalter Wind. Dicke Wolken eilten von Horizont zu Horizont und warfen
Schatten auf die Häuser, die nach ihrem Vorüberziehen wieder das kalte goldene Licht des
Novemberhimmels empfingen. Die ersten Regenmäntel waren aufgetaucht. Auffallend war die
überraschend große Zahl glänzender Gummistoffe. Die Zeitungen hatten nämlich berichtet, daß vor
zweihundert Jahren die Ärzte während der großen Pestzeit in Südfrankreich Öltuch getragen hatten, um
sich zu schützen. Die Geschäfte hatten aus dieser Erzählung Vorteil geschlagen und ihre Lager aus der
Mode gekommener Kleidungsstücke, dank denen jedermann Bewahrung vor der Krankheit erhoffte,
abgestoßen.
Aber all diese Merkmale der Jahreszeit täuschten nicht darüber hinweg, daß die Friedhöfe verlassen
lagen. Bisher waren jedes Jahr die Straßenbahnen vom herben Duft der Chrysanthemen erfüllt gewesen;
lange Reihen von Frauen begaben sich an den Ort, wo ihre Lieben ruhten, um ihre Gräber zu schmücken.
An diesem Tag wurde versucht, die Verstorbenen für die Einsamkeit und das Vergessen zu entschädigen,
in das sie während langer Monate gesunken waren. Aber in diesem Jahr wollte niemand an die Toten
denken. Man dachte eben schon zuviel an sie. Und es ging nicht mehr darum, ihnen mit ein wenig Reue
und viel Schwermut einen Besuch abzustatten. Sie waren nicht mehr die Im-Stich-Gelassenen, zu denen
man einmal im Jahr kommt, um sich zu rechtfertigen. Sie waren die Eindringlinge, die man vergessen
wollte. Darum wurde dieses Jahr der Totensonntag gewissermaßen unterschlagen. Cottard, dessen
Sprache von Tarrou als immer ironischer bezeichnet wurde, fand, es sei ja alle Tage Totensonntag.
Und wirklich brannten im Krematorium die Freudenfeuer der Pest immer munterer. Zwar nahm von
einem Tag zum andern die Zahl der Toten nicht zu. Aber es war, als habe sich die Pest behaglich auf
ihrem Höhepunkt eingenistet und nehme nun ihre täglichen Morde mit der Genauigkeit und
Regelmäßigkeit eines guten Beamten vor. Im Grunde und nach der Ansicht der Sachverständigen war
das ein gutes Zeichen. Die Pestkurve, mit ihrem ununterbrochenen Anstieg und der darauf folgenden
langen Waagrechten, erschien zum Beispiel Dr. Richard durchaus beruhigend. «Es ist eine gute, eine
ausgezeichnete Kurve», pflegte er zu sagen. Er war der Meinung, die Krankheit habe einen Absatz
erreicht, wie er es nannte. Von nun an könne sie nur noch zurückgehen. Dieses Verdienst schrieb er
Castels neuem Impfstoff zu, der tatsächlich einige unvorhergesehene Erfolge gezeitigt hatte. Der alte
Castel widersprach nicht, sondern meinte, daß nichts vorauszusagen sei, da die Geschichte der Seuchen
unberechenbare Sprünge verzeichne. Die Präfektur, die schon lange die öffentliche Meinung zu
beruhigen wünschte und der die Pest keine Möglichkeit dazu bot, hatte im Sinn, die Ärzte zu versammeln
und sie um einen diesbezüglichen Bericht zu bitten, als auch Dr. Richard von der Pest dahingerafft
wurde, und zwar ausgerechnet auf dem Absatz der Krankheit.
Vor diesem zweifellos eindrucksvollen, aber schließlich nichts beweisenden Beispiel kehrte die
Verwaltung mit ebenso wenig Folgerichtigkeit zum Pessimismus zurück, wie sie vorher auf Optimismus
eingestellt gewesen war. Castel beschränkte sich darauf, sein Serum so sorgfältig wie möglich
herzustellen. Auf jeden Fall gab es kein einziges öffentliches Gebäude mehr, das nicht in ein Spital oder
ein Lazarett umgewandelt worden wäre, und wenn vor der Präfektur haltgemacht wurde, so deshalb, weil
eben ein Ort nötig war, an dem Versammlungen stattfinden konnten. Aber im allgemeinen wurde damals
dank der verhältnismäßigen Beständigkeit der Pest die von Rieux vorgesehene Organisation nirgends
überrumpelt. Die Ärzte und Hilfskräfte, die sich bis zur Erschöpfung ausgaben, mußten nicht noch
größere Anstrengungen ins Auge fassen. Sie mußten nur mit Regelmäßigkeit, wenn man so sagen darf,
ihre übermenschliche Arbeit weiter versehen. Die schon aufgetretenen Fälle von Lungenpest vermehrten
sich nun an allen Ecken und Enden der Stadt, als hätte der Wind Brandherde in den Lungen angefacht
und geschürt. Die Kranken spuckten Blut und wurden viel schneller dahingerafft. Die Ansteckungsgefahr
drohte sich bei dieser neuen Krankheitsform zu vergrößern. Allerdings hatten sich die Spezialisten in
diesem Punkt stets widersprochen. Dennoch fuhr das Personal vorsichtshalber fort, keimfreie
Gazemasken über Nase und Mund zu tragen. Auf den ersten Blick hätte die Krankheit sich jedenfalls
ausdehnen sollen. Aber da die Fälle von Beulenpest abnahmen, blieb die Waage im Gleichgewicht.
Indessen gaben noch andere Ursachen zur Besorgnis Anlaß, weil die Ernährungslage mit der Zeit immer
schwieriger wurde. Die Spekulation hatte sich eingemischt, und lebenswichtige Nahrungsmittel, die auf
dem gewöhnlichen Markt fehlten, wurden zu wahnwitzigen Preisen angeboten. Die armen Leute
befanden sich deshalb in einer sehr beschwerlichen Lage, während es den Reichen ungefähr an nichts
mangelte. Durch das natürliche Spiel der Selbstsucht verschärfte die Pest in den Herzen der Menschen
das Gefühl der Ungerechtigkeit, anstatt durch ihre tatsächlich unparteiische Herrschaft die Gleichheit
unserer Mitbürger zu verstärken. Selbstverständlich verblieb die untadelige Gleichheit vor dem Tod, aber
davon wollte niemand etwas wissen. Die Armen, die Hunger litten, dachten deshalb mit noch mehr
Sehnsucht an die umliegenden Städte und Dörfer, wo das Leben frei und das Brot nicht teuer war. Da
man sie nicht genügend ernähren konnte, hatten sie das recht unvernünftige Gefühl, man müsse ihnen das
Fortgehen gestatten. So daß schließlich ein Losungswort umging, das auf Mauern zu lesen war oder das
dem vorbeifahrenden Präfekten zugeschrien wurde: «Brot oder Luft». Diese ironische Formel gab das
Zeichen zu gewissen Kundgebungen, die zwar schnell unterdrückt wurden, deren schwerwiegender
Charakter jedoch niemandem entging.
Die Zeitungen gehorchten natürlich der ihnen erteilten Vorschrift eines Optimismus um jeden Preis. Wer
sie las, sah die Lage gekennzeichnet durch das «erhebende Beispiel von Ruhe und Kaltblütigkeit», das
die Bevölkerung bot. Aber in einer auf sich selbst angewiesenen Stadt, wo nichts verborgen bleiben
konnte, täuschte sich niemand über das «Beispiel», das die Gemeinschaft bot. Und um einen rechten
Begriff von der Ruhe und Kaltblütigkeit zu erhalten, genügte es, eine Quarantäne oder ein von den
Behörden eingerichtetes Absonderungslager zu besuchen. Es fügt sich, daß der Erzähler sie nicht aus
eigener Erfahrung kennt, da er anderswohin gerufen worden war. Deshalb kann er hier nur Tarrous
Zeugnis anführen.
Tarrou erzählt nämlich in seinem Tagebuch von einem Besuch, den er und Rambert dem auf dem
städtischen Sportplatz eingerichteten Lager abstatteten. Das Stadion befindet sich beinahe an den Toren
und grenzt auf der einen Seite an die Straße, auf der die Straßenbahnen fahren, auf der anderen an freies
Gelände, das sich bis an den Rand der Hochebene erstreckt, auf der die Stadt liegt. Es ist wie üblich von
hohen Zementmauern umgeben, und es brauchten nur Wachen an die vier Eingänge gestellt zu werden,
um eine Flucht schwierig zu machen. Gleichzeitig hinderten die Mauern auch die Leute, von außen her
die unter Quarantäne gestellten Unglücklichen mit ihrer Neugier zu belästigen. Andererseits hörten die
Eingesperrten den ganzen Tag die vorüberfahrenden Straßenbahnen, ohne sie zu sehen, und errieten am
größeren Lärm den Beginn und das Ende der Arbeitszeit. Daran erkannten sie, daß das Leben, von dem
sie ausgeschlossen waren, in ein paar Metern Entfernung weiterging und daß die Zementmauern zwei
Welten schieden, die sich so fremd waren, als hätten sie sich auf verschiedenen Planeten befunden.
Tarrou und Rambert wählten einen Sonntagnachmittag, um sich auf den Sportplatz zu begeben.
Gonzales, der Fußballspieler, begleitete sie; Rambert hatte ihn wieder getroffen, und er hatte schließlich
eingewilligt, die Überwachung des Sportplatzes ablösungsweise zu leiten. Rambert sollte ihn dem
Lagerverwalter vorstellen. Gonzales hatte den beiden Männern beim Wiedersehen erzählt, um diese Zeit
habe er sich vor der Pest immer für das Spiel umgezogen. Jetzt, da die Sportplätze requiriert waren,
konnte er das nicht mehr, fühlte sich ganz als Müßiggänger und sah auch danach aus. Das war einer der
Gründe, warum er diese Überwachung angenommen hatte, unter der Bedingung, daß er sie nur am
Wochenende auszuüben brauche. Der Himmel war halb bedeckt, und Gonzales bemerkte mit
schnuppernder Nase wehmütig, dieses nicht regnerische und nicht zu warme Wetter sei am günstigsten
für eine gute Partie. Er beschrieb, so gut er konnte, den feuchtwarmen Dunst in den Ankleideräumen, die
zum Bersten gefüllten Tribünen, die grellfarbigen Leibchen auf dem braungelben Grund, die Halbzeit
mit ihren Zitronenwassern oder der Limonade, die die ausgetrocknete Gurgel mit tausend erfrischenden
Nädelchen kitzelt. Tarrou verzeichnet übrigens, daß auf dem ganzen Weg durch die ausgefahrenen
Straßen der Vorstadt der Spieler nicht müde wurde, die Steine, die ihm unter die Füße kamen,
wegzustoßen. Er versuchte, sie geradewegs in die Kanalabflüsse zu befördern, und wenn es ihm gelang,
sagte er: «Eins zu null.» Als er seine Zigarette fertig geraucht hatte, spuckte er den Stummel aus und
probierte, ihn im Flug mit dem Fuß aufzufangen. In der Nähe des Sportplatzes warfen spielende Kinder
einen Ball in die vorübergehende Gruppe, und Gonzales machte sich den Spaß, ihn zielsicher und genau
zurückzuschicken.
Schließlich betraten sie das Stadion. Die Tribünen waren voll von Menschen. Aber das Spielfeld war von
mehreren hundert roten Zelten bedeckt, in deren Innerem man von ferne Bettzeug und Bündel gewahrte.
Die Tribünen waren stehengeblieben, damit die Insassen sich vor der Hitze und dem Regen schützen
konnten. Sie mußten bloß bei Sonnenuntergang in ihre Zelte zurückkehren. Unter den Tribünen befanden
sich die neu eingerichteten Duschen und die ehemaligen Ankleideräume der Spieler, die in Büros und
Krankenzimmer umgewandelt worden waren. Die meisten Insassen des Lagers bevölkerten die Tribünen,
andere irrten am Rand des Spielfeldes umher. Einige wenige hockten am Eingang ihres Zeltes und ließen
einen abwesenden Blick über alle Dinge gleiten. Auf den Tribünen saßen viele kraftlos da und schienen
zu warten.
«Was machen sie nur tagsüber?» fragte Tarrou Rambert.
«Nichts.»
Sie saßen wirklich fast alle mit hängenden Armen und leeren Händen da. Diese riesige Ansammlung von
Männern war merkwürdig schweigsam.
«In den ersten Tagen verstand man hier sein eigenes Wort nicht», erzählte Rambert, «aber je mehr Tage
verstrichen, desto weniger haben sie geredet.»
Tarrou verzeichnet in seinem Tagebuch, daß er sie verstehe; und er sah sie am Anfang, wie sie sich in
ihren Zelten drängten und damit beschäftigt waren, den Fliegen zuzuhören oder sich zu kratzen, wie sie
ihre Wut oder ihre Angst hinausschrien, wenn sie ein teilnehmendes Ohr fanden. Aber vom Augenblick
an, da das Lager übervölkert war, hatte man je länger desto weniger teilnehmende Ohren gefunden. Es
blieb einem also nichts anderes übrig, als zu schweigen und sich in acht zu nehmen. Eine Art Mißtrauen
fiel vom grauen und doch leuchtenden Himmel auf das rote Lager.
Ja, sie sahen alle nach Mißtrauen aus. Daß sie von den anderen abgesondert wurden, geschah nicht ohne
Grund, und ihre Gesichter zeigten den Ausdruck von Leuten, die ihre Gründe suchen und sich fürchten.
Jeder, den Tarrou betrachtete, blickte ins Leere, und alle schienen unter einer ganz allgemeinen Trennung
von dem, was ihr Leben ausmachte, zu leiden. Und da sie nicht immer an den Tod denken konnten,
dachten sie an nichts. Sie waren in den Ferien. «Aber das Schlimmste ist», schrieb Tarrou, «daß sie
vergessen sind und es wissen. Ihre Bekannten haben sie vergessen, weil sie an anderes zu denken haben,
was sehr begreiflich ist. Diejenigen, die sie lieben, haben sie auch vergessen, weil sie sich in Gängen und
Plänen erschöpfen, um sie frei zu bekommen. Sie denken so ausschließlich an die geplante Befreiung,
daß sie nicht mehr an die denken, die sie befreien wollen. Auch das ist natürlich. Und schließlich merkt
man, daß niemand fähig ist, wirklich an jemanden zu denken, auch im schlimmsten Unglück nicht. Denn
wirklich an jemanden denken, heißt, Minute auf Minute an ihn denken, ohne sich ablenken zu lassen,
weder von Haushaltssorgen noch von der vorbeisurrenden Fliege, noch vom Essen, noch vom Jucken.
Aber es gibt immer Fliegen und Juckreize. Darum ist das Leben schwer zu leben. Und die hier wissen es
wohl.»
Der Verwalter kam auf sie zu und sagte, ein Herr Othon möchte sie sprechen. Er führte Gonzales in sein
Büro und begleitete sie dann zu einer Tribünenecke. Dort erhob sich Herr Othon, der sich abseits
hingesetzt hatte, und begrüßte sie. Er war immer noch gleich gekleidet und trug seinen steifen Kragen.
Tarrou bemerkte nur, daß die Haarbüschel über den Schläfen viel krauser waren und daß ein
Schuhriemen sich gelöst hatte. Der Richter sah müde aus und schaute seinen Besuchern nicht ein
einziges Mal in die Augen. Er sagte, er sei sehr froh, sie zu sehen, und er bitte sie, Dr. Rieux für das, was
er getan habe, zu danken.
Die anderen schwiegen.
Nach einer Weile sagte der Richter: «Ich hoffe, daß Philipp nicht zu sehr gelitten hat.»
Es war das erste Mal, daß Tarrou ihn den Namen seines Sohnes aussprechen hörte, und er erkannte, daß
sich etwas gewandelt hatte. Die Sonne stand tief am Horizont, und zwischen zwei Wolken hindurch
schienen ihrer Strahlen waagrecht auf die Tribünen und vergoldeten die drei Gesichter.
«Nein», sagte Tarrou, «nein, er hat wirklich nicht gelitten.»
Als sie sich zum Gehen wandten, schaute der Richter immer noch in die Sonne.
Sie verabschiedeten sich von Gonzales, der eine Tabelle mit den Wachablösungen studierte. Der Spieler
lachte und drückte ihnen die Hand.
«Ich habe wenigstens die Ankleideräume wieder», sagte er, «das ist immerhin etwas.»
Als der Verwalter kurz darauf Tarrou und Rambert hinausbegleitete, erschallte ein ungeheures
Gekrächze auf den Tribünen. Dann verkündeten die näselnden Lautsprecher, die in besseren Zeiten die
Spielresultate bekanntgegeben oder die Mannschaften vorgestellt hatten, die Internierten müßten in ihre
Zelte zurückkehren, damit das Nachtessen ausgeteilt werden könne. Langsam verließen die Männer die
Tribünen und begaben sich schleppend in die Zelte. Als sie alle an ihrem Platz waren, fuhren zwei kleine
elektrische Wagen, wie man sie in den Bahnhöfen sieht, mit großen Kochkesseln zwischen den Zelten
hindurch. Die Männer streckten den Arm aus, zwei Schöpflöffel senkten sich in zwei Töpfe und landeten
in zwei Blechnäpfen. Der Wagen fuhr weiter. Beim folgenden Zelt wiederholte sich der Vorgang.
«Ganz wissenschaftlich», sagte Tarrou zu dem Verwalter.
«Ja», pflichtete der voll Befriedigung bei und drückte ihnen die Hand, «ganz wissenschaftlich.»
Die Dämmerung war hereingebrochen, und der Himmel hatte sich aufgeklart. Das Lager war in ein
mildes, kühles Licht getaucht. Im Abendfrieden ertönte auf allen Seiten das Klappern von Löffeln und
Tellern. Fledermäuse huschten über die Zelte und verschwanden plötzlich. Auf der anderen Seite der
Mauern kreischte eine Straßenbahn auf einer Weiche.
«Armer Richter», murmelte Tarrou, als er das Tor durchschritt. «Man sollte etwas für ihn tun. Aber wie
ist einem Richter zu helfen?»
Es gab über die Stadt verteilt noch mehrere andere Lager, von denen der Erzähler aus Gewissenhaftigkeit
und aus Mangel an genauer Kenntnis nichts weiter sagen kann. Was er aber sagen kann ist, daß das
Bestehen dieser Lager, der ihnen entströmende Menschengeruch, das Brüllen der Lautsprecher in der
Dämmerung, das Geheimnisvolle der Mauern und die Furcht vor dieser Stätte der Geächteten schwer auf
dem Gemüt unserer Mitbürger lasteten und zur Verwirrung und dem Unbehagen der Allgemeinheit noch
beitrugen. Die Zwischenfälle und Streitigkeiten mit der Verwaltung häuften sich.
Gegen Ende November wurden die Morgen jedoch sehr kalt. Sintflutartige Regengüsse wuschen das
Pflaster, fegten den Himmel rein und ließen ihn von keinem Wölkchen getrübt über den glänzenden
Straßen leuchten. Eine kraftlose Sonne erhellte jeden Morgen die Stadt mit einem glitzernden, eisigen
Licht. Doch gegen Abend wurde die Luft wieder lau. Diese Zeit wählte Tarrou, um sich Dr. Rieux
gegenüber ein wenig auszusprechen.
Eines Abends gegen zehn Uhr, nach einem langen und äußerst anstrengenden Tag, besuchte Rieux, von
Tarrou begleitet, wie gewohnt seinen alten Asthmatiker. Über den Häusern der Altstadt leuchtete milde
ein zarter Himmel. Ein leichter Wind wehte lautlos über die dunklen Plätze. Die beiden Männer, die aus
den stillen Straßen kamen, sahen sich unvermittelt dem Geschwätz des Alten gegenüber. Der berichtete
ihnen, daß es Unzufriedene gebe, daß das Brot immer auf der gleichen Seite gebuttert sei, daß der Krug
so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, und daß es wahrscheinlich, und dabei rieb er sich die Hände, zu
Unruhen kommen werde. Der Arzt behandelte ihn, ohne daß er aufhörte, sich über die Ereignisse zu
äußern.
Über sich hörten sie Schritte. Die alte Frau bemerkte Tarrous aufhorchende Miene und erklärte ihnen,
daß sich Nachbarinnen auf dem Dach befänden. Sie erfuhren gleichzeitig, daß man dort oben eine
prächtige Aussicht genoß und daß die Frauen dieses Viertels sich besuchen konnten, ohne das Haus zu
verlassen, weil die Terrassen auf einer Seite aneinander grenzten.
«Ja», sagte der Alte, «gehen Sie doch hinauf. Die Luft ist gut dort oben.»
Sie fanden die Terrasse leer, nur drei Stühle standen herum. Auf einer Seite sahen sie, so weit der Blick
reichte, nichts als Dachterrassen, die sich schließlich an eine schwarze, steinige Masse anlehnten, in der
sie den ersten Hügel erkannten. Auf der anderen Seite verlor sich der Blick über ein paar Straßen und den
unsichtbaren Hafen hinweg in einem Horizont, wo Himmel und Meer in einer unmerklichen Bewegung
verschwammen. Hinter den Klippen, die sie nur erahnen konnten, erschien in regelmäßigen Abständen
ein Licht, dessen Ursprung sie nicht sahen: der Leuchtturm in der Hafeneinfahrt ließ seinen Scheinwerfer
seit dem Frühling weiter für Schiffe kreisen, die nach anderen Häfen abdrehten. An dem vom Wind
blankgefegten Himmel funkelten reine Sterne, und der ferne Leuchtturm ließ alle paar Sekunden einen
silbergrauen Schein darüber huschen. Die Brise trug einen Geruch von Gewürzen und Stein mit sich. Die
Stille war vollkommen.
«Hier ist es schön», sagte Rieux und setzte sich. «Es ist, als wäre die Pest nie so hoch hinaufgestiegen.»
Tarrou kehrte ihm den Rücken zu und betrachtete das Meer.
«Ja», sagte er nach einer Weile, «hier ist es schön.»
Er setzte sich neben den Arzt und schaute ihn aufmerksam an. Dreimal leuchtete der Scheinwerfer am
Himmel auf. Geschirrklappern drang aus der Tiefe der Straße bis zu ihnen. Eine Tür im Haus wurde
zugeschlagen.
«Rieux», sagte Tarrou in ganz natürlichem Ton, «haben Sie nie versucht, herauszufinden, wer ich bin?
Empfinden Sie Freundschaft für mich?»
«Ja», sagte der Arzt, «ich fühle Freundschaft für Sie. Aber bisher hat uns die Zeit dazu gefehlt.»
«Gut, das beruhigt mich. Wollen Sie, daß dies die Stunde der Freundschaft sei?»
Anstatt zu antworten, lächelte Rieux ihm zu.
«Nun denn ...»
Ein paar Straßen weiter schien ein Auto lange auf dem nassen Pflaster dahinzugleiten. Es entfernte sich;
danach ertönten in der Ferne verworrene Rufe, die nochmals das Schweigen brachen. Dann senkte sich
die Stille mit ihrem ganzen Gewicht von Himmel und Sternen wieder über die beiden Männer. Tarrou
hatte sich erhoben und saß nun auf der Brüstung, Rieux gegenüber, der immer noch zusammengesunken
in seinem Stuhl ruhte. Man sah nur Tarrous dunkle, massige Gestalt, die sich gegen den Himmel abhob.
Er sprach lange, und dies ist die ungefähre Wiedergabe seiner Worte: «Sagen wir der Einfachheit halber,
Rieux, daß ich an der Pest litt, lange bevor ich diese Stadt und diese Epidemie kennenlernte. Das sagt
deutlich genug, daß ich wie alle Leute bin. Aber es gibt Leute, die es nicht wissen oder die sich in diesem
Zustand wohl befinden, und andere, die es wissen und davon loskommen möchten. Ich habe immer
davon loskommen wollen.
Als ich jung war, lebte ich im Glauben an meine Unschuld, also mit gar keinem Glauben. Ich bin nicht
grüblerisch veranlagt, ich habe angefangen, wie es sich gehörte. Alles gelang mir gut. Ich besaß viel
Verständnis für die Welt des Geistes, in der ich mich mit Leichtigkeit bewegte; zudem stand ich mit den
Frauen aufs beste, und die wenigen Sorgen, die ich hatte, gingen vorüber, wie sie gekommen waren.
Eines Tages fing ich an, nachzudenken. Jetzt . . .
Ich muß Ihnen auch sagen, daß ich nicht arm war wie Sie. Mein Vater war Staatsanwalt, also in einer
hohen Stellung. Und doch sah er gar nicht so aus, da er von Natur gutmütig war. Meine Mutter war eine
einfache, unauffällige Frau. Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben, aber ich möchte nicht gerne von ihr
sprechen. Er beschäftigte sich liebevoll mit mir, und ich glaube sogar, daß er mich zu verstehen suchte.
Er hatte Abenteuer außer Haus, das weiß ich jetzt bestimmt, und ebenso sicher bin ich weit davon
entfernt, mich darüber zu empören. Er verhielt sich bei all dem, wie man es von ihm erwarten mußte:
ohne jemand vor den Kopf zu stoßen. Um es kurz zu machen: er war kein besonderer Mensch, und nun
er tot ist, sehe ich ein, daß er zwar kein heiliges, aber auch kein schlechtes Leben geführt hat. Er hielt
einfach die Mitte, und das ist der Menschenschlag, für den man eine vernünftige Zuneigung empfindet,
der einen dazu bringt, weiterzumachen.
Er hatte jedoch eine Eigenheit: der große Fahrplan Chaix war seine Lieblingslektüre. Das heißt nicht, daß
er Reisen unternahm, außer in den Ferien, wenn er in die Bretagne fuhr, wo er ein kleines Gut besaß.
Aber er war imstande, einem die genauen Abfahrts- und Ankunftszeiten des Expreßzuges Paris-Berlin
anzugeben, die Zugverbindungen von Lyon nach Warschau, die ganz genaue Kilometerzahl zwischen
beliebigen Hauptstädten. Können Sie sagen, wie man von Briangon nach Chamonix gelangt? Selbst ein
Bahnhofsvorstand hätte große Mühe. Nicht so mein Vater. Er pflegte fast jeden Abend seine Kenntnisse
in dieser Beziehung zu erweitern, und er war recht stolz darauf. Das belustigte mich sehr, und ich
befragte ihn oft; mit großer Begeisterung überprüfte ich seine Antworten im Chaix und stellte fest, daß er
sich nicht geirrt hatte. Diese kleinen Übungen brachten uns einander näher, weil ich ihm eine
Zuhörerschaft stellte, deren guten Willen er zu schätzen wußte. Ich selbst fand, diese Überlegenheit auf
dem Gebiet der Eisenbahnen sei ebensoviel wert wie eine andere.
Aber ich schweife ab und laufe Gefahr, diesem braven Mann zu große Bedeutung beizulegen. Denn im
Grunde hat er nur einen mittelbaren Einfluß auf meinen Entschluß gehabt. Im besten Fall hat er mir einen
Anlaß geboten. Als ich siebzehn Jahre alt war, forderte mein Vater mich nämlich auf, ihn einmal
anzuhören. Es ging um einen wichtigen Fall vor dem Schwurgericht, und er hatte sicher gedacht, daß er
im besten Licht erscheinen werde. Ich glaube auch, daß er auf diese feierliche Verhandlung zählte, die
geeignet war, ein junges Gemüt zu beeindrucken, um mich dazu zu bewegen, die Laufbahn
einzuschlagen, die er selber gewählt hatte. Ich hatte angenommen, weil das meinem Vater Freude machte
und weil ich zudem neugierig war, ihn einmal in einer anderen Rolle zu hören und zu sehen als in der,
die er daheim spielte. An mehr dachte ich nicht. Was in einem Gerichtssaal vor sich geht war mir immer
so natürlich und unvermeidlich vorgekommen wie ein Umzug am 14. Juli oder eine Preisverteilung. Ich
hatte einen sehr verschwommenen Begriff davon, der mich in keiner Weise störte.
Und doch habe ich von jenem ganzen Tag nur ein einziges Bild bewahrt: das des Schuldigen. Ich glaube,
daß er wirklich schuldig war. Welcher Tat hat wenig Bedeutung. Aber dieser kleine, rothaarige arme
Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, schien so entschlossen, alles zuzugeben, so ehrlich entsetzt
über das, was er getan hatte und was ihm nun angetan würde, daß ich nach wenigen Minuten nur noch
für ihn Augen hatte. Er sah aus wie eine von allzu grellem Licht aufgescheuchte Eule. Der Knoten seiner
Krawatte saß nicht in der Mitte. Er kaute die Nägel der einen Hand, der rechten . . . Kurz, ich brauche es
nicht weiter auszuführen, Sie haben begriffen, daß er lebte.
Aber ich entdeckte das ganz unvermittelt, während ich bis jetzt nur durch die bequeme Bezeichnung
Angeklagten an ihn gedacht hatte. Ich kann nicht behaupten, daß ich deshalb meinen Vater vergaß, aber
auf meinem Magen begann ein Druck zu lasten, der mich der Fähigkeit beraubte, irgend etwas außer dem
Angeklagten zu beachten. Ich hörte kaum zu, ich spürte, daß man diesen lebenden Menschen töten
wollte, und ein innerer Trieb trug mich wie eine gewaltige Woge in einer Art sturer Blindheit an seine
Seite. Ich erwachte erst richtig, als mein Vater seine Anklagerede hielt.
Der rote Talar hatte ihn verwandelt. Er war nicht mehr gutmütig und nicht mehr herzlich. In seinem
Mund wimmelte es von ungeheuerlichen Sätzen, die unaufhörlich wie Schlangen hervorkrochen. Und ich
begriff, daß er im Namen der Gesellschaft den Tod jenes Mannes verlangte, daß er sogar verlangte, man
müsse ihm den Hals abschneiden. Es stimmt, daß er nur sagte: Aber der
Unterschied war schließlich gering. Und es kam tatsächlich auf das gleiche heraus, da er diesen Kopf
erhielt. Nur war nicht er es, der dann die Arbeit ausführte. Und ich, der ich bis zum Ende nur noch diesen
Fall verfolgte, ich erlebte mit dem Unglücklichen eine viel aufwühlendere Gemeinschaft, als mein Vater
sie je hatte. Dabei war er verpflichtet, wie es Brauch war, dem beizuwohnen, was man höflich die letzten
Augenblicke nennt und was man einfach als ganz gemeinen Mord bezeichnen muß.
Von diesem Augenblick an konnte ich den Fahrplan Chaix nur noch mit scheußlichem Ekel betrachten.
Von diesem Augenblick an befaßte ich mich schaudernd mit der Gerechtigkeit, mit den Todesurteilen,
mit den Hinrichtungen, und mir schwindelte bei der Entdeckung, daß mein Vater mehrmals einem
solchen Mord hatte beiwohnen müssen, und zwar immer an den Tagen, da er sehr früh aufstand. Ja, in
diesen Fällen stellte er seinen Wecker. Ich wagte nicht, mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Aber nun
beobachtete ich sie aufmerksam und verstand, daß es zwischen ihm und ihr nichts Gemeinsames mehr
gab und daß sie ein Leben der Entsagung führte. Das half mir, ihr zu verzeihen, wie ich damals sagte.
Später erkannte ich, daß es nichts zu verzeihen gab, weil sie bis zu ihrer Heirat in Armut gelebt und die
Armut sie die Entsagung gelehrt hatte.
Sie erwarten gewiß, daß ich jetzt sage, ich sei augenblicklich fortgegangen. Nein, ich bin noch mehrere
Monate geblieben, fast ein Jahr. Aber mein Herz war krank. Eines Abends verlangte mein Vater seinen
Wecker, weil er früh aufstehen müsse. Ich fand die ganze Nacht keinen Schlaf. Als er am nächsten
Morgen zurückkam, war ich fort. Fügen wir gleich hinzu, daß mein Vater mich suchen ließ, daß ich zu
ihm ging und ihm ganz ruhig und ohne irgendwelche Erklärungen sagte, daß ich mich töten würde, wenn
er mich zwinge, zurückzukommen. Er gab schließlich sein Einverständnis, denn er war von Natur eher
weich. Er hielt mir einen Vortrag darüber, wie dumm es sei, sein eigenes Leben leben zu wollen (so
erklärte er sich mein Handeln, und ich ließ ihn in diesem Glauben). Er gab mir tausend gute Ratschläge
und unterdrückte echte Tränen. Später, aber ziemlich lange nachher, besuchte ich regelmäßig meine
Mutter und begegnete ihm bei diesen Gelegenheiten. Ich glaube, daß diese Beziehungen ihm genügten.
Ich hegte meinerseits keinen Groll gegen ihn, sondern hatte nur ein wenig Traurigkeit im Herzen. Als er
starb, nahm ich meine Mutter zu mir und hätte sie noch hier, wenn sie nicht ebenfalls gestorben wäre.
Ich habe diesen Anfang sehr ausführlich erzählt, weil es tatsächlich der Anfang von allem war. Ich werde
jetzt rascher fortfahren. Mit achtzehn Jahren habe ich, der ich aus dem Wohlstand kam, die Armut
kennengelernt. Ich habe tausend Berufe ausgeübt, um mein Leben zu verdienen. Es ist mir nicht schlecht
gelungen. Aber was mich fesselte war das Todesurteil. Ich wollte eine Rechnung mit der roten Eule
begleichen. Deshalb ging ich zur Politik, wie man zu sagen pflegt. Ich wollte kein Pestkranker sein, das
ist alles. Ich habe geglaubt, daß die Gesellschaft, in der ich lebte, auf das Todesurteil gegründet sei und
daß ich in ihr den Mord bekämpfte. Ich habe es geglaubt, andere haben es mir gesagt, und schließlich traf
es auch weitgehend zu. Ich habe mich deshalb zu den anderen gesellt, die ich liebte und die ich noch
immer liebe. Ich bin lange bei ihnen geblieben, und es gibt kein Land in Europa, an dessen Kämpfen ich
nicht teilgenommen hätte. Schwamm darüber.
Natürlich wußte ich, daß auch wir in gewissen Fällen verurteilten. Aber mir wurde gesagt, diese wenigen
Toten seien notwendig, um eine Welt herbeizuführen, in der niemand getötet werde. In gewissem Sinne
stimmte das, und vielleicht bin ich ganz einfach nicht fähig, mich auf der Höhe derartiger Wahrheiten zu
halten. Sicher ist, daß ich zögerte. Aber ich dachte an die Eule, und so konnte es weitergehen. Bis zu dem
Tag, da ich eine Hinrichtung sah (es war in Ungarn). Und der gleiche Schwindel, der mich als Kind
ergriffen hatte, trübte mir die Augen als Mann.
Haben Sie nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird? Nein, natürlich nicht. Das geschieht
gewöhnlich auf Einladung hin, und das Publikum wird vorher ausgewählt. Das Ergebnis ist, daß Sie nicht
über Bilder und Bücher hinausgelangt sind. Eine Augenbinde, ein Pfosten und im Hintergrund ein paar
Soldaten. Eben nicht! Wissen Sie, daß die Hinrichtungsmannschaft sich im Gegenteil eineinhalb Meter
vor dem Verurteilten aufstellt? Wissen Sie, daß der Verurteilte nur zwei Schritte nach vorne zu tun
brauchte, um mit der Brust an die Gewehrläufe zu stoßen? Wissen Sie, daß die Schützen auf diese kurze
Entfernung ihr Feuer alle auf die Herzgegend richten und dort mit ihren großen Kugeln ein Loch reißen,
in das man die Faust legen könnte? Nein, das wissen Sie nicht, denn das sind Einzelheiten, von denen
niemand spricht. Für die Verpesteten ist der menschliche Schlaf wichtiger als das Leben. Man darf die
guten Leute nicht am Schlafen hindern. Das wäre geschmacklos. Und der gute Ton verlangt eben, daß
man nicht weiter danach fragt, das ist bekannt. Ich aber habe seit jener Zeit nicht mehr gut geschlafen.
Der schlechte Geschmack haftet in meinem Mund, und ich habe nicht aufgehört, weiter danach zu
fragen, das heißt daran zu denken.
Da habe ich erkannt, daß ich all diese langen Jahre nicht aufgehört hatte, verpestet zu sein, während ich
doch mit aller Kraft gerade gegen die Pest zu kämpfen glaubte. Ich habe gelernt, daß ich mittelbar das
Todesurteil von Tausenden von Menschen unterschrieben hatte, daß ich diesen Tod sogar verursachte,
indem ich Taten und Grundsätze guthieß, die ihn unwiderruflich nach sich zogen. Die anderen schienen
sich dadurch nicht stören zu lassen, oder zumindest sprachen sie nie freiwillig davon. Ich hatte eine
zugeschnürte Kehle. Ich war mit ihnen und doch allein. Wenn es vorkam, daß ich meine Bedenken
äußerte, sagten sie mir, man müsse sich überlegen, was auf dem Spiel stehe; und sie gaben mir oft sehr
gewichtige Gründe an, um mich das schlucken zu lassen, was ich doch nicht herunterwürgen konnte.
Aber ich antwortete, daß die großen Pestträger, jene, die rote Talare anziehen, in solchen Fällen auch
ausgezeichnete Gründe hätten, und wenn ich die Gründe von höherer Gewalt und Notwendigkeit billigen
wollte, die die kleinen Pestträger anführten, könnte ich die Gründe der großen nicht widerlegen. Sie
wiesen darauf hin, die roten Talare erhielten gerade dadurch recht, daß die Verurteilung ausschließlich
ihnen überlassen sei. Aber dann sagte ich mir, daß es keinen Grund gab, wieder aufzuhören, wenn man
einmal nachgab. Mir scheint, daß die Geschichte mir recht gegeben hat. Heute geht es darum, wer am
meisten töten wird. So sind alle im Wahnsinn des Mordes befangen, und sie können nicht anders.
Jedenfalls war das Streiten mit Worten nicht meine Sache. Sondern die rote Eule, dieses schmutzige
Erlebnis, wo schmutzige, verpestete Zungen einem Mann in Ketten verkündeten, daß er sterben werde,
und alles ordneten, auf daß er wirklich sterbe, nach Nächten und Nächten der Todesangst, während derer
er mit offenen Augen darauf wartete, ermordet zu werden. Meine Sache war das Loch in der Brust. Und
ich sagte mir, daß ich mich vorläufig, und wenigstens für mein Teil, weigern wolle, dieser ekelhaften
Metzgerei jemals eine, hören Sie, auch nur eine einzige Rechtfertigung zu geben. Ja, ich habe diese
verbohrte Blindheit gewählt, bis ich klarer sehen würde.
Seither habe ich mich nicht geändert. Seit sehr langer Zeit schäme ich mich, schäme mich in den Tod,
daß auch ich zum Mörder geworden bin, wenn auch nur aus der Ferne, wenn auch im Willen zum Guten.
Mit der Zeit habe ich einfach erkannt, daß selbst diejenigen, die besser sind als andere, es heute nicht
mehr vermeiden können, zu töten oder töten zu lassen, weil das in der Logik liegt, in der sie leben, und
daß wir in dieser Welt keine Bewegung machen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Tod zu
bringen. Ja, ich habe mich weiter geschämt, ich habe gelernt, daß wir alle in der Pest sind, und ich habe
den Frieden verloren. Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und keines
Menschen Todfeind zu sein. Ich weiß nur, daß man alles Nötige machen muß, um nicht mehr an der Pest
zu kranken, und daß nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf einen guten
Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch
möglichst wenig Böses zufügt und manchmal sogar ein bißchen wohltut. Und darum habe ich
beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder
rechtfertigt, daß getötet wird.
Deshalb kann diese Epidemie mich auch nichts lehren, außer daß ich sie an Ihrer Seite bekämpfen muß.
Ich habe die unumstößliche Gewißheit (ja, Rieux, ich weiß alles vom Leben, Sie sehen es wohl), daß
jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist. Und
daß man sich ohne Unterlaß überwachen muß, um nicht in einem Augenblick der Zerstreutheit
dazuzukommen, einem anderen ins Gesicht zu atmen und ihm die Krankheit anzuhängen. Was
naturgegeben ist, das sind die Mikroben. Alles übrige, die Gesundheit, die Rechtlichkeit, die Reinheit,
wenn Sie wollen, ist eine Folge des Willens, und zwar eines Willens, der nie erlahmen darf. Der ehrliche
Mensch, der fast niemand ansteckt, ist jener, der sich am wenigsten ablenken läßt. Und wieviel Willen
und Anspannung sind nötig, um nie zerstreut zu sein! Ja, Rieux, es ist sehr anstrengend, pestkrank zu
sein. Aber es ist noch anstrengender, es nicht sein zu wollen. Deshalb sind alle Leute so müde, weil heute
alle Leute ein wenig pestkrank sind. Aber deshalb erleben einige wenige, die nicht mehr krank sein
wollen, eine so übergroße Erschöpfung, von der sie nichts mehr befreien wird als der Tod.
Ich weiß, daß ich bis dahin für die Welt selbst nichts mehr wert bin und daß ich mich von dem
Augenblick an, da ich mich weigerte zu töten, zu einer endgültigen Verbannung verurteilt habe. Die
Geschichte werden die anderen machen. Ich weiß auch, daß ich selbstverständlich diese anderen nicht
richten darf. Zum vernünftigen Mörder fehlt mir eine Eigenschaft. Es ist also keine Überlegenheit. Aber
jetzt bin ich bereit, das zu sein, was ich wirklich bin, ich habe die Bescheidenheit gelernt. Ich sage nur,
daß es auf dieser Erde Geißeln und Opfer gibt und daß man versuchen muß, möglichst nicht auf der Seite
der Geißeln zu stehen. Das erscheint Ihnen vielleicht etwas einfältig, und ich weiß nicht, ob es einfältig
ist, ich weiß nur, daß es wahr ist. Ich habe so viele Reden gehört, die mir fast den Kopf verdreht hätten
und die genügend andere Köpfe verdrehten, bis sie dem Mord zustimmten, daß ich begriffen habe, daß
der Menschen ganzes Elend von ihrer unklaren Sprache herrührt. Da habe ich beschlossen, in meinen
Worten und Taten klar zu sein, um auf den rechten Weg zu kommen. Folglich sage ich, daß es Geißeln
und Opfer gibt, und weiter nichts. Wenn ich durch diese Aussage selber zur Geißel werde, geschieht das
wenigstens ohne mein Einverständnis. Ich versuche, ein unschuldiger Mörder zu sein. Sie sehen, daß ich
nicht sehr anspruchsvoll bin.
Es sollte natürlich eine dritte Gruppe geben, jene der wahren Ärzte. Aber tatsächlich begegnet man nur
wenigen, und es muß schwer sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, mich jederzeit auf die Seite der
Opfer zu stellen, um den Schaden zu verringern. Inmitten der Opfer kann ich wenigstens suchen, wie
man zur dritten Gruppe gelangt, das heißt zum Frieden.»
Als Tarrou zu Ende war, baumelte er mit den Beinen und klopfte mit einem Fuß leicht auf die Terrasse.
Nach einem Augenblick des Schweigens richtete der Arzt sich ein wenig auf und fragte, ob Tarrou eine
Vorstellung von dem Weg habe, den man einschlagen müsse, um zum Frieden zu kommen.
«Ja. Das Mitgefühl.»
Zwei Krankenwagen bimmelten in der Ferne. Die vorhin undeutlichen Rufe kamen nun hörbar vom
Stadtrand, aus der Nähe des steinigen Hügels. Gleichzeitig wurde ein Knall vernommen, der einem
Schuß glich. Dann kehrte die Stille zurück. Rieux sah den Leuchtturm zweimal blinken. Die Brise schien
stärker zu werden, und zugleich brachte ein Luftzug, der vom Meer kam, einen salzigen Geschmack.
Man hörte jetzt ganz deutlich das gedämpfte, stete Rauschen der Brandung in den Klippen.
«Eigentlich», sagte Tarrou schlicht, «möchte ich gerne wissen, wie man ein Heiliger wird.»
«Aber Sie glauben ja nicht an Gott.»
«Eben. Kann man ohne Gott ein Heiliger sein, das ist das einzig wirkliche Problem, das ich heute
kenne.»
Plötzlich flammte eine große Helligkeit in der Richtung auf, aus der zuvor die Schreie gekommen waren,
und ein dumpfes Stimmengewirr drang gegen den Wind bis zu den beiden Männern. Der Schein
verdunkelte sich augenblicklich wieder, und in der Ferne, am Ende der Terrassen, blieb nur ein rötlicher
Schimmer. In einem Moment der Windstille waren deutlich Schreie von Menschen zu hören, dann das
Krachen einer Entladung und das Geheul einer Menge. Tarrou hatte sich erhoben und horchte. Aber alles
war wieder still.
«Es hat an den Toren wieder einen Zusammenstoß gegeben.»
«Jetzt ist es vorbei», sagte Rieux.
Tarrou murmelte, es sei nie vorbei und es werde noch mehr Opfer geben, weil das so in der Ordnung der
Dinge liege.
«Vielleicht», erwiderte der Arzt. «Aber wissen Sie, ich fühle mich mit den Besiegten enger verbunden
als mit den Heiligen. Ich glaube, daß ich am Heldentum und an der Heiligkeit keinen Geschmack finde.
Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.»
«Ja, wir suchen das gleiche, nur bin ich weniger anspruchsvoll.»
Rieux glaubte, Tarrou scherze, und er schaute ihn an. Aber in dem schwachen Leuchten des Himmels sah
er ein trauriges, ernstes Gesicht. Der Wind erhob sich wieder, und Rieux empfand ihn lau auf der Haut.
Tarrou schüttelte sich und sagte: «Wissen Sie, was wir für die Freundschaft tun sollten?»
«Was Sie wollen», sagte Rieux.
«Im Meer baden. Das ist sogar für einen zukünftigen Heiligen ein würdiges Vergnügen.»
Rieux lächelte.
«Mit unseren Passierscheinen können wir auf die Mole hinausgehen. Es ist schließlich zu dumm, nur
gerade der Pest zu leben. Natürlich muß ein Mann sich für die Opfer schlagen. Aber was nützt sein
Kämpfen, wenn er dabei aufhört, irgend etwas anderes zu lieben?»
«Ja», sagte Rieux, «wir wollen gehen.»
Kurz darauf hielt der Wagen vor dem Gitter der Hafeneinfahrt. Der Mond war aufgegangen. Das
milchige Licht des Himmels warf überall blasse Schatten. Hinter ihnen türmte sich die Stadt empor. Ihr
entströmte eine warme, kranke Luft, die sie gegen das Meer trieb. Sie zeigten einem Wachtposten ihre
Papiere, und er prüfte sie eingehend. Sie wurden durchgelassen und gingen über die von Fässern
bedeckten Hafendämme, durch Wein- und Fischgeruch auf die Mole zu. Noch ehe sie sie erreichten,
verkündete ihnen der Geruch nach Jod und Algen das Meer. Dann hörten sie es.
Es plätscherte leise gegen die untersten großen Blöcke der Mole. Und als sie sie bestiegen, erschien es
ihnen mollig wie Samt, weich und glatt wie ein Tier. Sie setzten sich auf die Felsen, die auf die hohe See
hinausblickten. Die Wogen hoben und senkten sich langsam. Dieses ruhige Atmen des Meeres ließ ölige
Schimmer an der Oberfläche des Wassers auftauchen und verschwinden. Vor ihnen lag die Nacht in
endloser Weite. Rieux spürte unter seinen Fingern das körnige Gesicht der Felsen und war von einem
eigenartigen Glücksgefühl erfüllt. Wenn er Tarrou anblickte, erriet er auf dem ruhigen, ernsten Gesicht
seines Freundes das gleiche Glück, das nichts vergaß, auch nicht den Mord.
Sie entkleideten sich. Rieux sprang zuerst. Das Wasser, das ihm anfänglich kalt vorkam, schien ihm lau,
als er wieder auftauchte. Nach ein paar Zügen wußte er, daß die See an diesem Abend lau war, von jener
Lauheit der herbstlichen Meere, die von der Erde die während langer Monate gespeicherte Wärme
zurücknehmen. Er schwamm regelmäßig. Seine Füße schlugen das Wasser zu brodelndem Schaum, die
Wellen strichen seine Arme entlang und schmiegten sich an seine Beine. Ein schweres Klatschen sagte
ihm, daß Tarrou ins Wasser gesprungen war. Rieux drehte sich auf den Rücken und verhielt sich
unbeweglich. Er blickte in den Himmel, der von Mond und Sternen erfüllt war. Er atmete tief. Dann
vernahm er immer deutlicher das Plätschern des Wassers, das im Schweigen der Einsamkeit der Nacht
seltsam hell ertönte. Tarrou näherte sich, bald hörte er ihn atmen. Rieux kehrte sich um, brachte sich auf
die Höhe des Freundes und schwamm im gleichen Takt wie er weiter. Tarrou griff kräftiger aus als er,
und er mußte seine Geschwindigkeit steigern. Ein paar Minuten lang glitten sie so vorwärts, im gleichen
Zug und mit der gleichen Kraft, allein, fern der Welt, endlich frei von der Stadt und der Pest. Rieux hielt
zuerst inne, und nun kehrten sie langsamer zurück, außer einmal, als sie in eine eiskalte Strömung
gerieten. Da beschleunigten sie wortlos ihre Bewegungen, von dieser Überraschung des Meeres
gepeitscht.
Sie kleideten sich wieder an und gingen fort, ohne ein Wort zu sprechen. Aber sie hatten das gleiche
Herz, und die Erinnerung an diese Nacht war für beide tröstlich. Als sie von ferne die Wache der Pest
erblickten, wußte Rieux, daß auch Tarrou sich sagte, daß die Krankheit sie einen Augenblick vergessen
hatte, daß es so gut war und daß es jetzt galt, wieder anzufangen.
Ja, es mußte wieder angefangen werden, und die Pest vergaß.niemanden zu lange. Während des Monats
Dezember loderte sie in den Lungen unserer Mitbürger, unterhielt das Feuer im Einäscherungsofen,
verbannte zahllose Schatten mit leeren Händen in die Lager, kurz, sie hörte nicht auf, geduldig und
ruckweise vorwärtszuschreiten. Die Behörden hatten damit gerechnet, daß die Kälte diesem Fortschritt
Einhalt gebieten werde. Aber die Seuche ließ die ersten Tage der rauhen Jahreszeit über sich ergehen,
ohne von der Stelle zu weichen. Man mußte weiter warten. Aber wer zu lange warten muß, wartet nicht
mehr, und unsere ganze Stadt lebte ohne Zukunft.
Für den Arzt war der flüchtige Augenblick des Friedens und der Freundschaft ein einmaliges Geschenk
geblieben. Es war noch ein Spital eröffnet worden, und Rieux führte nur noch mit den Kranken
Zwiegespräche. Er bemerkte indessen, daß in diesem Stadium der Seuche, da die Pest mehr und mehr in
den Lungen auftrat, die Kranken dem Arzt irgendwie zu helfen schienen. Anstatt sich, wie am Anfang,
der stumpfen Niedergeschlagenheit oder der Raserei zu überlassen, schienen sie sich ein richtigeres Bild
von ihren Interessen zu machen und verlangten von selber nach dem, was ihnen am zuträglichsten war.
Sie wollten unaufhörlich trinken und Wärme haben. Obwohl die Ermüdung für den Arzt gleich blieb,
fühlte er sich doch bei diesen Gelegenheiten weniger einsam.
Gegen Ende Dezember erhielt Rieux von Herrn Othon, dem Untersuchungsrichter, der sich noch in
seinem Lager befand, einen Brief. Er schrieb, seine Quarantänezeit sei um, die Verwaltung finde aber
sein Eintrittsdatum nicht und er werde ganz sicher irrtümlich im Internie-rungslager festgehalten. Seine
Frau, die vor einiger Zeit aus der Quarantäne gekommen sei, habe bei der Präfektur Einspruch erhoben,
sei dort aber schlecht angekommen; man habe ihr erklärt, bei ihnen gebe es keine Irrtümer. Rieux bat
Rambert, nach dem Rechten zu sehen, und ein paar Tage darauf erschien Herr Othon bei ihm. Es war
tatsächlich ein Irrtum gewesen, und Rieux empörte sich ein wenig darüber. Aber Herr Othon, der mager
geworden war, erhob seine weiße Hand und sagte, sorgsam seine Worte wägend, es könne sich jeder
einmal irren. Der Arzt dachte nur, der Richter habe sich irgendwie verändert.
«Was werden Sie nun tun, Herr Richter? Ihre Akten warten auf Sie», sagte Rieux.
«Eben nicht», sagte der Richter. «Ich möchte einen Urlaub nehmen.»
«Ganz recht, Sie müssen sich erholen.»
«Nein, ich meine nicht das, ich möchte ins Lager zurück.»
Rieux verwunderte sich: «Aber Sie kommen ja gerade von dort!»
«Ich habe mich falsch ausgedrückt. Mir wurde gesagt, es gebe Freiwillige in der Lagerverwaltung.»
Der Richter rollte ein bißchen seine Kugelaugen und versuchte, eines seiner Haarbüschel
glattzustreichen.
«Sie verstehen, ich hätte eine Beschäftigung. Und dann - es klingt dumm -, ich würde mich weniger von
meinem kleinen Jungen getrennt fühlen.»
Rieux schaute ihn an. Es war nicht möglich, daß diese harten und abweisenden Augen plötzlich mild
schimmerten. Aber sie waren weicher geworden, sie hatten von ihrer metallenen Reinheit verloren.
«Gewiß», sagte Rieux, «wenn Sie es wünschen, werde ich dafür sorgen.»
Der Arzt sorgte wirklich dafür, und das Leben in der verpesteten Stadt nahm seinen Fortgang bis
Weihnachten. Tarrou trug weiterhin seine zielbewußte Ruhe mit sich herum. Rambert gestand dem Arzt,
daß er dank der beiden kleinen Wachen einen geheimen Briefwechsel mit seiner Frau habe zustande
bringen können. Hie und da bekam er einen Brief. Er bot Rieux an, ihm seine Verbindung zur Verfügung
zu stellen, und dieser nahm an. Zum erstenmal seit langen Monaten schrieb er wieder, aber mit der
größten Mühe. Es gab eine Sprache, die er verlernt hatte. Der Brief ging ab. Die Antwort ließ lange auf
sich warten. Cottard ging es gut, und seine kleinen Spekulationen machten ihn reich. Grand hingegen
sollte die Festzeit nicht gut bekommen.
Weihnachten war dieses Jahr eher das Fest der Hölle als das des Evangeliums. Leere, lichtlose Geschäfte,
Schokoladeattrappen oder hohle Konservenbüchsen in den Schaufenstern, von düsteren Gesichtern
gefüllte Straßenbahnen; nichts erinnerte an frühere Weihnachten. Das Fest, an dem sich früher alle, arm
und reich, freuten, ließ nur noch Raum für die wenigen einsamen Festgelage, die sich ein paar
Bevorzugte schuldbewußt in einem schmutzigen Hinterstübchen mit Goldes wert erkauften. Die Kirchen
waren eher von Klagen als von Dankgebeten erfüllt. In der trüben, verfrorenen Stadt liefen ein paar
Kinder umher, die noch nichts von dem wußten, was sie bedrohte. Aber niemand wagte es, ihnen den mit
Gaben beladenen Gott von ehemals zu verkünden, der alt ist wie die Mühsal der Menschen und jung wie
die neue Hoffnung. In allen Herzen war nur noch Raum für eine sehr alte und sehr trübe Hoffnung, nur
jene, die den Menschen hindert, sich dem Tod zu überlassen, und die nichts anderes ist als ein
verbissener Lebenswille.
Am Abend vorher war Grand nicht zur Verabredung gekommen. Beunruhigt ging Rieux am frühen
Morgen zu ihm und traf ihn nicht an. Er benachrichtigte alle anderen. Gegen elf Uhr kam Rambert ins
Spital, um dem Arzt zu melden, er habe Grand von weitem mit zerfallenem Gesicht in den Straßen
umherirren sehen. Dann habe er ihn aus den Augen verloren. Der Doktor und Tarrou machten sich im
Wagen auf die Suche.
Gegen Mittag - es war bitterkalt - sah Rieux, der ausgestiegen war, Grand von weitem ganz dicht an
einem Schaufenster stehen, in dem grobgeschnitzte Spielsachen ausgestellt waren. Über das Gesicht des
alten Beamten rannen unablässig Tränen. Und diese Tränen erschütterten Rieux, denn er verstand sie und
fühlte sie auch in seinem Hals würgen. Auch er sah im Geist, wie der arme Kerl sich einst vor einer
Weihnachtsauslage verlobt und wie Jeanne sich an ihn gelehnt hatte, um ihm zu sagen, sie sei glücklich.
Aus fernen Jahren, aus der Tiefe dieser Torheit heraus erklang sicher Jeannes frische Stimme in Grands
Ohren. Rieux wußte, was der alte, weinende Mann in dieser Minute dachte, und er dachte wie er, daß
diese Welt ohne Liebe eine tote Welt war und daß immer eine Stunde kommt, da man der Gefängnisse,
der Arbeit und des Mutes müde ist und nach dem Antlitz eines Menschen und dem von Zärtlichkeit
verzauberten Herzen verlangt.
Aber der andere erblickte ihn im Schaufenster. Ohne mit Weinen aufzuhören, drehte er sich um und
lehnte sich an die Scheibe, um ihm entgegenzusehen.
«Ach, Herr Doktor, ach, Herr Doktor», schluchte er verzweifelt.
Rieux nickte ihm verstehend zu, sprechen konnte er nicht. Diese Verzweiflung war auch die seine, und
was ihm in diesem Augenblick das Herz abdrückte, war ein ungeheurer Zorn, wie er den Menschen
angesichts des Leides, das alle Menschen gemeinsam tragen, übermannt.
«Ja, Grand», sagte er.
«Ich möchte Zeit haben, um ihr einen Brief zu schreiben, damit sie weiß . . . und damit sie ohne Reue
glücklich sein kann ...»
Rieux stieß Grand beinahe heftig vorwärts. Der ließ sich fast ziehen und stammelte weiterhin abgerissene
Sätze vor sich hin.
«Es dauert schon so lange. Da hat man natürlich Lust, sich gehen zu lassen. Ach, Herr Doktor! Ich sehe
für gewöhnlich so ruhig aus. Aber ich habe mich immer riesig anstrengen müssen, um nur normal zu
sein. Und jetzt ist es eben zuviel.»
Er zitterte an allen Gliedern und hatte irre Augen. Er hielt inne. Rieux faßte seine Hand. Sie glühte.
«Wir müssen nach Hause.»
Aber Grand entwischte ihm, lief ein paar Schritte, blieb dann stehen, breitete die Arme aus und begann
vorwärts und rückwärts zu schwanken. Er drehte sich um sich selber und fiel auf das vereiste Trottoir.
Sein Gesicht war verschmiert von den Tränen, die immer noch flössen. Die Leute auf der Straße schauten
von weitem zu, hielten jäh inne und getrauten sich nicht mehr weiterzugehen. Rieux mußte den alten
Mann auf die Arme nehmen.
Nun lag Grand im Bett und erstickte: die Lungen waren angegriffen. Rieux überlegte. Der Angestellte
hatte keine Verwandten. Wozu ihn also ins Spital bringen? Er und Tarrou würden ihn allein pflegen.
Grand lag tief in den Kissen, seine Haut war grünlich und sein Blick erloschen. Er starrte auf ein mageres
Feuer, das Tarrou mit Kistenresten im Kamin anzündete. «Es geht schlecht», sagte er hie und da. Und
aus der Tiefe seiner vom Feuer verzehrten Lungen drang ein merkwürdiges Röcheln, das jedes seiner
Worte begleitete. Rieux empfahl ihm zu schweigen und sagte, er werde wiederkommen. Ein seltsames
Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Kranken, und auch eine Art Zärtlichkeit. Er blinzelte mühsam.
«Wenn ich davonkomme, Herr Doktor, Hut ab!» Aber gleich darauf verfiel er in völlige
Teilnahmslosigkeit.
Ein paar Stunden später fanden Rieux und Tarrou den Kranken halb aufgerichtet in seinem Bett, und
Rieux las mit Schrecken auf seinem Gesicht die Fortschritte des Übels, das ihn verbrannte. Aber sein
Geist schien klarer, und er bat sogleich mit eigentümlich hohler Stimme, ihm das Manuskript zu bringen,
das in einer Schublade lag. Tarrou reichte ihm die Blätter; er drückte sie an sich, ohne sie anzusehen,
dann streckte er sie dem Arzt hin und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sie zu lesen. Es war ein
kurzes Manuskript von etwa fünfzig Seiten. Der Arzt blätterte darin und merkte, daß auf allen diesen
Blättern nur der eine, unzählige Male abgeschriebene, veränderte, bereicherte oder vereinfachte Satz
stand. Unaufhörlich traten sich der Monat Mai, die Amazone und die Alleen des Bois gegenüber und
ordneten sich auf verschiedene Weise. Das Werk enthielt auch manchmal überlange Erklärungen und
Varianten. Aber unten auf die letzte Seite hatte eine Hand mit noch frischer Tinte nur sorgfältig
geschrieben: «Meine liebste Jeanne, heute ist Weihnacht...» Darüber stand in bester Schönschrift die
letzte Fassung des Satzes. «Lesen Sie!» sagte Grand. Und Rieux las: «An einem schönen Maimorgen
durchritt eine schlanke Amazone auf einer prächtigen Fuchsstute inmitten der Blumen die Alleendes
Bois.»
«Hab ich's diesmal ?» fragte der Alte mit fiebriger Stimme.
Rieux schaute ihn nicht an.
«Ach!» sagte der andere und bewegte sich unruhig. «Schön, ich weiß schon, schön ist nicht das rechte
Wort.»
Rieux ergriff seine Hand, die auf der Decke lag.
«Lassen Sie, Herr Doktor, ich werde nicht Zeit haben ...» Seine Brust hob sich mühsam und plötzlich
schrie er: «Verbrennen Sie es!»
Der Arzt zögerte. Aber Grand wiederholte seinen Befehl mit einem so schrecklichen Ausdruck und so
großem Schmerz in der Stimme, daß Rieux die Blätter ins fast erloschene Feuer warf. Das Zimmer wurde
auf einmal hell und für einen kurzen Augenblick erwärmt. Als der Arzt wieder ans Bett trat, hatte der
Kranke sich umgedreht, und sein Gesicht berührte beinahe die Wand. Tarrou schaute aus dem Fenster,
als ginge ihn alles nichts an. Nachdem Rieux das Serum eingespritzt hatte, sagte er zu seinem Freund,
Grand werde die Nacht nicht überleben, und Tarrou bot an, er wolle bei ihm bleiben. Der Arzt willigte
ein.
Die ganze Nacht verfolgte ihn der Gedanke, daß Grand sterben werde. Aber am nächsten Morgen fand
Rieux Grand aufrecht im Bett sitzend. Er unterhielt sich mit Tarrou. Das Fieber war verschwunden. Es
blieben nur die Zeichen einer allgemeinen Erschöpfung.
«Ach, Herr Doktor», sagte der Angestellte, «ich habe unrecht gehabt. Aber ich werde neu anfangen. Ich
weiß noch alles. Sie werden sehen.»
«Warten wir ab», sagte Rieux zu Tarrou.
Aber am Mittag hatte sich nichts verändert. Am Abend konnte Grand als gerettet betrachtet werden.
Rieux begriff die Auferstehung nicht.
Ungefähr zur selben Zeit wurde eine Kranke zu Rieux gebracht, deren Zustand er als zweifelhaft ansah
und die er gleich bei ihrem Eintritt ins Spital absondern ließ. Das junge Mädchen lag im tiefsten Delirium
und hatte alle Anzeichen der Lungenpest. Aber am nächsten Morgen war das Fieber gefallen. Der Arzt
glaubte, wie bei Grand, es handle sich um die morgendliche Besserung, die er aus Erfahrung als
schlechtes Zeichen betrachtete. Am Mittag nahm das Fieber nur um ein paar Striche zu, und am nächsten
Morgen war es ganz verschwunden. Das junge Mädchen lag zwar schwach in seinem Bett, atmete aber
frei. Rieux sagte zu Tarrou, es sei gegen alle Regel gerettet. Doch kamen in dieser Woche vier gleiche
Fälle in Rieux' Abteilung vor.
Am Ende derselben Woche empfing der alte Asthmatiker den Arzt und Tarrou mit allen Zeichen einer
großen Aufregung.
«Da haben wir's», sagte er, «jetzt kommen sie wieder hervor.»
«Wer?»
«Nun, die Ratten!»
Seit dem Monat April war keine tote Ratte mehr gefunden worden.
«Fängt's wieder von vorne an?» sagte Tarrou zu Rieux.
Der Alte rieb sich die Hände.
«Man muß ihnen zuschauen, wie sie laufen! Eine Freude!» Er hatte zwei lebende Ratten zur Haustür
hereinspazieren sehen. Nachbarn hatten ihm berichtet, daß die Tiere auch bei ihnen wieder erschienen
waren. In gewissen Balken war wieder das seit Monaten vergessene Rascheln zu hören. Rieux wartete
die Veröffentlichungen der allgemeinen Statistik ab, die zu Beginn jeder Woche erschien.
Sie offenbarte einen Rückgang der Krankheit.
Obwohl dieser plötzliche Rückgang der Krankheit unverhofft kam, überließen sich unsere Mitbürger
keiner übereilten Freude. Die vergangenen Monate hatten zwar ihre Sehnsucht nach Freiheit gesteigert,
sie aber gleichzeitig die Vorsicht gelehrt und sie daran gewöhnt, immer weniger mit einem baldigen
Ende der Seuche zu rechnen. Indessen war dies neue Ergebnis in aller Mund, und im innersten Herzen
regte sich eine große, uneingestandene Hoffnung. Alles übrige wurde nebensächlich. Die neuen Opfer
der Pest wogen recht leicht, verglichen mit dieser unerhörten Tatsache: die Statistik war gefallen. Daß
unsere Mitbürger von nun an, wenn auch mit scheinbarer Gleichgültigkeit, davon sprachen, wie das
Leben nach der Pest wieder ins Gleis kommen werde, war eines der Anzeichen dafür, daß sie insgeheim
die Zeit der Gesundheit erwarteten, ohne sie frei zu erhoffen.
Alle waren sich darin einig, daß die Annehmlichkeiten des früheren Lebens kaum mit einem Schlag
zurückkehren würden und daß es leichter sei zu zerstören, als wieder aufzubauen. Jeder dachte nur, daß
die Ernährungslage etwas verbessert werden könnte und man auf diese Weise von der dringendsten
Sorge befreit würde. Aber in Wirklichkeit entstand hinter diesen harmlosen Bemerkungen urplötzlich
eine zügellose, wahnwitzige Hoffnung, die so übermächtig war, daß unsere Mitbürger sich ihrer
manchmal bewußt wurden und dann eilig versicherten, die Befreiung sei natürlich nicht von heute auf
morgen zu erwarten.
Und tatsächlich hielt die Pest auch nicht von heute auf morgen inne, aber sie schien schneller zu
erlahmen, als vernünftigerweise zu erhoffen war. In den ersten Januartagen brach eine ungewöhnlich
lang dauernde Kältewelle herein und schien über der Stadt zum Kristall zu werden. Und dennoch war der
Himmel nie so blau gewesen: Ganze Tage lang verströmte er in unwandelbarer, eisiger Pracht ein
ungetrübtes Licht über unsere Stadt. In dieser gereinigten Luft schien die Pest sich zu erschöpfen: im
Verlauf von drei Wochen fiel sie Stufe um Stufe zurück, und die Zahl der Leichen, die sie
aneinanderreihte, wurde immer kleiner. Innerhalb kurzer Zeit verlor sie beinahe die gesamten Kräfte, die
zu sammeln sie Monate gebraucht hatte. Wenn man sah, wie sie eine so leichte Beute wie Grand oder
Rieux' junges Mädchen fahren ließ; sich in gewissen Vierteln zwei, drei Tage lang austobte und aus
anderen ganz verschwand, wie sie am Montag zahlreiche Opfer forderte und am Mittwoch fast alle
entkommen ließ, wenn man sah, wie ihr einmal der Atem ausging, während sie sich ein anderes Mal
wieder überstürzte, hätte man sagen können, daß sie vor Kraftlosigkeit und Erschöpfung zerfiel, daß sie
mit der Herrschaft über sich selbst auch die mathematische und unumschränkte Wirksamkeit einbüßte,
die ihre Stärke ausgemacht hatte. Castels Serum erzielte plötzlich eine ganze Reihe von Erfolgen, die
ihm bisher versagt geblieben waren. Jede der ärztlichen Maßnahmen, die früher überhaupt kein Ergebnis
zeitigten, schien jetzt unfehlbar zu wirken. Es sah aus, als sei die Pest nun ihrerseits gehetzt und als
verstärke ihre plötzliche Schwäche die Kraft der stumpfen Waffen, die bisher gegen sie angewendet
wurden. Die Krankheit versteifte sich nur noch zeitweilig und raffte dann in einer Art blinder
Auflehnung drei oder vier Kranke hinweg, deren Heilung man erhoffte. Das waren die Pechvögel der
Pest, jene, die sie in der Blüte der Hoffnung tötete. Zu ihnen gehörte Othon, der aus dem
Quarantänelager fortgetragen werden mußte. Und von ihm sagte Tarrou auch, daß er kein Glück gehabt
habe. Indessen war nicht klar, ob er dabei den Tod oder das Leben des Richters meinte.
Aber im allgemeinen wich die Seuche auf der ganzen Linie zurück, und die amtlichen Mitteilungen, die
anfänglich eine geheime, schüchterne Hoffnung entstehen ließen, bestärkten die Bevölkerung schließlich
in ihrer Überzeugung, daß der Sieg errungen sei und die Krankheit ihre Stellungen aufgebe. In
Wirklichkeit war es schwer, zu behaupten, daß es sich um einen Sieg handelte. Es war nur festzustellen,
daß die Krankheit zu gehen schien, wie sie gekommen war. Die Art der Kriegsführung gegen sie hatte
sich nicht geändert. Gestern noch unwirksam, war sie heute offenbar erfolgreich. Nur hatte man den
Eindruck, daß die Krankheit sich von selbst erschöpft habe, oder vielleicht, daß sie sich zurückzog,
nachdem sie alle ihre Ziele erreicht hatte. Ihre Rolle war irgendwie zu Ende.
Dennoch hätte man sagen können, daß in der Stadt alles unverändert geblieben sei. Die Straßen waren
tagsüber noch immer stumm und am Abend von der gleichen Menschenmenge erfüllt, nur daß sie jetzt
vorwiegend Mäntel und Halstücher trug. Kinos und Cafés machten noch immer ganz gute Geschäfte.
Aber wer näher zusah, konnte bemerken, daß die Gesichter weniger verkrampft waren und manchmal
lächelten. Und bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, daß bisher auf der Straße kein Mensch gelächelt
hatte. In dem undurchdringlichen Schleier, der die Stadt seit Monaten umhüllte, war wirklich ein Riß
entstanden, und jeden Montag konnte jedermann an den Rundfunknachrichten feststellen, daß der Riß
sich vergrößerte und daß man endlich werde aufatmen dürfen. Auch dies war eine negative
Erleichterung, die sich nicht frei äußerte. Aber während man bisher nur ungläubig die Nachricht gehört
hätte, daß ein Zug abgefahren oder ein Schiff angekommen sei oder daß der Automobilverkehr wieder
gestattet werde, wäre die Meldung dieser Ereignisse um Mitte Januar ohne Überraschung aufgenommen
worden. Gewiß war das wenig. Aber diese unmerkliche Veränderung verdeutlichte tatsächlich die
ungeheuren Fortschritte, die unsere Mitbürger auf dem Wege der Hoffnung gemacht hatten. Es kann
übrigens gesagt werden, daß die eigentliche Herrschaft der Pest in dem Augenblick zu Ende war, da für
die Bevölkerung ein Fünklein Hoffnung wieder möglich wurde.
Das ändert nichts daran, daß die Reaktionen unserer Mitbürger während des ganzen Monats Januar
widerspruchsvoll waren. Genau gesagt waren sie abwechselnd erregt und niedergeschlagen. So waren
gerade dann neue Ausbruchsversuche zu verzeichnen, als die Statistik am günstigsten lautete. Das
überraschte die Behörden sehr, und da die meisten dieser Fluchtversuche gelangen, offenbar auch die
Wachtposten selber. Aber die Leute, die in diesen Augenblicken entwichen, gehorchten in Wirklichkeit
natürlichen Gefühlen. Bei den einen war durch die Pest eine tiefwurzelnde Skepsis entstanden, die sie
nicht mehr loswerden konnten. Die Hoffnung hatte keine Macht mehr über sie. Und während die Pestzeit
bereits vorüber war, fuhren sie fort, nach ihren Regeln zu leben. Sie hinkten hinter den Ereignissen drein.
Bei den anderen dagegen, vor allem bei jenen, die bisher von den geliebten Menschen getrennt gelebt
hatten, entzündete der beginnende Hoffnungshauch nach dieser langen Zeit der Abgeschlossenheit und
der Entmutigung ein Fieber und eine Ungeduld, die ihnen jede Selbstbeherrschung raubten. Sie wurden
von einer Art panischer Angst ergriffen beim Gedanken, daß sie, so nahe am Ziel, vielleicht noch sterben
mußten, daß sie das geliebte Wesen nicht mehr wiedersehen könnten und daß die langen Leiden ihnen
nicht gelohnt würden. Nachdem sie monatelang mit blinder Zähigkeit, trotz Gefangenschaft und
Verbannung, in der Erwartung verharrt waren, genügte der erste Hoffnungsschimmer, um alles zu
zerstören, was Angst und Verzweiflung nicht hatten antasten können. Wie Wahnsinnige stürzten sie
vorwärts, um der Pest zuvorzukommen, und waren nicht fähig, bis zum Schluß mit ihr Schritt zu halten.
Zur gleichen Zeit gab es übrigens unmittelbare Äußerungen der Zuversicht. So sanken die Preise spürbar.
Vom Standpunkt der reinen Wirtschaft aus war diese Bewegung nicht zu erklären. Die Schwierigkeiten
blieben unverändert, die Formalitäten der Quarantäne an den Toren waren beibehalten worden, und die
Ernährungslage war weit von einer Besserung entfernt. Man erlebte also eine rein moralische
Erscheinung, als habe das Abflauen der Pest überall seine Rückwirkungen. Gleichzeitig wurden auch
diejenigen zuversichtlich gestimmt, die ehedem in Gruppen lebten und durch die Krankheit zur Trennung
gezwungen worden waren. Die beiden Klöster der Stadt begannen sich wieder zu sammeln, und das
Gemeinschaftsleben konnte wieder aufgenommen werden. Das gleiche galt für die Soldaten, die man in
den freigebliebenen Kasernen zusammenfaßte: sie nahmen ihr gewöhnliches Garnisonsleben wieder auf.
Diese kleinen Begebenheiten waren große Zeichen.
Bis zum 25. Januar lebte die Bevölkerung in dieser geheimen Erregung. In jener Woche fiel die Statistik
auf einen so tiefen Stand, daß die Präfektur nach einer Besprechung mit den Ärzten bekanntgab, die
Epidemie könne als eingedämmt betrachtet werden. Die Mitteilung fügte allerdings hinzu, daß im
Bestreben, eine Vorsicht walten zu lassen, die die Bevölkerung gewiß billigen werde, die Tore der Stadt
noch zwei Wochen lang geschlossen bleiben und die Vorbeugungsmaßnahmen noch einen Monat
beibehalten werden sollten. Während dieser Zeit müßte beim geringsten Anzeichen eines
Wiederauflebens der Gefahr der Status quo aufrechterhalten und die Maßnahmen auf eine längere Zeit
ausgedehnt werden.
Alle waren sich jedoch in der Auffassung einig, daß diese Zusätze nur als Formsache anzusehen seien,
und am Abend des 25. Januar erfüllte ein freudig bewegtes Leben die Stadt. Um ihren Teil zur
allgemeinen Fröhlichkeit beizusteuern, befahl der Präfekt, die Beleuchtung der Friedenszeit wieder
einzuschalten. Unter dem kalten, klaren Himmel bummelten unsere Mitbürger in lärmenden, lachenden
Gruppen durch die hell erleuchteten Straßen.
Gewiß, in zahlreichen Häusern blieben die Laden geschlossen, und die Familien verbrachten diese Nacht,
die andere mit Jauchzen erfüllten, mit Schweigen. Und doch war die Erleichterung auch für viele dieser
Trauernden sehr groß; sei es, daß sie endlich nicht mehr befürchten mußten, andere Angehörige würden
ihnen entrissen; sei es, daß die Sorge um ihre eigene Erhaltung sie nicht mehr drückte. Aber am meisten
blieben ohne Zweifel jene Familien der allgemeinen Freude fremd, die in diesem Augenblick einen mit
der Pest ringenden Kranken in einem Spital hatten und die in den Quarantänelagern oder zu Hause darauf
warteten, daß die Heimsuchung endlich auch mit ihnen zu einem Ende komme, so wie sie mit den
anderen fertig war. Auch diese Familien schöpften natürlich Hoffnung, aber sie hielten damit zurück wie
mit einem Vorrat, den sie nicht angreifen wollten, ehe sie wirklich das Recht dazu hatten. Und diese
Erwartung, dieses schweigende Wachen, in der Mitte zwischen Todeskampf und Lebensfreude, erschien
ihnen im allgemeinen Jubel noch grausamer.
Aber diese Ausnahmen verringerten in keiner Weise die Befriedigung der anderen. Ohne Zweifel war die
Pest noch nicht zu Ende - und sie sollte das noch beweisen. Und doch fuhren in allen Gedanken schon
Wochen im voraus wieder pfeifende Züge auf endlosen Schienensträngen, durchfurchten Schiffe
leuchtende Meere. Am nächsten Tag würden die Geister ruhiger sein und die Zweifel wieder aufsteigen.
Aber für den Augenblick war die ganze Stadt erwacht, verließ die abgeschlossenen, finsteren und
unbeweglichen Orte, wo sie ihre steinernen Wurzeln geschlagen hatte, und setzte sich mit ihrer Fracht
Überlebender endlich in Bewegung. An jenem Abend schritten Tarrou und Rieux, Rambert und die
anderen inmitten der Menge dahin und fühlten wie sie den Boden unter ihren Füßen schwanken. Lange
nachdem Tarrou und Rieux die Boulevards verlassen hatten, hörten sie noch die Freude, die ihnen folgte,
während sie bereits in menschenleeren Gassen den Reihen geschlossener Fensterladen entlang gingen.
Und gerade wegen ihrer Müdigkeit konnten sie das Leiden, das hinter den Laden andauerte, nicht von der
Freude trennen, die unweit von ihnen die Straßen erfüllte.
Die sich nähernde Befreiung hatte ein gleichzeitig lachendes und weinendes Gesicht.
In einem Augenblick, da der Lärm lauter und fröhlicher wurde, blieb Tarrou stehen. Über das dunkle
Pflaster huschte ein Schatten. Es war eine Katze, die erste, die seit dem Frühjahr wieder gesehen wurde.
Sie blieb einen Moment unbeweglich auf der Straßenmitte, zögerte, leckte ihr Pfötchen, strich rasch
damit über ihr rechtes Ohr, setzte ihren unhörbaren Lauf fort und verschwand in der Nacht. Tarrou
lächelte. Auch der kleine Alte würde sich freuen.
Aber im Augenblick, da die Pest sich zu entfernen schien, um in den unbekannten Schlupfwinkel
zurückzukehren, aus dem sie schweigend hervorgegangen war, gab es zumindest einen Menschen in der
Stadt, den dieser Abzug in Bestürzung versetzte, und das war Cottard. So berichtet Tarrou.
Allerdings werden seine Aufzeichnungen von dem Augenblick an, da die Statistik zu sinken beginnt,
ziemlich seltsam. Vielleicht ist es die Ermüdung, jedenfalls wird die Schrift schwer lesbar, und er springt
zu schnell von einem Thema zum andern. Dazu fehlt es diesem Tagebuch zum erstenmal an Sachlichkeit;
an ihre Stelle treten persönliche Betrachtungen. So findet sich zum Beispiel mitten unter ziemlich langen
Abschnitten über den Fall Cottard ein kleiner Bericht über den Alten mit den Katzen. Tarrou versichert,
seine Achtung für diese Persönlichkeit, die ihn auch nach der Seuche unverändert fesselte, sei durch die
Pest um nichts verringert worden. Allerdings könnte sie ihn jetzt leider nicht mehr fesseln, aber daran sei
nicht sein eigenes Wohlwollen schuld. Denn er hatte versucht, den Alten wiederzusehen. Ein paar Tage
nach diesem Abend des 25. Januar hatte er sich an der Ecke des Sträßchens aufgestellt. Die Katzen
waren, dem Stelldichein getreu, erschienen und wärmten sich in den Sonnenflecken. Aber die Laden
blieben zur gewohnten Stunde hartnäckig geschlossen. Tarrou sah sie auch an den folgenden Tagen nie
mehr offen. In seiner Neugier schloß er daraus, daß der kleine Alte entweder verärgert oder tot sei; wenn
er verärgert sei, so deshalb, weil er sich im Recht vermeinte und die Pest ihm Unrecht getan habe; wenn
er aber tot sei, müsse man sich in seinem Fall wie in dem des alten Asthmatikers fragen, ob er ein
Heiliger gewesen sei. Tarrou glaubte es nicht, aber er war der Ansicht, das Beispiel dieses Greises
enthalte einen «Hinweis». «Vielleicht», bemerkte das Tagebuch, «kann man nur annäherungsweise an
die Heiligkeit herankommen. In diesem Fall müßte man sich mit einem bescheidenen und
wohlwollenden Satanismus begnügen.»
Ebenfalls mit den Ausführungen über Cottard verflochten finden sich im Tagebuch auch zahlreiche, oft
verstreute Beobachtungen; einerseits über Grand, der fast ganz wiederhergestellt war und seine Arbeit
aufgenommen hatte, als sei nichts geschehen, und andererseits über Dr. Rieux' Mutter. Die paar
Gespräche, die das Zusammenwohnen zwischen ihr und Tarrou ermöglichte, die Bewegungen der alten
Frau, ihr Lächeln, ihre Bemerkungen zur Pest sind sorgfältig aufgezeichnet. Tarrou betont hauptsächlich
Frau Rieux' bescheidene Zurückhaltung, ihre Art, alles in einfachen Sätzen auszudrücken, ihre besondere
Vorliebe für ein bestimmtes Fenster, das auf die stille Straße hinausging. Hier saß sie des Abends, ein
bißchen steif, mit ruhigen Händen und aufmerksamem Blick, bis die Dämmerung das Zimmer erfüllte,
sie in dem grauen, langsam dunkler werdenden Licht allmählich zu einem schwarzen Schatten werden
ließ und ihre unbewegliche Gestalt bald ganz verschluckte. Tarrou betonte die Schwerelosigkeit, mit der
sie sich von einem Zimmer ins andere begab, ihre Güte, von der Tarrou keinen bestimmten Beweis erlebt
hatte, deren Schein er jedoch in allen ihren Worten und Handlungen erkannte; und schließlich die
Tatsache, daß sie seiner Meinung nach alles wußte, ohne je zu überlegen, und daß sie mit so viel Stille
und Schatten auf der Höhe eines jeden Lichts, und wäre es das der Pest, bleiben konnte. Hier wies
Tarrous Schrift übrigens seltsame Zeichen der Nachlässigkeit auf. Die folgenden Zeilen waren fast
unleserlich, und wie um einen neuen Beweis dieses Nachgebens zu liefern, waren die letzten Worte die
ersten persönlichen. «So war meine Mutter, ich liebte an ihr dieselbe Zurückhaltung, und ihr habe ich
immer gleichen wollen. Vor acht Jahren ist sie -ich kann nicht sagen gestorben. Sie hat sich einfach ein
bißchen mehr zurückgezogen als sonst, und als ich mich umdrehte, war sie nicht mehr da.»
Aber wir müssen zu Cottard übergehen. Seitdem die Statistik sank, hatte er unter verschiedenen
Vorwänden Rieux mehrere Besuche gemacht. In Wirklichkeit hatte er Rieux jedesmal um Voraussagen
über den Verlauf der Epidemie gebeten. «Glauben Sie, daß sie einfach so aufhören kann, so auf einmal,
ohne Warnung?» Er hatte seine diesbezüglichen Zweifel, oder sagte es zumindest. Seine immer wieder
gestellten Fragen schienen eine weniger feste Überzeugung zu verraten. Mitte Januar hatte Rieux
ziemlich zuversichtlich geantwortet. Und jedesmal hatten diese Antworten, anstatt Cottard zu freuen, ihm
je nach den Tagen verschiedene Äußerungen entlockt, die aber alle von schlechter Laune bis zu
Niedergeschlagenheit gingen. In der Folge war der Arzt gezwungen gewesen, ihm mitzuteilen, daß man
trotz aller günstigen Anzeichen in der Statistik noch kein Siegesgeschrei erheben dürfe.
«Anders gesagt», hatte Cottard bemerkt, «weiß man nichts; es kann von einem Tag zum andern wieder
anfangen?»
«Ja, gerade so gut, wie es möglich ist, daß die Heilung raschere Fortschritte macht.»
Diese für alle anderen aufreibende Unsicherheit hatte Cottard sichtlich erleichtert, und in Tarrous
Gegenwart hatte er mit den Kaufleuten seines Viertels Gespräche angefangen, in denen er Rieux' Ansicht
zu verbreiten suchte. Das war tatsächlich nicht schwer. Denn nach dem Fieber der ersten Siege waren
viele Gemüter wieder von Zweifeln besessen, die sich stärker zeigten als die von der amtlichen Erklärung
verursachte Erregung. Cottard beruhigte sich beim Anblick dieser Besorgtheit. Andere Male verlor er
den Mut auch wieder. «Ja», sagte er oft zu Tarrou, «man wird schließlich die Tore wieder öffnen. Und
Sie werden sehen, wie mich alle fallenlassen!»
Bis zum 25. Januar war jedermann die Unbeständigkeit seines Charakters aufgefallen. Nachdem er so
lange versucht hatte, sein Viertel und seine Bekannten zu gewinnen, stieß er sie nun tagelang vor den
Kopf. Er zog sich dann, wenigstens scheinbar, von der Welt zurück und wurde von einem Tag zum
andern menschenscheu. Er wurde weder im Restaurant noch im Theater, noch in den Cafés gesehen, die
er liebte. Und doch schien er sich nicht in das maßvolle und dunkle Leben zurückzufinden, das er vor der
Seuche geführt hatte. Er lebte vollständig zurückgezogen in seiner Wohnung und ließ sich die
Mahlzeiten von einem nahen Restaurant heraufbringen. Erst am Abend ging er verstohlen aus, kaufte,
was er brauchte, trat aus den Geschäften und stürzte sich in einsame Gassen. Wenn Tarrou ihm dann
begegnete, fand er ihn immer äußerst einsilbig. Dann wurde er ohne Übergang wieder gesellig, sprach
ausführlich von der Pest, bat jeden um seine Meinung und tauchte jeden Abend wohlgefällig in der Flut
der Menge unter.
Am Tag der amtlichen Mitteilung verschwand Cottard völlig aus dem Verkehr. Zwei Tage später traf ihn
Tarrou, wie er durch die Straßen irrte. Cottard bat ihn, er möge ihn bis in die Vorstadt zurückbegleiten.
Tarrou fühlte sich von seinem Tagewerk ganz besonders ermüdet und zögerte. Aber der andere bestand
darauf. Er schien sehr erregt, fuchtelte unruhig mit den Händen und sprach schnell und laut. Er fragte
seinen Gefährten, ob er glaube, daß die amtliche Mitteilung der Pest tatsächlich ein Ende mache. Tarrou
fand, eine Erklärung der Verwaltung genüge an sich noch nicht, um eine Seuche zum Stillstand zu
bringen, aber es sei allen Ernstes zu glauben, daß die Epidemie aufhören werde, falls sich nichts
Unvorhergesehenes ereigne.
«Ja», sagte Cottard, «falls sich nichts Unvorhergesehenes ereignet. Und unverhofft kommt oft.»
Tarrou gab ihm zu bedenken, daß die Präfektur das Unvorhergesehene gewissermaßen vorgesehen habe,
da sie ja eine Frist von zwei Wochen vor der Öffnung der Tore festsetze.
«Und sie hat wohl daran getan», sagte Cottard, immer noch düster und aufgeregt, «denn so wie die Dinge
liegen, wäre es wohl möglich, daß sie ins Blaue geredet hat.»
Tarrou fand, das sei möglich, aber es sei doch besser, man fasse die baldige Öffnung der Tore und die
Rückkehr zu einem normalen Leben ins Auge.
«Zugegeben», sagte Cottard, «zugegeben, aber was heißt Rückkehr zu einem normalen Leben?»
«Neue Filme im Kino», antwortete Tarrou lächelnd.
Aber Cottard lächelte nicht. Er wollte wissen, ob man annehmen müsse, die Pest habe in der Stadt nichts
geändert und alles fange wieder an wie früher, das heißt, als sei nichts geschehen. Tarrou fand, die Pest
habe die Stadt verändert und nicht verändert; er meinte, daß es natürlich der größte Wunsch unserer
Mitbürger sei und bleiben werde, so zu tun, als ob nichts verändert wäre, und daß infolgedessen in
gewissem Sinne nichts verändert sei; daß man aber in einem anderen Sinne nicht alles vergessen könne,
auch mit dem nötigen Willen nicht, und daß die Pest zumindest in den Herzen Spuren hinterlassen werde.
Der kleine Rentner erklärte rundheraus, das Herz interessiere ihn nicht, das Herz sei sogar sein letzter
Kummer. Was ihn interessierte, war zu wissen, ob die Organisation an sich nicht verwandelt werde, ob
zum Beispiel alle Dienststellen wie früher arbeiten würden. Und Tarrou mußte gestehen, das wisse er
nicht. Er glaubte, es sei anzunehmen, daß alle diese Ämter, die während der Seuche durcheinander
geraten waren, ein wenig Mühe hätten, wieder in Betrieb zu kommen. Es könne auch vermutet werden,
daß sich eine Menge neuer Probleme einstelle, die zumindest eine Reorganisation der alten Ämter nötig
mache.
«Aha», sagte Cottard, «das ist tatsächlich möglich; es werden alle neu anfangen müssen.»
Die beiden Spaziergänger waren bei Cottards Haus angelangt. Der erschien munterer und zwang sich zur
Zuversicht. Er stellte sich die Stadt vor, wie sie wieder zu leben anfing, ihre Vergangenheit auslöschte,
um ganz von vorne zu beginnen.
«Gut», sagte Tarrou. «Schließlich wird sich vielleicht auch Ihre Angelegenheit in Ordnung bringen
lassen. Es ist gewissermaßen ein neues Leben, das beginnen wird.»
Sie standen vor der Tür und reichten sich die Hand.
«Sie haben recht», sagte Cottard immer aufgeregter, «ganz von vorn anfangen, das wäre gut.»
Aber aus dem Dunkel des Flurs waren zwei Männer aufgetaucht. Tarrou hatte kaum Zeit, zu hören, wie
sein Begleiter fragte, was wohl die beiden Vögel wollten. Die Vögel, die aussahen wie Beamte in
Sonntagskleidern, fragten Cottard nämlich, ob sein Name Cottard sei. Der unterdrückte einen dumpfen
Ausruf, drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand in der Nacht, noch ehe die anderen oder
Tarrou Zeit hatten, auch nur einen Finger zu rühren. Als die erste Überraschung verflogen war, fragte
Tarrou die beiden Männer nach ihrem Begehr. Sie setzten eine zurückhaltende, höfliche Miene auf,
sagten, es handle sich um Erkundigungen, und entfernten sich gesetzt in der Richtung, die Cottard
eingeschlagen hatte.
Als Tarrou heimgekehrt war, berichtete er diese Szene und verzeichnete gerade darauf seine Müdigkeit
(die Schrift war Beweis genug). Er fügte hinzu, er habe noch viel zu tun, aber das sei kein Grund, sich
nicht bereitzuhalten, und er fragte sich, ob er wirklich bereit sei. Zum Schluß antwortete er, und das ist
das Ende von Tarrous Tagebuch, daß es immer eine Stunde des Tages oder der Nacht gebe, da ein
Mensch feige sei, und daß er nur vor dieser Stunde Angst habe.
Am übernächsten Mittag, wenige Tage vor der Öffnung der Tore, fragte sich Dr. Rieux auf dem Weg
nach Hause, ob er das erwartete Telegramm vorfinden werde. Obwohl seine Tage immer noch gleich
anstrengend waren wie zur schlimmsten Zeit der Pest, hatte die Erwartung der Befreiung seine ganze
Müdigkeit verscheucht. Er hoffte jetzt, und darüber freute er sich. Niemand kann seinen Willen ewig
anspannen und sich immer hart machen, und es ist ein beglückendes Gefühl, wenn man endlich aus
vollem Herzen diese Garbe der Kräfte lösen kann, die für den Kampf geflochten war. Wenn auch das
erwartete Telegramm günstig lautete, konnte Rieux neu beginnen. Und er war der Ansicht, daß alle
Menschen neu beginnen sollten.
Er kam an der Hausmeisterwohnung vorbei. Der neue Hauswart drückte sein Gesicht gegen das Fenster
und lächelte ihm zu. Während Rieux die Treppe hinaufstieg, sah er noch einmal sein von Müdigkeit und
Entbehrungen blasses Gesicht.
Ja, er wollte neu beginnen. Sobald die Abstraktion zu Ende sein würde, und mit ein bißchen Glück . . .
Aber in diesem Augenblick öffnete er die Tür, und seine Mutter kam ihm entgegen, um ihm mitzuteilen,
daß es Herrn Tarrou nicht gutgehe. Er war am Morgen aufgestanden, hatte aber nicht ausgehen können
und sich eben wieder niedergelegt. Frau Rieux war in Sorge.
«Vielleicht ist es nichts Schlimmes», sagte ihr Sohn.
Tarrou lag ganz ausgestreckt; sein schwerer Kopf war im Kissen vergraben, seine starke Brust zeichnete
sich unter den dicken Wolldecken ab. Er hatte Fieber, und Kopfschmerzen quälten ihn. Er sagte Rieux,
die Anzeichen seien zwar unbestimmt, könnten jedoch sehr wohl die Pest bedeuten.
«Nein, noch nichts Bestimmtes», sagte Rieux, nachdem er ihn untersucht hatte.
Aber Tarrou wurde von Durst verzehrt. Im Gang sagte der Arzt zu seiner Mutter, daß es der Anfang der
Pest sein könne.
«Oh!» sagte sie. «Das ist doch nicht möglich, nicht jetzt!» Und gleich darauf: «Wir wollen ihn hier
behalten, Bernard.»
Rieux überlegte.
«Ich habe nicht das Recht dazu», sagte er. «Aber die Tore werden bald geöffnet. Ich glaube wohl, daß
dies das erste Recht wäre, das ich für mich beanspruche, wenn du nicht hier wärst.»
«Bernard», sagte sie, «behalte uns alle beide. Du weißt ja, daß ich eben frisch geimpft worden bin.»
Der Arzt sagte, das sei auch bei Tarrou der Fall. Aber vor Erschöpfung habe er vielleicht die letzte
Einspritzung verpaßt und ein paar Regeln der Vorsicht unterlassen.
Rieux ging schon in sein Untersuchungszimmer. Als er zu Tarrou zurückkehrte, sah dieser, daß er die
riesigen Ampullen mit dem Serum in Händen hielt.
«Ach, das ist es», sagte er.
«Nein, nur eine Vorsichtsmaßnahme.»
Anstatt zu antworten, hielt Tarrou seinen Arm hin und ließ die endlose Einspritzung, die er selbst
anderen Kranken gemacht hatte, über sich ergehen.
«Heute abend werden wir sehen», sagte Rieux.
Und er schaute Tarrou gerade ins Gesicht.
«Und die Absonderung, Rieux?» fragte ihn der Freund.
«Es ist gar nicht sicher, daß Sie wirklich die Pest haben.»
Tarrou lächelte mühsam.
«Dies ist das erste Mal, daß ich sehe, wie Serum eingespritzt wird, ohne daß gleichzeitig die
Absonderung verordnet würde.»
Rieux wandte sich ab.
«Meine Mutter und ich werden Sie pflegen. Sie sind hier besser aufgehoben.»
Tarrou schwieg, und der Arzt ordnete die Ampullen und wartete auf ein Wort des anderen, um sich
umzuwenden. Schließlich trat er ans Bett. Der Kranke schaute ihn an. Sein Gesicht sah müde aus, aber
seine grauen Augen waren ruhig. Rieux lächelte ihm zu.
«Schlafen Sie, wenn Sie können. Ich werde bald wiederkommen.»
Er war schon an der Tür, als er Tarrou rufen hörte. Er kehrte zu ihm zurück.
Aber Tarrou schien Mühe zu haben, das auszudrücken, was er zu sagen hatte.
«Rieux», brachte er schließlich hervor, «Sie müssen mir alles sagen, ich brauche es.»
«Ich verspreche es Ihnen.»
Der andere verzog sein wuchtiges Gesicht zu einem Lächeln.
«Danke. Ich habe keine Lust zu sterben und werde kämpfen. Aber wenn das Spiel verloren ist, will ich
ein guter Verlierer sein.»
Rieux neigte sich zu ihm nieder und faßte ihn kräftig an den Schultern.
«Nein», sagte er, «um ein Heiliger zu werden, muß man leben. Kämpfen Sie.»
Im Verlauf des Tages nahm die empfindliche Kälte ein wenig ab, aber nur, um am Nachmittag heftigen
Regen- und Hagelschauern zu weichen. Gegen Abend hellte sich der Himmel etwas auf, und die Kälte
wurde durchdringender. Rieux kam spät nach Hause. Ohne seinen Mantel abzulegen, betrat er das
Zimmer seines Freundes. Seine Mutter strickte. Tarrou schien sich nicht gerührt zu haben, aber seine
fiebergebleichten Lippen drückten aus, welchen Kampf er durchfocht.
«Nun?» fragte der Arzt.
Tarrou hob seine breiten Schultern ein wenig aus dem Bett.
«Nun», sagte er, «ich verliere das Spiel.»
Der Arzt beugte sich über ihn. Unter der brennenden Haut hatten sich Knoten gebildet, seine Brust schien
vom Lärm einer ganzen unterirdischen Schmiede zu widerhallen. Seltsamerweise zeigten sich an Tarrou
beide Symptomreihen. Rieux richtete sich auf und sagte, das Serum habe noch nicht Zeit gehabt, seine
Wirkung voll zu entfalten. Aber eine Fieberwelle, die Tarrous Kehle überschwemmte, erstickte die paar
Worte, die er zu sagen versuchte.
Nach dem Mittagessen setzten sich Rieux und seine Mutter zu dem Kranken. Für ihn begann die Nacht
im Kampf, und Rieux wußte, daß dieses harte Ringen mit dem Pestengel bis zum Morgengrauen dauern
würde. Nicht die kräftigen Schultern und die breite Brust waren Tar-rous beste Waffen, sondern vielmehr
das Blut, das Rieux am Mittag unter seiner Nadel hatte hervorspritzen lassen, und in diesem Blut das,
was noch tiefer lag als die Seele und das keine Wissenschaft ans Licht bringen konnte. Und er mußte
zusehen, wie sein Freund sich wehrte. Was er unternehmen würde, die Abszesse, die er fördern sollte, die
stärkenden Mittel, die er ihm einflößen mußte - mehrere Monate wiederholten Mißlingens hatten ihn
gelehrt, ihre Wirksamkeit richtig einzuschätzen. Seine Aufgabe bestand tatsächlich einzig darin,
Gelegenheiten für den Zufall zu schaffen, der sich allzuoft nur bemüht, wenn er herausgefordert wird,
und der Zufall mußte sich bemühen. Denn Rieux sah sich vor einem Gesicht der Pest, das ihn verwirrte.
Einmal mehr war sie darauf bedacht, die gegen sie aufgestellten Kampfpläne zu vereiteln. Sie tauchte
dort auf, wo man sie nicht erwartete, um von dort zu verschwinden, wo sie sich bereits niedergelassen zu
haben schien. Wieder einmal war sie darauf bedacht, in Erstaunen zu setzen.
Tarrou kämpfte regungslos. Während der Nacht stellte er dem Ansturm des Übels kein einziges Mal die
Erregung entgegen. Er wehrte sich nur mit seiner ganzen Schwere und seinem ganzen Schweigen. Aber
er sprach auch kein einziges Mal und gab so auf seine Art zu verstehen, daß ihm keine Ablenkung mehr
möglich war. Rieux konnte die Entwicklung des Ringens nur an den Augen seines Freundes verfolgen:
sie waren abwechselnd offen oder geschlossen, die Lider fester an den Glaskörper gepreßt oder im
Gegenteil gelöst, der Blick starr auf einen Gegenstand gerichtet oder dem Arzt und seiner Mutter
zugewandt. Jedesmal, wenn der Arzt diesem Blick begegnete, lächelte Tarrou mit großer Anstrengung.
Einmal waren eilige Schritte auf der Straße zu hören. Sie schienen vor einem fernen Grollen zu fliehen,
das allmählich näher kam und schließlich die ganze Stadt mit seinem Rauschen erfüllte; der Regen
begann wieder, bald mit Hagel vermischt, der auf die Trottoirs prasselte. Die großen Vorhänge an den
Fenstern bauschten sich. Rieux hatte sich vom Regen einen Augenblick lang ablenken lassen und
betrachtete jetzt im Dämmer des Raums wieder Tarrou, auf den das Licht einer Nachtlampe fiel. Frau
Rieux strickte und hob von Zeit zu Zeit den Kopf, um den Kranken aufmerksam anzusehen. Der Arzt
hatte jetzt alles unternommen, was er tun konnte. Nach dem Regen wurde die Stille in dem Zimmer, das
nur vom stummen Aufruhr eines unsichtbaren Krieges erfüllt war, wieder dichter. Vor Schlaflosigkeit
überreizt, vermeinte der Arzt am Rande der Stille jenes leise, regelmäßige Pfeifen zu hören, das ihn
während der ganzen Epidemie begleitet hatte. Er bedeutete seiner Mutter mit Zeichen, sie solle sich
schlafen legen. Sie weigerte sich mit einem Kopfschütteln, und ihre Augen leuchteten auf, dann prüfte
sie mit der Spitze der Stricknadel sorgfältig eine Masche, die ihr nicht zu stimmen schien. Rieux erhob
sich, um dem Kranken zu trinken zu geben, dann setzte er sich wieder.
Fußgänger benutzten das vorübergehende Aufhören des Regens und gingen eilig über das Trottoir. Ihre
Schritte wurden leiser und entfernten sich. Der Arzt bemerkte zum erstenmal, daß diese von verspäteten
Fußgängern belebte Nacht ohne das Bimmeln der Krankenwagen den Nächten aus früheren Zeiten glich.
Es war eine von der Pest befreite Nacht. Und es war, als sei die Krankheit von der Kälte, den Lichtern
und der Menge verjagt worden und habe sich aus den dunklen Tiefen der Stadt in dieses warme Zimmer
geflüchtet, um einen letzten Angriff gegen Tarrous schlaffen Körper zu unternehmen. Der Dreschflegel
wirbelte nicht mehr am Himmel über der Stadt, sondern pfiff leise in der schweren Luft des Zimmers. Er
war es, den Rieux seit Stunden hörte. Man mußte warten, bis er auch hier innehielt, bis die Pest sich auch
hier geschlagen gab.
Kurz vor Morgengrauen beugte sich Rieux zu seiner Mutter.
«Du solltest dich niederlegen, damit du mich um acht Uhr ablösen kannst. Mach noch die
Einträufelungen, ehe du schlafen gehst.»
Frau Rieux erhob sich, legte ihr Strickzeug beiseite und trat ans Bett. Tarrou hielt seine Augen schon seit
einiger Zeit geschlossen. Der Schweiß lockte seine Haare über der harten Stirn. Frau Rieux seufzte, und
der Kranke schlug die Augen auf. Er sah das weiche Gesicht über sich geneigt, und trotz der
Fieberwellen erschien noch einmal das zähe Lächeln. Aber die Augen schlössen sich sogleich wieder.
Als Rieux allein war, setzte er sich in den Sessel, den seine Mutter eben verlassen hatte. Die Straße war
stumm und das Schweigen nun vollkommen. Die morgendliche Kälte machte sich im Zimmer
bemerkbar.
Der Arzt nickte ein, aber das erste Fahrzeug des grauenden Tages riß ihn aus seinem Schlummer. Er
fröstelte. Er schaute Tarrou an und bemerkte, daß eine Pause eingetreten war und der Kranke ebenfalls
schlief. Die hölzernen und eisernen Räder des Pferdefuhrwerks rollten in der Ferne. Am Fenster war der
Tag noch dunkel. Als der Arzt ans Bett trat, blickte Tarrou ihn mit ausdruckslosen Augen an, als befinde
er sich noch auf der Seite des Schlafs.
«Sie haben geschlafen, nicht wahr?» fragte Rieux.
«Ja.»
«Können Sie besser atmen?»
«Ein bißchen. Hat das etwas zu bedeuten? »
Rieux schwieg. Nach einer Weile sagte er: «Nein, Tarrou, das hat nichts zu bedeuten. Sie kennen die
morgendliche Besserung so gut wie ich.»
Tarrou nickte.
«Danke», sagte er. «Antworten Sie mir immer ganz genau.»
Rieux hatte sich auf das Fußende des Bettes gesetzt. Er spürte die langen, harten Beine des Kranken
neben sich wie die Glieder einer Grabfigur. Tarrou atmete schwer. «Das Fieber wird wiederkommen,
nicht wahr, Rieux?» fragte er keuchend.
«Ja, aber um Mittag werden wir Gewißheit haben.»
Tarrou schloß die Augen und schien seine Kräfte zusammenzureißen. Seine Züge drückten Ermattung
aus. Er erwartete das Steigen des Fiebers, das sich schon in seinem Innern zu regen begann. Als er die
Augen öffnete, war sein Blick glanzlos. Er leuchtete erst auf, als er Rieux sah, der sich zu ihm neigte.
«Trinken Sie», sagte Rieux.
Der andere trank und ließ seinen Kopf zurückfallen.
«Es dauert lange», sagte er.
Rieux faßte seinen Arm, aber Tarrou hatte den Blick abgewendet und reagierte nicht mehr. Und plötzlich
strömte das Fieber sichtbar wieder bis unter die Haarwurzeln, als habe es einen inneren Damm
gebrochen. Als Tarrou den Arzt wieder anblickte, ermutigte ihn dieser mit seinem angespannten Gesicht.
Das Lächeln, das Tarrou sich nochmals abzuringen suchte, drang nicht mehr über die
zusammengepreßten Kiefer und die von weißem Schaum zugemauerten Lippen. Aber in seinem
versteinerten Gesicht leuchteten die Augen noch mit dem Glanz ungebrochenen Mutes.
Um sieben Uhr trat Frau Rieux ein. Der Arzt begab sich in sein Arbeitszimmer, um das Spital zu
benachrichtigen und für einen Vertreter zu sorgen. Er beschloß auch, seine Besuche zu verschieben, legte
sich einen Augenblick auf den Diwan seines Untersuchungszimmers, erhob sich aber fast sogleich
wieder und kehrte zu dem Kranken zurück. Tarrou hatte seinen Kopf Frau Rieux zugekehrt. Er
betrachtete den kleinen Schatten, der neben ihm zusammengesunken in einem Stuhl saß und die Hände
im Schoß gefaltet hielt. Und er schaute Frau Rieux so eindringlich an, daß sie einen Finger an die Lippen
legte und sich erhob, um die Nachtlampe zu löschen. Aber das Tageslicht drang bald durch die
Vorhänge, und als die Umrisse des Kranken kurz darauf aus der Dunkelheit auftauchten, konnte Frau
Rieux sehen, daß er sie immer noch anblickte. Sie beugte sich zu ihm nieder, schüttelte das Kissen
zurecht und legte ihre Hand einen Augenblick auf seine feuchten, wirren Haare, ehe sie sich wieder
aufrichtete. Da hörte sie, wie eine dumpfe Stimme aus weiter Ferne ihr Danke sagte und daß jetzt alles
gut sei. Als sie sich wieder gesetzt hatte, waren Tarrous Augen geschlossen, und sein erschöpftes Gesicht
schien trotz des versiegelten Mundes wieder zu lächeln.
Am Mittag erreichte das Fieber seinen Höhepunkt. Ein aus der Tiefe des Körpers brechender Husten
erschütterte den Leib des Kranken, der nun Blut zu spucken begann. Die Lymphknoten waren nicht mehr
weiter angeschwollen. Sie waren noch immer vorhanden, hart wie in die Gelenkhöhlen versenkte
Schrauben, und Rieux hielt es für unmöglich, sie zu öffnen. In den Pausen zwischen Fieber und Husten
schaute Tarrou seine Freunde hie und da noch an. Aber bald öffneten sich seine Augen immer seltener,
und das Licht, das dann sein verwüstetes Gesicht erhellte, war jedesmal bleicher. Der Gewittersturm, der
diesen Körper in heftigen, krampfartigen Zuckungen schüttelte, erleuchtete ihn mit immer selteneren
Blitzen, und auf dem Grunde dieses Sturms wurde Tarrou langsam abgetrieben. Rieux hatte nur noch
eine nunmehr leblose Masse vor sich, aus der das Lächeln verschwunden war. Diese menschliche
Gestalt, die ihm so nahegestanden, war jetzt von Schwerthieben durchbohrt, von einem
übermenschlichen Übel verbrannt, von allen Haßwinden des Himmels verkrümmt und versank vor
seinen Augen in den Fluten der Pest, und er vermochte nichts gegen diesen Schiffbruch. Er mußte am
Ufer bleiben und mit leeren Händen und zerrissenem Herzen zusehen; wiederum stand er diesem
Verhängnis hilflos und ohne Waffen gegenüber. Und am Ende waren es die Tränen der Ohnmacht, die
Rieux daran hinderten, zu sehen, wie Tarrou sich plötzlich gegen die Wand kehrte und in einer hohlen
Klage sein Leben aushauchte, als sei irgendwo in ihm eine unentbehrliche Saite gesprungen.
Die Nacht, die folgte, war nicht die Nacht des Kampfes, sondern des Schweigens. In der
Weltabgeschiedenheit dieses Zimmers mit dem jetzt angekleideten Toten spürte Rieux wieder jene
gleiche, überraschende Ruhe, die viele Nächte zuvor auf den Terrassen über der Pest dem Angriff auf die
Tore gefolgt war. Schon damals hatte er an das Schweigen gedacht, das von den Betten ausging, in denen
er Menschen hatte sterben lassen. Es war überall das gleiche Innehalten, dieser gleiche, feierliche
Zwischenhalt, immer die gleiche Besänftigung, die dem Kampf folgte, es war das Schweigen der
Niederlage. Aber jenes, das nun seinen Freund einhüllte, war so undurchdringlich, eins mit dem
Schweigen der Straße und der von der Pest befreiten Stadt, daß Rieux deutlich fühlte, daß es sich diesmal
um die endgültige Niederlage handelte, um jene Niederlage, die die Kriege beendet und noch aus dem
Frieden ein unheilbares Leiden macht. Der Arzt wußte nicht, ob Tarrou schließlich den Frieden gefunden
hatte, aber er glaubte zu wissen, wenigstens in diesem Augenblick, daß für ihn selbst ein Friede niemals
mehr möglich sein werde, so wie es für die Mutter, die ihren Sohn verloren hat, oder für den Mann, der
seinen Freund begräbt, keinen Waffenstillstand gibt.
Draußen herrschte die gleiche kalte Nacht, mit erfrorenen Sternen am klaren, eisigen Himmel. Im
halbdunklen Zimmer spürte man die Kälte auf den Scheiben lasten und das weite, fahle Atmen einer
Polarnacht. Neben dem Bett saß Frau Rieux in ihrer gewohnten Haltung, das Nachtlicht erhellte ihre
rechte Seite. In der Mitte des Zimmers, fern vom Licht, wartete Rieux in seinem Sessel. Immer wieder
kam ihm der Gedanke an seine Frau, aber er verscheuchte ihn jedesmal.
Zu Beginn der Nacht tönten die Absätze der Vorübergehenden hell in der Kälte.
«Hast du alles besorgt?» hatte Frau Rieux gefragt.
«Ja, ich habe telefoniert.»
Dann hatten sie ihre schweigsame Totenwache wieder aufgenommen. Von Zeit zu Zeit schaute Frau
Rieux ihren Sohn an. Wenn er einen ihrer Blicke auffing, lächelte er ihr zu. Auf der Straße waren sich die
vertrauten Geräusche der Nacht gefolgt. Zahlreiche Fahrzeuge verkehrten wieder, obwohl die
Bewilligung noch nicht erteilt war. Sie glitten rasch über das Pflaster, verschwanden und tauchten wieder
auf. Stimmen, Rufe, wieder Stille, der Hufschlag eines Pferdes, zwei in einer Biegung kreischende
Straßenbahnen, undeutliche Geräusche und dann von neuem das Atmen der Nacht.
«Bernard?»
«Ja.»
«Bist du nicht müde ? »
«Nein.»
Er wußte, was seine Mutter dachte und daß sie ihn in diesem Augenblick liebte. Aber er wußte auch, daß
die Liebe zu einem Menschen nicht viel bedeutet, oder zumindest, daß eine Liebe niemals stark genug
ist, um den ihr gemäßen Ausdruck zu finden. So würden er und seine Mutter sich immer wortlos lieben.
Und sie würde ihrerseits sterben - oder er -, und ihr Leben lang würde es ihnen nie gelingen, ihre innige
Verbundenheit besser zum Ausdruck zu bringen. Auch mit Tarrou war es ihm so ergangen, neben dem er
gelebt hatte und der heute abend tot war, ohne daß ihre Freundschaft Zeit gehabt hätte, richtig zu leben.
Tarrou hatte, wie er sagte, das Spiel verloren. Aber er, Rieux, was hatte er gewonnen? Sein einziger
Gewinn war, daß er die Pest gekannt hatte und ihm die Erinnerung daran blieb, daß er die Freundschaft
gekannt hatte und ihm die Erinnerung daran blieb, daß er die innige Verbundenheit kannte und ihm eines
Tages nur noch die Erinnerung daran bleiben würde. Alles, was der Mensch im Spiel der Pest und des
Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnisse und Erinnerung.
Vielleicht war es das, was Tarrou das Spiel gewinnen nannte!
Wieder fuhr ein Auto vorüber, und Frau Rieux rückte ein wenig auf ihrem Stuhl. Rieux lächelte ihr zu.
Sie sagte, daß sie gar nicht müde sei und gleich darauf: «Du mußt dann zur Erholung dort hinauf in die
Berge.»
«Natürlich, Mutter.»
Ja, er würde sich dort oben ausruhen. Warum nicht? Auch dies würde ein Vorwand für Erinnerungen
sein. Aber wenn das das Spiel gewinnen hieß, wie schwer mußte es dann sein, nur mit dem zu leben, was
man weiß und an das man sich erinnert. Und ohne das, was man erhofft. Gewiß hatte Tarrou so gelebt,
und er war sich bewußt, wie unfruchtbar ein Leben ohne Illusionen ist. Es gab keinen Frieden ohne
Hoffnung, und Tarrou, der den Menschen das Recht verweigerte, irgend jemanden zu verurteilen, und
doch wußte, daß keiner es vermeiden konnte, zu verurteilen, und daß selbst die Opfer manchmal zum
Henker werden, Tarrou hatte in innerer Zerrissenheit und im Widerspruch gelebt, er hatte die Hoffnung
nie gekannt. Ob er wohl deshalb nach Heiligkeit gestrebt und den Frieden im Dienst an den Menschen
gesucht hatte? Rieux wußte es nicht, und es war auch unwichtig. Die einzigen Bilder, die er von Tarrou
bewahren würde, waren das eines Mannes, der das Steuer seines Wagens mit kräftigen Händen ergriff,
um ihn zu führen, und jenes andere des schweren Körpers, der jetzt regungslos ausgestreckt dalag. Ein
warmer Hauch des Lebens und ein Bild des Todes, das war die Erkenntnis.
Wahrscheinlich war dies der Grund dafür, daß Rieux am Vormittag die Nachricht vom Tode seiner Frau
mit Ruhe aufnahm. Er befand sich in seinem Arbeitszimmer. Seine Mutter war herbeigeeilt, hatte ihm ein
Telegramm überreicht und war dann hinausgegangen, um dem Boten ein Trinkgeld zu geben. Als sie
zurückkehrte, hielt ihr Sohn das Telegramm geöffnet in der Hand. Sie schaute ihn an, aber er betrachtete
starr durch das Fenster einen strahlenden Morgen, der sich über dem Hafen erhob.
«Bernard», sagte Frau Rieux.
Der Arzt betrachtete sie mit abwesender Miene.
«Das Telegramm?» fragte sie.
«Ja», gab der Arzt zu. «Vor acht Tagen.»
Frau Rieux wandte den Kopf gegen das Fenster. Der Arzt schwieg. Dann sagte er zu seiner Mutter, sie
solle nicht weinen, er sei darauf gefaßt gewesen, aber es sei dennoch schwer. Nur wußte er bei diesen
Worten, daß sein Leid ohne Überrraschung war. Seit vielen Monaten und seit zwei Tagen war es stets der
gleiche Schmerz, der fortdauerte.
Im Morgengrauen eines schönen Februartages öffneten sich endlich die Tore, begrüßt von der
Bevölkerung, den Zeitungen, dem Radio und den Mitteilungen der Präfektur. Es bleibt also dem Erzähler
nur noch übrig, von den Stunden der Freude zu berichten, welche dieser Öffnung der Tore folgten,
obwohl er selber zu denen gehörte, die nicht die Freiheit besaßen, sich ihr ganz hinzugeben.
Am Tag und am Abend wurden große Festlichkeiten veranstaltet. Zur gleichen Zeit begannen im
Bahnhof Lokomotiven zu rauchen, während Schiffe, die von fernen Meeren herkamen, bereits ihren Bug
auf unseren Hafen richteten und auf ihre Weise anzeigten, daß dieser Tag für alle jene, die unter der
Trennung litten, der Tag der großen Wiedervereinigung war.
Man wird sich jetzt leicht vorstellen können, was aus dem Gefühl der Trennung wurde, das so viele
unserer Mitbürger beseelt hatte. Die Züge, die während des Tages in unserer Stadt einfuhren, waren nicht
weniger überfüllt als die, die ausführen. Jedermann hatte während der zwei Wochen Aufschub seinen
Platz für diesen Tag bestellt und zitterte, der amtliche Beschluß könnte im letzten Augenblick rückgängig
gemacht werden. Manche unter den Reisenden, die sich der Stadt näherten, waren nicht ohne alle Furcht;
denn wenn sie auch im allgemeinen das Schicksal der ihnen Nahestehenden kannten, so wußten sie doch
nichts von dem aller anderen und der Stadt selber, deren Aussehen sie sich beängstigend vorstellten.
Aber das traf nur auf diejenigen zu, die während dieser ganzen Zeit nicht von Leidenschaft verzehrt
worden waren.
Die Leidenschaftlichen waren nämlich ihrer fixen Idee ausgeliefert. Für sie hatte sich nur etwas
verändert: die Zeit, die sie während der Monate ihrer Verbannung hätten vorwärtstreiben wollen, damit
sie sich beeile, die sie immer noch mit aller Kraft beschleunigen wollten, als sie unsere Stadt schon sehen
konnten - diese Zeit hätten sie im Gegenteil zurückhalten und aufheben wollen, sobald der Zug zu
bremsen anfing. Das gleichzeitig verschwommene und stechende Bewußtsein all der Monate ihres
Lebens, die ihrer Liebe verlorengegangen waren, ließ sie undeutlich nach einer Art Ausgleich verlangen,
wonach die Zeit der Freude zweimal langsamer hätte verfließen müssen als die Zeit der Erwartung. Und
alle jene, die sie in einem Zimmer oder auf dem Bahnsteig erwarteten, wie Rambert, waren gleich
ungeduldig und gleich verwirrt; er hatte seine Frau rechtzeitig verständigt, so daß sie seit Wochen alles
hatte vorbereiten können, um dann wirklich anzukommen. Er wartete zitternd darauf, jene Liebe oder
Zärtlichkeit, die die Monate der Pest zur Abstraktion hatten werden lassen, neben den Menschen aus
Fleisch und Blut zu halten, auf den sie sich gestützt hatten.
Er hätte wieder der werden mögen, der zu Beginn der Epidemie in einem einzigen Anlauf aus der Stadt
hatte rennen wollen, um sich der Frau entgegenzuwerfen, die er liebte. Aber er wußte, daß das nicht mehr
möglich war. Er hatte sich verändert; die Pest hatte eine Zerstreutheit in ihm entstehen lassen, die er mit
seiner ganzen Kraft wegzuleugnen versuchte und die doch in ihm fortdauerte wie eine dumpfe Angst. In
gewissem Sinn hatte er das Gefühl, die Pest habe zu jäh aufgehört; er hatte seine Geistesgegenwart noch
nicht wiedergewonnen. Das Glück näherte sich mit großer Geschwindigkeit, das Ereignis war schneller
als die Erwartung. Rambert erkannte, daß ihm alles mit einem Schlag wiedergeschenkt werden würde
und daß die Freude ein brennendes Gefühl ist, das sich nicht auskosten läßt.
Übrigens empfanden alle mehr oder weniger bewußt wie er, und man muß von allen reden. Auf dem
Bahnsteig, wo ihr persönliches Leben wieder anfing, fühlten sie noch ihre Gemeinschaft und tauschten
Blicke und Lächeln. Aber sobald sie den Rauch des Zuges sahen, erlosch ihr Gefühl der Verbannung
unvermittelt unter der Sturzwelle einer verschwommenen und betäubenden Freude. Als der Zug hielt,
nahmen unendlich lange Trennungen, die bei manchen auf diesem selben Bahnsteig begonnen hatten, in
der Sekunde ein Ende, da sich die Arme mit frohlockender Habsucht um einen Körper schlössen, dessen
lebende Form sie vergessen hatten. Rambert hatte nicht Zeit, die Gestalt anzuschauen, die auf ihn
zurannte, als sie sich schon an seine Brust warf. Und indem er sie mit beiden Armen umschlossen hielt
und einen Kopf an sich drückte, von dem er nur die vertrauten Haare sah, ließ er seinen Tränen freien
Lauf und wußte nicht, ob sie von seinem jetzigen Glück herrührten oder von einem allzu lange
verhaltenen Schmerz; er war wenigstens sicher, daß sie ihn daran hinderten, nachzuprüfen, ob das
Gesicht, das an seiner Schulter lag, das war, von dem er so oft geträumt hatte, oder im Gegenteil das
einer Fremden. Später würde er wissen, ob seine Ahnung zutraf. Für den Augenblick wollte er es halten
wie alle ringsum, die zu glauben schienen, die Pest könne kommen und wieder gehen, ohne daß das Herz
der Menschen sich deshalb veränderte.
Eng aneinandergeschmiegt, blind für den Rest der Welt, scheinbar Sieger über die Pest, kehrten dann alle
heim und vergaßen alles Elend und die, die mit dem gleichen Zug gekommen waren, aber niemand
vorgefunden hatten und sich nun darauf vorbereiteten, zu Hause die Bestätigung einer Angst zu erhalten,
die ein langes Schweigen schon in ihrem Herzen hatte entstehen lassen. Für die, die jetzt nur ihr ganz
frisches Leid zur Begleitung hatten und für andere, die sich in diesem Augenblick der Erinnerung an
einen verschwundenen Menschen hingaben, sah es ganz anders aus: für sie hatte das Gefühl der
Trennung seinen Höhepunkt erreicht. Für sie, Mütter, Gatten, Liebesleute, die mit dem Menschen, der
jetzt in einem Massengrab ruhte oder sich in ein Häuflein Asche aufgelöst hatte, alle Freude verloren
hatten, herrschte immer noch die Pest.
Aber wer dachte an diese Einsamen? Am Mittag wurde die Sonne der kalten Winde, die seit dem Morgen
miteinander kämpften, Herr und verströmte stetige Fluten unbeweglichen Lichtes über die Stadt. Der Tag
stand still. Von den Festungen auf den Hügeln krachten ohne Unterlaß Kanonenschüsse in den
unveränderlichen Himmel. Die ganze Stadt stürzte hinaus, um jene bedrängende Minute zu feiern, da die
Zeit des Leidens zu Ende ging und die Zeit des Vergessens noch nicht angebrochen war.
Auf allen Plätzen wurde getanzt. Der Verkehr hatte von einem Tag zum andern beträchtlich
zugenommen, und die zahlreicher gewordenen Autos kamen in den überfüllten Straßen nur mühsam
vorwärts. Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit aller Kraft. Mit ihren
Schwingungen erfüllten sie einen blaugoldenen Himmel. In den Kirchen wurden nämlich Dankgebete
gesprochen. Aber zur gleichen Zeit waren die Vergnügungsorte zum Bersten voll, und in den Cafés
wurde unbekümmert um die Zukunft der letzte Alkohol ausgeschenkt. An den Schanktischen drängte
sich eine gleichermaßen erregte Menschenmenge, darunter viele eng umschlungene Paare, die sich nicht
vor Zuschauern scheuten. Alle schrien oder lachten. Den Vorrat an Leben, den sie während der Monate
angelegt hatten, da ihr Lebens-flämmchen nur noch ganz niedrig brannte, gaben sie an dem einen Tag
aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner
Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken
Brüderschaft. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wahrhaftig verwirklicht hatte, wurde
jetzt wenigstens für ein paar Stunden von der Freude über die Erlösung geschaffen.
Aber dieser gewöhnliche Überschwang drückte nicht alles aus, und diejenigen, die gegen Abend mit
Rambert zusammen die Straßen bevölkerten, versteckten oft hinter einem ruhigen Aussehen ein
empfindsameres Glück. Viele Paare und viele Familien sahen tatsächlich nicht anders aus als friedliche
Spaziergänger. In Wirklichkeit folgten die meisten einem feinen Gefühl und pilgerten an die Stätten, wo
sie gelitten hatten. Den Neuankömmlingen mußten die Auffälligen oder verborgenen Zeichen der Pest,
die Spuren ihrer Geschichte gezeigt werden. In manchen Fällen begnügte man sich damit, den
Fremdenführer zu spielen, den, der viel erlebt hat, den Zeitgenossen der Pest, und man sprach von der
Gefahr, ohne die Angst zu erwähnen. Diese Vergnügen waren harmlos. Aber in anderen Fällen ging es
um aufwühlendere Wege, wo ein Liebender sich der süßen Angst der Erinnerung überlassen und zu
seiner Gefährtin sagen konnte: «An diesem Ort, zu dieser Zeit habe ich dich begehrt, und du warst nicht
da.» Diese Spaziergänger der Leidenschaft konnten sich gegenseitig erkennen: sie bildeten inmitten der
Unruhe, in der sie wandelten, kleine Inseln von Geflüster und Geheimnissen. Sie verkündeten besser als
die Orchester auf den Plätzen die wahre Befreiung. Denn inmitten des Getümmels bekräftigten diese
entrückten, eng umschlungenen und wortkargen Paare mit dem ganzen Jubel und der Ungerechtigkeit des
Glücks, daß die Pest zu Ende und die Zeit des Grauens abgelaufen war. Sie leugneten in aller Ruhe und
wider jeden Augenschein die Tatsache, daß wir je die wahnwitzige Welt gekannt hatten, in der die
Ermordung eines Menschen ebenso alltäglich war wie der Tod der Fliegen. Sie leugneten jene ganz
besondere Verwilderung, jene berechnete Raserei, jene Gefangenschaft, die eine entsetzliche Freiheit
gegenüber allem, was nicht die Gegenwart war, mit sich brachte, jenen Todesgeruch, der alle, die er nicht
tötete, betäubte. Sie leugneten schließlich, daß sie jenes erstarrte Volk gewesen waren, von dem jeden
Tag ein Teil in den Rachen eines Ofens geschmissen wurde und in zähem Qualm aufging, während der
andere Teil, von Ohnmacht und Angst gekettet, wartete, bis die Reihe an ihn komme.
Das jedenfalls sprang Rieux in die Augen, als er am späten Nachmittag auf dem Weg in die Vorstadt
inmitten des Glockengeläutes, des Kanonendonners, der Musik und des ohrenbetäubenden Geschreis
allein dahinschritt. Sein Beruf ging weiter, für die Kranken gab es keinen Urlaub. In das schöne, zarte
Licht, das sich auf die Stadt senkte, mischten sich die alten Gerüche von Braten und Anisschnaps. Um
Rieux herum hoben sich lachende Gesichter zum Himmel. Männer und Frauen mit glühenden Gesichtern
klammerten sich mit der ganzen Unbeherrschtheit und dem Schrei des Verlangens aneinander. Ja, die
Pest war mitsamt dem Grauen zu Ende, und die Arme, die sich umschlangen, sagten wahrlich, daß sie im
tiefsten Sinne des Wortes Verbannung und Trennung gewesen war. Zum erstenmal konnte Rieux dem
vertrauten Ausdruck, den er während Monaten auf den Gesichtern aller Leute gelesen hatte, einen Namen
geben. Er brauchte jetzt nur um sich zu blicken. Am Ende der Pest mit ihrem Elend und ihren
Entbehrungen angelangt, hatten alle diese Menschen schließlich das Kostüm angezogen, das der Rolle,
die sie schon seit langem spielten, entsprach: die Rolle von Verbannten, deren Kleidung nun ebenso wie
ihr Gesicht von der Abwesenheit und der fernen Heimat redete. Vom Augenblick an, da die Pest die Tore
der Stadt geschlossen hatte, lebten sie nur noch in der Trennung; sie waren von jener menschlichen
Wärme geschieden worden, die alles vergessen läßt. An allen Enden der Stadt hatten diese Männer und
diese Frauen mehr oder weniger nach einer Vereinigung gestrebt, die nicht für alle gleicher Art, aber für
alle gleich unmöglich war. Die meisten hatten mit ihrer ganzen Kraft nach einem Abwesenden, der
Wärme eines Körpers, der Zärtlichkeit oder der Gewohnheit geschrien. Manche litten oft unbewußt
darunter, daß sie von der Freundschaft der Menschen ausgeschlossen und außerstande waren, sie auf den
gewöhnlichen Wegen der Freundschaft, mit Briefen, Zügen oder Schiffen, zu erreichen. Andere, die
seltener waren, hatten - wie vielleicht Tarrou - die Vereinigung mit etwas begehrt, das sie nicht nennen
konnten, das ihnen aber als das einzig erstrebenswerte Gut erschien. Und mangels eines anderen Namens
hießen sie es manchmal Frieden.
Rieux ging immer noch. Je weiter er vordrang, desto dichter wurde die Menge um ihn, desto lauter das
Getöse, und es war ihm, als wichen die Vorstädte, in die er gelangen wollte, vor ihm zurück. Allmählich
verschmolz er mit diesem großen, lärmenden Leib, dessen Schrei er immer besser verstand, da es
wenigstens zum Teil auch sein Schrei war. Ja, sie riefen alle miteinander, und im Fleisch so sehr wie im
Geist, an einer schweren Leere, einer unheilbaren Verbannung, einem nie gestillten Durst gelitten. Mitten
in dieser Anhäufung von Toten, dem Bimmeln der Krankenwagen, den Warnungen des sogenannten
Schicksals, dem hartnäckigen Stampfen der Angst und dem schrecklichen Aufruhr ihres Herzens hatte
eine Stimme nicht aufgehört, diese von Entsetzen heimgesuchten Menschen zu wecken und ihnen
zuzuraunen, daß sie ihre wahre Heimat wiederfinden müßten. Für sie alle befand sich die wahre Heimat
jenseits der Mauern dieser erstickten Stadt. Sie war in den duftenden Sträuchern auf den Hügeln, im
Meer, in den freien Ländern und im Gewicht der Liebe. Und zu ihr, zum Glück, wollten sie zurück und
sich voll Ekel von allem anderen abwenden.
Was diese Verbannung und diese Sehnsucht nach Wiedervereinigung für einen Sinn haben mochte,
wußte Rieux nicht. Er ging immer weiter, wurde von allen Seiten gestoßen und angerufen und gelangte
langsam in weniger belebte Straßen. Er dachte, daß es nicht darauf ankommt, ob diese Dinge einen Sinn
haben, sondern nur darauf, welche Antwort der Hoffnung den Menschen erteilt wird. Er wußte jetzt,
welches die Antwort war, und er merkte es noch deutlicher in den ersten, beinahe verlassenen Straßen
der Vorstadt. Diejenigen, die sich an das wenige, was sie waren, gehalten und nur begehrt hatten, in das
Haus ihrer Liebe zurückzukehren, wurden manchmal belohnt. Gewiß fuhren manche unter ihnen fort,
einsam in der Stadt herumzuirren, des Menschen, den sie erwarteten, beraubt. Und glücklich die, die
nicht zweimal getrennt worden waren wie jene anderen, denen es vor der Seuche nicht gelungen war,
ihre Liebe von Anfang an zu erfüllen, und die sich jahrelang blind um jene Übereinstimmung bemüht
hatten, die schließlich feindliche Liebende aneinanderschmiedet. Die hatten sich, wie Rieux selber,
leichtfertig auf die Zeit verlassen: sie waren für immer getrennt. Aber andere, wie Rambert, von dem der
Arzt sich am Morgen mit den Worten verabschiedet hatte: «Nur Mut, jetzt ist der Augenblick, da man
recht behalten muß», hatten ohne Zögern den verloren geglaubten Abwesenden wiedergefunden. Eine
Zeitlang wenigstens würden sie glücklich sein. Wenn es etwas gibt, das man immer ersehnen und
manchmal auch erhalten kann, so ist es die liebevolle Verbundenheit mit einem Menschen. Das wußten
sie jetzt.
Alle die jedoch, die sich über den Menschen hinaus an etwas gewandt hatten, das sie sich nicht einmal
vorstellen konnten, hatten keine Antwort erhalten. Es schien, als habe Tarrou jenen spröden,
widerspruchsvollen Frieden erlangt, von dem er sprach; aber er hatte ihn nur im Tod gefunden und zu
einer Zeit, da er ihm nichts nützen konnte. Rieux sah dagegen andere, die sich im schwindenden Licht
auf der Schwelle der Häuser mit aller Kraft umarmten und sich hingerissen anblickten; sie hatten
erhalten, was sie wollten, weil sie das einzige verlangt hatten, was von ihnen abhing. Und als Rieux in
Grands und Cottards Straße einbog, dachte er, es sei gerecht, daß die Freude wenigstens von Zeit zu Zeit
die belohne, die sich mit dem Menschen begnügen und mit seiner armseligen, gewaltigen Liebe.
Diese Chronik geht ihrem Ende entgegen. Es ist Zeit, daß Dr. Bernard Rieux sich als ihr Verfasser
bekennt. Aber bevor er die letzten Ereignisse berichtet, möchte er zumindest sein Eingreifen
rechtfertigen und erklären, daß ihm daran gelegen war, die Rolle des sachlichen Zeugen zu spielen.
Während der ganzen Dauer der Pest hat sein Beruf es ihm ermöglicht, die Mehrzahl seiner Mitbürger zu
besuchen und ihre Einstellung kennenzulernen. Er war also in einer günstigen Lage, um zu berichten,
was er gesehen und gehört hatte. Aber er wollte es mit der wünschenswerten Zurückhaltung tun.
Allgemein gesprochen hat er sich bemüht, nicht mehr Dinge zu erzählen, als er sehen konnte, seinen
Gefährten in der Pest nicht Gedanken unterzuschieben, die sie schließlich nicht unbedingt haben mußten,
und nur die Texte zu benutzen, die der Zufall oder das Unglück ihm in die Hände spielten. Da er dazu
berufen war, bei einer Art Verbrechen Zeugnis abzulegen, hat er eine gewisse Zurückhaltung bewahrt,
wie es sich für einen Zeugen, der guten Willens ist, gehört. Aber gleichzeitig hat er, dem Gebot eines
aufrichtigen Herzens folgend, entschieden die Partei der Opfer ergriffen und sich mit den Menschen,
seinen Mitbürgern, in den einzigen, allen gemeinsamen, sicheren Wahrheiten vereinigen wollen, als da
sind die Liebe, das Leid und die Verbannung. Deshalb gibt es nicht eine Angst seiner Mitbürger, die er
nicht geteilt hätte, keine Lage, die nicht auch die seine gewesen wäre.
Um ein getreuer Zeuge zu sein, mußte er hauptsächlich von den Taten, den Dokumenten und den
Gerüchten sprechen. Aber was er persönlich zu sagen hatte, sein Warten, seine Prüfungen, mußte er
verschweigen. Wenn er sich seines eigenen Erlebens bedient hat, so nur, um seine Mitbürger zu
verstehen oder verständlich zu machen, um dem, was sie meistens nur verschwommen empfanden, eine
möglichst deutliche Form zu geben. Offen gestanden hat ihn diese verstandesmäßige Anstrengung nicht
viel Mühe gekostet. Wenn er versucht war, seine Geständnisse unmittelbar unter die tausend Stimmen
der Pestkranken zu mischen, hielt ihn der Gedanke zurück, daß er kein einziges Leid trug, das nicht auch
die anderen trugen, und daß dies in einer Welt, wo der Schmerz so oft einsam ist, ein Vorteil war. Er
mußte wirklich für alle sprechen.
Aber es gibt zumindest einen unter unseren Mitbürgern, für den Dr. Rieux nicht sprechen konnte. Es
handelt sich um den, von dem Tarrou eines Tages zu Rieux gesagt hatte: «Sein einziges wahres
Verbrechen besteht darin, daß er in seinem Herzen etwas gebilligt hat, das Kinder und Männer sterben
ließ. Alles andere begreife ich, aber das muß ich ihm verzeihen.» Es ist richtig, wenn diese Chronik ihr
Ende mit dem Menschen findet, der ein unwissendes, das heißt einsames Herz besaß.
Als Dr. Rieux nämlich aus den breiten, lärmenden, festlichen Straßen hinausgelangt war und eben in
Grands und Cottards Straße einbiegen wollte, wurde er von einer Polizeisperre aufgehalten. Darauf war
er nicht gefaßt. Das ferne Getöse des Festes ließ dieses Viertel still erscheinen, und er stellte es sich
ebenso verlassen wie stumm vor. Er zeigte seine Karte.
«Unmöglich, Herr Doktor», sagte der Polizist. «Ein Verrückter schießt auf die Menge. Aber bleiben Sie
hier, man wird Sie vielleicht brauchen können.»
In diesem Augenblick sah Rieux Grand auf sich zukommen. Grand wußte auch nichts. Man ließ ihn nicht
durch, aber er hatte erfahren, daß aus seinem Haus geschossen wurde. Von weitem sah man tatsächlich
die von den letzten Strahlen einer wärmelosen Sonne vergoldete Vorderseite des Gebäudes. Darum
herum hob sich ein großer, leerer Platz ab, der bis zum gegenüberliegenden Trottoir reichte. Auf der
Straßenmitte gewahrte man deutlich einen Hut und ein Stück schmutzigen Stoffes. Rieux und Grand
konnten ganz in der Ferne am anderen Straßenende eine gleiche Reihe Polizisten sehen wie die, die sie
hier am Vorwärtsgehen hinderte, und dahinter einige Bewohner des Viertels, die hin und her eilten. Bei
näherem Zusehen bemerkten sie auch Polizisten, die sich mit dem Revolver in der Hand in die dem Haus
gegenüberliegenden Eingänge drückten. Alle Fensterladen waren geschlossen. Im zweiten Stock
indessen schien einer der Laden halb ausgehängt. Auf der Straße herrschte vollständiges Schweigen. Es
waren nur Musikfetzen zu hören, die aus dem Stadtinnern herüberdrangen.
Plötzlich knallten aus einem der Gebäude gegenüber zwei Revolverschüsse. Und von dem aus den Fugen
gegangenen Fensterladen sprangen kleine Stücke ab. Dann herrschte wieder Stille. Von weitem und nach
dem Getümmel des Tages erschien Rieux das Ganze ein wenig unwirklich. «Das ist ja Cottards Fenster»,
sagte Grand plötzlich sehr aufgeregt. «Aber Cottard ist doch verschwunden!»
«Warum wird geschossen?» fragte Rieux den Polizisten.
«Man hält ihn ein Weilchen hin. Wir warten auf einen Wagen mit dem nötigen Material, weil er auf die
Leute schießt, die zur Haustür hineinzugehen versuchen. Ein Polizist ist getroffen worden.»
«Warum hat er geschossen?»
«Das weiß man nicht. Die Leute vergnügten sich auf der Straße. Beim ersten Schuß haben sie nicht
begriffen. Beim zweiten hat es Schreie gegeben, einer ist verwundet worden, und alle sind davongerannt.
Sicher ein Verrückter!»
Die Stille war wieder vollkommen, und die Minuten schienen zu schleichen. Plötzlich tauchte am
anderen Straßenende ein Hund auf, der erste, den Rieux seit langer Zeit wieder erblickte, ein schmutziger
Jagdhund, der wohl von seinem Herrn bis dahin verborgen worden war und nun die Mauern entlang
trottete. Bei der Tür angelangt, zögerte er, setzte sich auf die Hinterbeine und verrenkte sich, um seine
Flöhe zu jagen. Mehrere Polizisten pfiffen nach ihm. Er hob den Kopf und entschloß sich dann, langsam
die Straße zu überqueren, um an dem Hut zu schnüffeln. Im selben Augenblick knallte aus dem zweiten
Stock ein Schuß: der Hund überkugelte sich, bewegte heftig die Pfoten, kam endlich auf die Seite zu
liegen und wurde von langen Zuckungen geschüttelt. Als Antwort zerfetzten fünf oder sechs Schüsse aus
den gegenüberliegenden Türen den Fensterladen noch mehr. Dann wieder Stille. Die Sonne stand ein
wenig tiefer, und Cottards Fenster geriet allmählich in den Schatten. Auf der Straße hinter dem Arzt
knirschten leise die Bremsen.
«Da sind sie», sagte der Polizist.
In ihrem Rücken stiegen Polizisten aus, die Seile, eine Leiter und zwei längliche, in Öltuch gehüllte
Pakete trugen. Sie gingen die Straße entlang, die um den Gebäudekomplex herumführte, der Grands
Haus gegenüberlag. Einen Augenblick später entstand in den Eingängen dieser Häuser eine gewisse
Aufregung, die man mehr erriet als sah. Dann warteten alle. Der Hund bewegte sich nicht mehr, aber er
badete jetzt in einer dunklen Lache.
Plötzlich begann aus den Fenstern der mit Polizisten besetzten Häuser ein Maschinengewehr zu knattern.
Der Laden, auf den man immer noch zielte, entblätterte sich buchstäblich unter dem Kugelregen und ließ
eine schwarze Fläche offen, in der Rieux und Grand von ihrem Platz aus nichts erkennen konnten. Als
das Feuer aufhörte, setzte im Nebenhaus ein zweites Maschinengewehr unter einem anderen Winkel ein.
Die Kugeln schlugen zweifellos in das Fensterviereck, da Backsteinsplitter von der Umrahmung
absprangen. In der gleichen Sekunde rannten drei Polizisten über die Fahrbahn und verschwanden im
Hausflur. Fast gleichzeitig stürzten drei andere hinein, und das Feuer des Maschinengewehrs hörte auf.
Man wartete weiter. Im Haus ertönte zweimal fernes Knallen. Dann schwoll der Lärm an, und aus dem
Haus sah man einen kleinen Mann in Hemdsärmeln auftauchen, der mehr getragen als geschleift wurde
und unablässig schrie. Wie durch ein Wunder öffneten sich die geschlossenen Fensterladen in der Straße,
und die Fenster wurden von Gaffern besetzt, während eine Menge Leute aus den Häusern trat und sich
hinter die Sperren drückte. Einen Augenblick lang sah man den kleinen Mann mitten auf der Straße; er
hatte die Füße endlich auf dem Boden, und Polizisten hielten seine Arme nach hinten. Er schrie. Ein
Polizist trat auf ihn zu und versetzte ihm gemächlich mit einer gewissen Sorgfalt und der ganzen Kraft
seiner Fäuste zwei Schläge.
«Es ist Cottard», stammelte Grand. «Er ist verrückt geworden.»
Cottard war umgefallen. Man sah noch, wie der Polizist dem am Boden liegenden Bündel einen
wuchtigen Fußtritt gab. Dann geriet eine wirre Gruppe in Bewegung und kam auf den Arzt und seinen
alten Freund zu.
«Weitergehen!» sagte der Polizist.
Rieux wandte die Augen ab, als die Gruppe an ihnen vorüberging.
Grand und der Arzt entfernten sich in der erlöschenden Abenddämmerung. Als sei das Viertel durch
dieses Ereignis aus seiner schläfrigen Betäubung aufgerüttelt worden, füllten sich die abgelegenen
Straßen wieder mit dem Lärm einer freudetrunkenen Menge. Vor seiner Haustür verabschiedete sich
Grand von Dr. Rieux. Er wollte arbeiten. Aber vor dem Hinaufgehen sagte er ihm noch, er habe Jeanne
geschrieben und sei jetzt froh. Und zudem hatte er seinen Satz wieder angefangen: «Ich habe alle
Adjektive weggelassen», sagte er.
Und mit einem pfiffigen Lächeln hob er den Hut zu einem feierlichen Gruß. Aber Rieux dachte an
Cottard, und das dumpfe Geräusch der Fäuste, die sein Gesicht zerschlugen, verfolgte ihn, während er
sich zum Haus des alten Asthmatikers auf den Weg machte. Vielleicht war es noch bitterer, an einen
schuldigen Menschen zu denken als an einen toten.
Als Rieux zu seinem alten Patienten kam, hatte die Nacht den Himmel ganz verschlungen. Vom Zimmer
aus war das ferne Brausen der Freiheit zu hören, und der Alte fuhr mit gewohntem Gleichmut fort, seine
Erbsen umzufüllen.
«Sie haben recht, daß sie sich vergnügen», sagte er. «Unser Herrgott hat vielerlei Kostgänger. Und was
macht Ihr Kollege, Herr Doktor?»
Sie hörten Explosionen, doch sie waren friedlich: Kinder ließen ihre Frösche krachen.
«Er ist gestorben», sagte der Arzt, während er die rasselnde Brust abhorchte.
«Ach!» sagte der Alte ein wenig betreten.
«An der Pest», fügte Rieux hinzu.
«Ja», gab der Alte nach einer Weile zu, «die Besten gehen. So ist das Leben. Aber er war ein Mensch,
der wußte, was er wollte.»
«Weshalb sagen Sie das ? » fragte der Arzt und versorgte sein Stethoskop.
«Nur so. Seine Worte waren nie leeres Geschwätz. Er gefiel mir einfach. Aber es ist schon so. Die
anderen sagen, , und wenig fehlt, und sie würden einen Orden
verlangen. Aber was heißt das schon, die Pest? Es ist das Leben, sonst nichts.»
«Machen Sie regelmäßig Ihre Dämpfe.»
«Oh! Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich halte es noch lange aus und werde sie alle sterben sehen.
Ich verstehe es, zu leben, ich.»
In der Ferne antwortete ihm ein Freudengeheul. Der Arzt blieb mitten im Zimmer stehen.
«Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich auf die Terrasse ginge?»
«Aber nein! Sie möchten sie von oben sehen, was? Wie Sie wollen. Aber sie sind doch immer die
gleichen.»
Rieux ging zur Treppe.
«Sagen Sie, Herr Doktor, stimmt es, daß sie den Toten der Pest ein Denkmal errichten wollen?»
«Die Zeitungen sagen es. Eine Säule oder eine Gedenktafel.»
«Das dachte ich mir. Und es wird Reden geben.»
Der Alte lachte ein gurgelndes Lachen.
«Ich höre sie jetzt schon: und dann werden sie zum Essen gehen.»
Rieux stieg bereits die Treppe hinauf. Der weite, kalte Himmel schimmerte über den Häusern, und hinter
den Hügeln wurden die Sterne hart wie Kieselsteine. Diese Nacht unterschied sich nicht wesentlich von
jener andern, da Tarrou und er auf diese Terrasse gekommen waren, um die Pest zu vergessen. Aber
heute rauschte das Meer lauter gegen die Klippen wie damals. Die Luft war unbeweglich und leicht, frei
von dem Salzgeruch, den der laue Herbstwind mit sich trug. Doch das Brausen der Stadt brandete immer
noch wellengleich gegen den Fuß der Terrassen. Aber dies war die Nacht der Befreiung, nicht der
Auflehnung. In der Ferne ließ ein rötlich-schwarzer Widerschein die Boulevards und die beleuchteten
Plätze erraten. In der nun freien Nacht fiel jede Hemmung des Verlangens, und sein Grollen war es, das
bis zu Rieux drang.
Aus dem dunklen Hafen stiegen die ersten Raketen der offiziellen Lustbarkeiten empor. Die Stadt
begrüßte sie mit einem langen, gedämpften Ausruf. Cottard, Tarrou, seine Frau, alle jene, die Rieux
geliebt und verloren hatte, waren vergessen, ob tot oder schuldig. Der Alte hatte recht, die Menschen
blieben sich immer gleich. Aber das war ihre Kraft und ihre Unschuld, und hierin fühlte Rieux sich ihnen
über allen Schmerz hinweg verwandt.
Damals, inmitten des Jubels, der lange am Fuß der Terrassen widerhallte und desto lauter und
anhaltender wurde, je zahlreicher die bunten Sträuße am Himmel aufleuchteten, beschloß Dr. Rieux, den
Bericht zu verfassen, der hier zu Ende geht. Denn er wollte nicht zu denen gehören, die schweigen, er
wollte vielmehr für diese Pestkranken Zeugnis ablegen und wenigstens ein Zeichen zur Erinnerung an
die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit und Gewalt hinterlassen; er wollte schlicht schildern, was man in
den Heimsuchungen lernen kann, nämlich daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten
gibt.
Und doch wußte er, daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das
Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen
vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine
unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein
können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein.
Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich
daran, daß diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wußte, was dieser frohen Menge unbekannt
war und was in den Büchern zu lesen steht: daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet,
sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den
Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß
vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre
Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.